Seit einem Jahr engagieren sich Schulen und Eltern, die Stadt St. Albans frei von Smartphones für Jugendliche unter 14 Jahren zu machen. Wie erfolgreich war die Kampagne für eine „Smartphone-freie Kindheit“? Was hat sich seitdem verändert?
Die englische Stadt St. Albans versucht für Kinder bis 14 Jahren den Zugang zum Smartphone einzuschränken. Mit Erfolg?
Illustration: der Freitag
Um 15.12 Uhr an einem sonnigen Frühlingsnachmittag in (der britischen Kleinstadt) St. Albans greift Yasser Afghen nach dem iPhone in seiner Hosentasche. Noch drei Minuten, bis sein Sohn, der die erste Klasse der Cunningham-Hill-Grundschule besucht, Schulschluss hat. Der wartende Vater will die Zeit nutzen, um noch schnell durch seine E-Mails zu scrollen. Aber gerade als er sich sein Handy vor die Nase hält, kommt Schulleiter Matthew Tavender über den Schulhof auf ihn zu. Afghen lächelt entschuldigend, steckt sein Handy weg und verbringt den Rest der Wartezeit damit, dem Gesang der Vögel in den Bäumen hinter dem Schulhof zu lauschen.
Die Cunningham-Hill-Grundschule, ein einstöckiger Block aus den 1960er Jahren mit 14 Klassenzimmern, der an ein Sportfeld gre
Übersetzung von Carola Torti
rtfeld grenzt, wirkt nicht gerade wie ein Ort, an dem eine Revolution angezettelt wird. Doch vor einem Jahr begannen Tavender und seine Schulleiter-Kollegin Justine Elbourne-Cload, sich mit den Direktoren anderer Grundschulen in der Stadt abzustimmen. Dann schickten sie einen gemeinsamen Brief an Eltern und Erziehungsberechtigte in ganz St Albans, in dem es hieß: Der hohe Suchtfaktor von Smartphones wirkt sich nachhaltig auf die Gehirne von Kindern aus. Die Geräte rauben den Kindern ihre Kindheit. Könnten die Eltern ihren Kindern bitte keine Smartphones geben, solange sie noch nicht 14 Jahre alt sind?Einer der Väter, die den Brief erhielten, war Matt Adams, Gründer und Chefredakteur des Wochenmagazins St Albans Times. Er schrieb einen Artikel über die Initiative. Schnell erhielt die Geschichte landesweit Aufmerksamkeit. „St Albans will die erste Handy-freie Stadt für Unter-14-Jährige werden“, titelte die britische Tageszeitung The Times. Und dann sogar international: Leute in Singapur, Australien und Südafrika hörten von dem ehrgeizigen Versuch von Eltern und Lehrern in einer kleinen Vorstadt 35 Kilometer nördlich von London, sich gegen den Einfluss globaler Technologieunternehmen zu wehren. Ein Jahr später ist klar, dass St Albans noch weit davon entfernt ist, eine Handy-freie Stadt für unter 14-Jährige zu sein. Und doch hat sich etwas Kleines, aber potenziell Bedeutendes verändert.Als Tavender im Dezember 2023 eine Umfrage unter seinen Sechstklässlern im Alter von zehn bis elf Jahren machte, besaßen 45 von 60 Schüler:innen bereits Smartphones, also Dreiviertel der Kinder. Ein Jahr später ist die Zahl auf sieben Kinder gesunken und damit auf 12 Prozent. Ein ähnlich starker Rückgang wurde von Schulleitungen in anderen Schulen in der Stadt festgestellt. Tavenders Ziel ist es, dass sich dieser Trend fortsetzt. Er hofft sogar, dass die Smartphone-Widerstandsbewegung seine Grundschüler in die weiterführenden Schulen begleitet, auf dass mit der Zeit der Anblick eines Kindes mit einem Smartphone in St Albans eine ähnliche Schockreaktion auslöst wie