Die Bundeswehr hat einen neuen Wehrbeauftragten – und weiter das Problem, nicht annähernd so viele Soldaten als Nachwuchs zu rekrutieren, wie das Verteidigungsministerium plant. So wird das wohl nichts mit der „Kriegstüchtigkeit“
Jeder Vierte, der neu zur Bundeswehr kommt, quittiert nach spätestens einem halben Jahr schon wieder den Dienst
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Dieser Tage liegen sie wieder in den Briefkästen von Familien in Deutschland: Postkarten in Flecktarn, Werbung von der Bundeswehr, persönlich adressiert an alle, die im nächsten Jahr volljährig werden, also mitunter an 16-jährige Mädchen und Jungen. Auf olivgrünem Muster und über dem Logo der Bundeswehr prangt der jeweilige Nachname der Adressierten, wie das Namensabzeichen auf einer Militäruniform. Die Rückseite wirbt für „über 50 Ausbildungsberufe und Studiengänge – sowie mehr als 1.000 Jobs in Uniform oder in zivil“, für „VIP-Plätze“, „spannende Backstage-Touren“ und „kostenfreie Bahnfahrkarte“ am Tag der Bundeswehr Ende Juni. Von Personalwerbung in solchem Au
Ausmaß kann das unter Auszubildenden- und Fachkräftemangel leidende Handwerk nur träumen.Unter diesem Mangel leidet auch die Bundeswehr. 181.174 aktive Soldatinnen und Soldaten zählte sie Ende 2024, das waren 340 weniger als ein Jahr zuvor. Und das, obwohl nicht erst seit gestern als erklärtes Ziel gilt, die Personalstärke bis zum Jahr 2031 auf 203.000 Soldatinnen und Soldaten zu erhöhen, obwohl auch die Bundeswehr trotz immer älter wird und es gilt, allein 20.000 jedes Jahr aus dem aktiven Dienst Ausscheidende zu kompensieren.Wehrbeauftragte: Auf Eva Högl folgt Henning OtteBeim Personalaufwuchs soll vom kommenden Jahr an der „Neue Wehrdienst“ helfen, hat Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) jüngst bei der Vorstellung seines Regierungsprogramms im Bundestag bekräftigt. Demnach müssen junge Männer bei Vollendung ihres 18. Lebensjahres einen Fragebogen zu Wehrbereitschaft und körperlicher Fitness ausfüllen. Für junge Frauen ist die Antwort freiwillig. Das ist eine Stufe über der an Hunderttausende Jugendliche verschickten Werbe-Postkarte in Flecktarn.Doch Pistorius und die neue rot-schwarze Bundesregierung ahnen schon, dass der „Neue Wehrdienst“ nicht reichen wird, um das Ziel von 203.000 Soldatinnen und Soldaten bis 2031 zu erreichen. In dem Fall müsse man über weitere Schritte nachdenken, so Pistorius, und jeder weiß, welche Drohkulisse damit gemeint ist: die Rückkehr der Wehrpflicht.Als Drohkulisse darf man das getrost bezeichnen, denn auch drei Jahre nach Verabschiedung des Sondervermögens zur Aufrüstung und anderthalb Jahre nach dem Pistorius-Appell zur „Kriegstüchtigkeit“ samt Ausweitung des Zugangs der Bundeswehr etwa zu Schulen lässt die Wehrbereitschaft der Deutschen zu wünschen übrig. Allein von denen, die sich zu einem Dienst bei der Bundeswehr entschließen, verlässt jede oder jeder Vierte sie spätestens nach einem halben Jahr wieder. So steht es im letzten Jahresbericht der nun abgelösten Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages Eva Högl (SPD), und weiter: „Das Verteidigungsministerium hebt hervor, dass eine noch so erfolgreiche Personalgewinnung eine derart hohe Verlustquote nicht ausgleichen kann. Eine deutliche Reduzierung der Abbruchquoten ist aus Sicht des Ministeriums jedoch nicht absehbar. Ein Personalaufwuchs ist so nicht zu verwirklichen.“Es erstaunt angesichts dessen, dass Högl in ihrem Jahresbericht zu folgendem allgemeinem Urteil über Bundeswehr und Gesellschaft kommt: „Die Truppe steht gegenwärtig so fest und so sichtbar in der Mitte unserer Gesellschaft wie seit Jahrzehnten nicht. Aus dem ,freundlichen Desinteresse‘ von einst ist eine ,interessierte Freundlichkeit‘ geworden – und eine starke Verbundenheit und Unterstützung.