ein Kind mit einer Zigarette.Smartphones machen nicht nur krank, sondern stören auch die Entwicklung von KindernAls im vergangenen Jahr Jonathan Haidts Buch The Anxious Generation: How the Great Rewiring of Childhood is Causing an Epidemic of Mental Illness (deutscher Titel: Generation Angst) veröffentlicht wurde, war Tavender sofort dafür empfänglich. Der US-amerikanische Gesellschaftspsychologe schreibt darin, dass Depressionen und Angstzustände bei Jugendlichen in den USA zwischen 2010 und 2019 um mehr als 50 Prozent zugenommen haben. Gleichzeitig stieg die Selbstmordrate bei Mädchen im Alter von 10 bis 14 Jahren um 131 Prozent. Haidt ist überzeugt: Die „neue, Handy-basierte Kindheit, die vor rund zwölf Jahren ihren Anfang nahm, macht junge Menschen krank und blockiert ihre Entwicklung zu einem erfolgreichen Leben im Erwachsenenalter“.Schon vorher war Tavender von den sich rasch verändernden Problemen beunruhigt, mit denen er und seine Kollegen konfrontiert wurden. Am schlimmsten sei es, mit Strafverfolgungsbehörden zu tun zu haben. Vor fünfzehn Jahren, als er an der Schule zu unterrichten begann, wäre es für einen Lehrer undenkbar gewesen, mit der Polizei und den Familien darüber sprechen zu müssen, dass Kinder ein Nacktbild weitergegeben hatten.Aus Rücksicht auf die betroffenen Kinder äußert er sich nur vage zu dem Vorfall, der der Schule das größte Kopfzerbrechen bereitete. Aus Scherz sei ein Foto gemacht und schnell an sehr viele Personen weitergegeben worden. Die Schule verbrachte Stunden damit, zahlreiche Eltern anzurufen. „Es hatte nichts Sexuelles an sich … es waren nur Jungs, die Quatsch machen. Da war keine Bosheit im Spiel. Aber das Bild wurde in St Albans sehr weit verbreitet. Einmal geschickt, ist es überall. Wir mussten zu den Eltern sagen: „Bitte checken Sie das Handy ihres Kindes – Sie müssen dieses Bild löschen“, erzählt er. „Es war schrecklich für die Familien.“In informellen Gesprächen mit anderen Grundschuldirektoren in der ganzen Stadt erfuhr er, dass seine Kollegen mit ähnlichen Problemen konfrontiert waren. „Jeder hat schon etwas erlebt, entweder mit der Polizei oder mit anderen Behörden. Lehrer an Vorschulen haben mit Kindern zu tun, die bereits im Alter von fünf und sechs Jahren ungeeignete, potenziell verstörende Inhalte sehen“, berichtet er.Der Schuldirektor hatte auch generell das Gefühl, dass sich das Verhalten der Kinder an der Schule veränderte, auch schon das der Jüngeren. Ihm fiel auf, dass sich mehr Kinder Gedanken über ihr Körperbild oder die Überwachung ihrer Schritte machen und über Kalorienzähl-Apps sprechen. Auch beobachteten die Lehrer, dass mehr Kinder die Schule meiden. „Noch vor ein paar Jahren hatten wir das überhaupt nicht; jetzt ist es auch keine sehr große Zahl, aber wir haben sieben oder acht Kinder, die wirklich Probleme haben, in der Schule zu sein.“ Tavender hält das für eine kombinierte Folge aus der Corona-Pandemie und einer zunehmend auf dem Bildschirm beruhenden Kindheit.„Die Eliten im Silicon Valley wissen etwas, das wir nicht wissen“Beunruhigt sei er auch darüber, dass sich viele Kinder schlechter konzentrieren können. „Es ist das TikTok-Gehirn.“ Etwa müsse die Vorbereitung auf den landesweiten Vergleichstest Sats in kürzere Teile aufgeteilt werden, damit die Kinder in der Lage sind, sie zu schaffen. Auch Haidt schreibt über eine geringe Aufmerksamkeitsspanne und warnt davor, wie viele Möglichkeiten durch die Zeit verloren gehen, die damit vergeudet wird, auf die Flut von Inhalten von Freunden und Unbekannten im Internet zu reagieren oder um der Likes willen ständig irgendetwas zu posten. Kinder seien daher auch weniger in der Lage, Gesichtsausdrücke richtig zu deuten, sagt er, und stärker abhängig von der Einfachheit von Gefühlen, die durch Emojis ausgedrückt werden. Die Empörungs-Kreisläufe der sozialen Medien führen dazu, dass Kinder schnell eine Verteidigungshaltung einnehmen. Außerdem mache das Online-Leben sie anfälliger für öffentliche Beschämung.Im Unterricht beobachten Lehrer eine weitere Veränderung: „Wir hören viel öfter ,Nein’. Wenn Kinder ein Online-Game spielen, können sie es jederzeit ausschalten und nochmal neu beginnen, wenn sie nicht gewinnen. Wenn sie etwas auf YouTube gucken, das ihnen nicht gefällt, suchen sie sich etwas Anderes. Sie sind es gewohnt, sofort Feedback zu erhalten, das in der Regel positiv ausfällt, und wenn sie es nicht erhalten, können sie einfach wischen und weitergehen. Wir beobachten, dass die Kinder weniger gut darin sind, Dinge zu tun, die sie nicht machen wollen“, zählt er auf. Bei einem Elternabend, an dem ich dabei war, erzählte er den Eltern, dass Führungskräfte im Tech-Hub Silicon Valley ihren Kindern keinen Zugang zu den sozialen Medien erlauben: „Die wissen etwas, das wir nicht wissen“, sagt er.Im vergangenen Februar hörte er ein Radio-Interview mit einem Grundschuldirektor in Dorset über eine Kampagne, die Eltern ermutigt, ihren Kindern Handys ohne Internetzugang zu geben. Telefonisch fragte er ihn um Rat und erhielt den Kontakt einer neuen Elterninitiative in Suffolk, der Smartphone-Free Childhood-Bewegung, die sich für ein Verbot für den Zugang zu sozialen Medien für Kinder unter 16 und ein Verbot von Smartphones für Kinder unter 14 einsetzt.Im folgenden Mai zu Beginn des Sommer-Trimesters veranstalteten Tavender und seine Kollegin eine Elternversammlung. „Es war die bestbesuchte Informationsveranstaltung, die wir je hatten“, erinnert er sich. „Rund 80 Teilnehmer:innen; normalerweise kommen 40 bis 50. Wir hatten den Termin an das Ende einer Veranstaltung zum Lesen angehängt – dem wichtigsten Thema in der Grundschulbildung. Anwesend waren gerade mal acht Interessierte.“ Die Lehrkraft, die die Veranstaltung zum Lesen leitete, bemerkte etwas irritiert, dass vor der Tür eine Menge Eltern standen, die alle auf ihre Telefone starrten und auf das Treffen zum Thema Telefonnutzung warteten.Die Präsentation zum Thema Smartphone wurde nur von einem Vater unterbrochen, der den Lehrern Technikfeindlichkeit vorwarf, erzählt Tavender. Überwiegend herrschte dagegen ein Gefühl von Optimismus, dass die Eltern etwas tun könnten, um ihre unterschwellige Sorge in positive Aktionen umzusetzen. Während weder von der Regierung noch von Technologieunternehmen Hilfe kam, hatten sie plötzlich das Gefühl, selbst etwas tun zu können. Einige Tage nach der Veranstaltung verschickte der Zusammenschluss der Grundschulen von St. Albans das gemeinsame Schreiben.Apps wie WhatsApp sind für Kinder besonders problematischDarin hieß es, die Schulen seien zwar schon smartphonefreie Zonen, aber die Idee sei, „das für normal empfundene Alter, in dem Kinder Smartphones erhalten, zu ändern“. „Mit Smartphones meinen wir Handys mit Zugang zum Internet im Gegensatz zu Handys, mit denen man nur SMS verschicken und telefonieren kann.