“Das gestreute Gerücht von Saskia Esken als WehrbeauftragterAn dieser Behauptung lässt allein schon zweifeln, wie mit dem Amt der Wehrbeauftragten zuletzt umgegangen wurde, immerhin gilt es als das der obersten „Anwältin“ der Soldatinnen und Soldaten. Dieses Amt musste in der gegen Högls Parteifreundin und Noch-SPD-Chefin Saskia Esken gerichteten Debatte als Posten herhalten, auf den unliebsam Gewordene abgeschoben werden können: Um Esken, die nun am Ende Vorsitzende des Ausschusses für Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Bundestag wird, von einem Ministerinnenamt fernzuhalten, wurde anonym und salopp verbreitet, sie könne ja Wehrbeauftragte werden.Tatsächlicher neuer Wehrbeauftragter wird nun der Reserveoffizier, Ex-Vizepräsident des Förderkreises Deutsches Heer und CDU-Bundestagsabgeordnete Henning Otte. Der hat sich schon als Befürworter einer Wehrpflicht zu erkennen gegeben und wird sich als solcher mit der Schizophrenie konfrontiert sehen, wie sie etwa Bündnis 90/Die Grünen pflegen. Deren Abgeordnete Sara Nanni, eine besonders entschiedene Verfechterin der Ausweitung von Waffenlieferungen an die Ukraine und Befürworterin deutscher Aufrüstung, wies die Forderung nach einer Wehrpflicht jüngst wieder entschieden zurück. Denn sie stelle einen „erheblichen Eingriff in die Biografie junger Menschen“ dar und gefährde so „den familiären Frieden“.Unbedingt Wehrpflicht – aber bitte nicht die eigenen Söhne zu Soldaten machen?Von diesem Frieden der anderen Art handelte zuletzt auch der Text einer Zeit-Autorin mit dem trefflichen Titel „Mein Goldjunge soll nicht für dieses Land sterben“. Sie beschrieb darin die Zerrissenheit eines linksgrünen Bildungsbürgermilieus, von Eltern Mitte dreißig bis Ende vierzig, für das die Autorin stellvertretend einen Vater zitierte: „Ja, sagt er, angesichts der Bedrohung aus dem Osten müsse Europa nun mit Stärke reagieren, aufrüsten. Aber, fügt er mit bitterer Selbstironie hinzu, seine drei Söhne sollen damit doch bitte niemals je etwas zu tun haben müssen!“Daraus spricht die gleiche Schizophrenie und Zerrissenheit, die darin besteht, dass Europa Hunderttausenden ukrainischen Männern Schutz davor gibt, als Soldat für die Front im Krieg mit Russland rekrutiert zu werden, zugleich aber weiter den Kurs verfolgt, die Ukraine diesen Krieg bis zum Äußersten weiterzukämpfen.Zu diesem Äußersten gehört die Rekrutierung Minderjähriger. Selbst bei der Bundeswehr sind schon heute zehn Prozent aller, die pro Jahr dort einen Dienst antreten, nur 17 Jahre jung. Doch auch von ihnen widerruft fast ein Fünftel seine Verpflichtungserklärung schnell wieder.Es ist absehbar, was auf die anhaltend verbreitete Renitenz, in der Praxis kriegstüchtig zu werden und sich für einen Dienst an der Waffe langfristig zu verpflichten, folgen wird: Nicht nur der Versuch einer Reaktivierung der Wehrpflicht, sondern auch eine weitere Verschärfung des Tons in der Debatte, der zum Kriegsdienst mobilisieren soll und dabei stets mit dem Echo der Alternativlosigkeit angeschlagen wird. Wer soll sonst die Panzer und Drohnen bedienen, für die Union, SPD und Bündnis 90/Die Grünen die Schuldenbremse für Verteidigungsausgaben per Grundgesetzänderung abgeschafft haben?Beispiel BSW in Thüringen: Friedensbildung, Friedensforschung, BürgerräteDabei könnte ein derartige Renitenz, wie es sich trotz aller bisherigen Appelle in der Widerwilligkeit oder mindestens einem anhaltenden „Desinteresse“ gegenüber der Bundeswehr äußert, aber übrigens auch in Stimmzuwächsen für Die Linke, das BSW und die AfD (wie widersinnig das in Bezug auf letztere auch scheinen mag) äußert, doch Anlass sein zum Nachdenken nicht über „weitere“, sondern alternative Schritte.Das gilt für den Russisch-Ukrainischen Krieg wie für die „Heimatfront“: Wenn eine Gesellschaft nicht bereit ist, die für Kriegstüchtigkeit nötigen Opfer bis hin zum eigenen Leben zu erbringen, was bleibt dann anderes als die Intensivierung der Mittel, die der Herstellung und Sicherung von Frieden dienen? Auf niedrigschwelliger Ebene kann dies etwa bedeuten, nicht nur in Flecktarn-Postkarten zu investieren, sondern in schulische und außerschulische Friedensbildung. So sieht es etwa der Koalitionsvertrag der Brombeer-Koalition in Thüringen vor. Das dort dafür verantwortliche BSW will außerdem die Friedensforschung an Hochschulen stärken und Bürgerräte einrichten, die eine gesellschaftliche Debatte über Krieg und Frieden führen.Helfen kann dies zumindest perspektivisch auf höchster Ebene, durch die Stärkung des Denkens in Sphären der Diplomatie statt nur in denen des Militärischen. Ein in diesen Zeiten fast utopisch anmutender Gedanke. Doch er ist nicht viel utopischer als das Ziel, mehr als 200.000 Menschen als Soldatinnen und Soldaten für die Bundeswehr zu gewinnen.