“ Die Eltern sollten dem Druck ihrer Kinder „widerstehen“, hieß es weiter, und gemeinsam daran arbeiten, „die Erwartungen neu zu formulieren und den Gruppenzwang abzubauen“.Der Brief endete mit einem eindringlichen Appell: „Die Zukunft unserer Kinder ist Ihnen und uns extrem wichtig. In einer Welt, in der der schnelle technologische Wandel die Entwicklung des Gehirns unserer Kinder beeinträchtigt, ist es unsere Aufgabe, uns für sie und ihre Zukunft einzusetzen. Wenn nicht wir, wer dann? Mit freundlichen Grüßen, die Schulleiter von St Albans.“Einen Monat später, im Juni vergangenen Jahres, nahm ich an einem zweiten Treffen für Eltern teil, die beim ersten nicht dabei sein konnten. Mit seinem grauen V-Ausschnitt-Pullover und den grauen Hosen – einer Art Erwachsenenversion der Schuluniform – und ergrauendem Bart sieht auch Tavender nicht offensichtlich wie eine revolutionäre Figur aus. Er spricht über seine Vorliebe für Golfsport. Sein Vortragsstil wirkt fast ermüdet monoton, so als würde er die Leute im Raum zum 15. Mal daran erinnern, was er für ein akzeptables Verhalten in der Warteschlange für das Mittagessen hält. Sein Vortrag hat nichts Aufrührerisches, aber die Eltern sind total gefesselt.„Wenn es in Ordnung für Sie ist, dass Ihr Kind aufhört Kind zu sein, dann geben Sie ihm ein Smartphone“, sagt er zu den Eltern, und zeigt ihnen in Groß eine Reihe von Bildern, die von Smartphone Free Childhood zur Verfügung gestellt werden. „WhatsApp ist meiner Meinung nach der Kern allen Übels.“ Insbesondere beunruhigend sind die jüngsten Änderungen der Einstellungen der App, die es Usern ermöglichen, größere Gruppen zu erstellen. Beispielsweise wisse er davon, dass Kinder an einer „Wer-hat-zuerst-1000“-Challenge teilnahmen, bei der es darum geht, riesige Gruppen-Chats zu erstellen. Fotos werden mit einem immer größeren Personenkreis geteilt; niemand weiß wirklich mehr, wer alles in der Gruppe ist.Haben Smartphones eine negativere Wirkung auf Mädchen?„Wir hatten problematische Fälle, bei denen Kinder im Alter von zehn Jahren nach unanständigen Fotos gefragt wurden. Es ist vorgekommen, dass ein Kind eine ältere Cousine der Gruppe hinzufügte, die dann einen weiteren Freund hinzufügte, der dann begann, Pornografie zu posten oder Gewaltverbrechen“, sagt er. „Wir können das als Eltern nicht im Griff behalten. Aber wir können auch nicht sagen, wir können nichts dagegen tun, denn das können wir.“Vor den Fenstern der großen Aula ist das leise Gurren der Waldtauben zu hören. Die menschenleeren Wohnstraßen duften nach Lavendel und Rosen, mit einem schwachen Hauch von Holzrauch; an den Telefonmasten wächst Efeu empor. Doch trotz der halb-ländlichen Idylle lässt sich hier den Kopfschmerzen, die die moderne Elternschaft bereitet, nicht entkommen. „In unserer Schulzeit konnten wir nach Hause gehen und die Mobber konnten uns dort nicht kriegen; heute gibt es keinen sicheren Ort“, sagt Tavender. „Nein, ich wünsche nicht die guten alten Zeiten zurück, als es noch ordentliches Ärgern gab und wir verprügelt oder unsere Hosen heruntergezogen wurden“, fügt er hinzu und erntet ein paar Lacher. „Aber heute scheinen die Mädchen mehr Probleme zu haben. Smartphones haben eine deutlich negativere Auswirkung auf die Mädchen.“Besonders eindrucksvoll ist, wenn Tavender über seine eigenen Schwierigkeiten spricht. „Ich bin süchtig nach meinem Handy. Absolut.“ Er gibt auch zu, dass er und seine Frau, die ebenfalls Lehrerin ist, mittlerweile bereuen, dass sie ihrer Tochter beim Übergang in die weiterführende Schule ein Smartphone gegeben haben. Er beschreibt einen Abend einige Monate zuvor, als er im Fernsehen einen Golfwettbewerb verfolgte, während er gleichzeitig auf seinem Handy spielte; seine Frau saß neben ihm und schaute einen Film. Nebenher schrieb sie Textnachrichten an ihre Freundinnen; seine Tochter zeichnete auf einem Chromebook, während sie über das Handy Nachrichten schrieb. Er erzählt das den Eltern auch, um ihnen zu versichern, dass er sie nicht verurteilt. „Wir waren zu dritt an sechs Geräten. Wir haben zwei Stunden nicht miteinander gesprochen. Wir müssen unseren Kindern ein besseres Vorbild sein.“Am Ende des Treffens hatten viele Eltern zugestimmt, Botschafter zu werden, die versuchen, andere Eltern davon zu überzeugen, den Pakt für eine „Smartphone-freie Kindheit“ zu unterzeichnen, in dem sie versprechen, ihrem Kind erst ein Smartphone zu kaufen, wenn es 14 wird. Aktivisten möchten, dass der Zugang zu sozialen Medien – Snapchat, Instagram, TikTok – erst ab 16 Jahren möglich ist. Es gibt bereits Alterschecks, aber die Regeln werden schlecht kontrolliert: die meisten Plattformen haben ein Mindestalter von 13 Jahren, aber sechs von zehn Kindern im Alter von acht bis zwölf Jahren sind mit ihrem eigenen Profil angemeldet. Ein aktueller Children’s Commissioner Report für England kam zu dem Ergebnis, dass 69 Prozent der Kinder zwischen acht und 15 Jahren täglich bis zu drei Stunden ein internettaugliches Gerät nutzen, 23 Prozent sogar mehr als vier Stunden.Placeholder image-1Sollte der Gebrauch von Handys mit Alkohol, Rauchen und Autofahren gleichgesetzt werden?Will Ashton, der eine Agentur für Digitales Marketing in London leitet und Vater von einem Viertklässler und einem Zweitklässler an der Schule ist, hat die Verantwortung für den Großteil der Kampagne übernommen. Ihm ist wohl bewusst, dass der Erfolg der Bewegung von der schnellen Reichweite von Instagram und WhatsApp abhängt, den Apps, denen die Eltern am meisten misstrauen. „Eine der Ironien an der Sache ist, dass ich noch nie so viel Zeit am Handy verbracht habe“, erzählt er. Ashton würde es sogar gerne sehen, wenn Eltern ihren Kindern sogar erst mit 16 ein Smartphone kaufen. Wenn es nach ihm ginge, sollte Smartphonenutzung als ein Erwachsenen-Ding gelten, wie Alkohol trinken, rauchen oder Autofahren.Seine eigenen Kinder dürfen zeitweise iPads benutzen, allerdings mit sorgfältiger elterlicher Überwachung. „Ich habe noch kein Gegenargument gehört, das mich überzeugt hat. Es geht nicht um Technikfeindlichkeit. Es geht darum, Kindern nur den Zugang zu altersgerechtem Material zu erlauben.“Der Lokalzeitungsmacher Adams, der den ursprünglichen Brief zu einer weltweit bekannten Geschichte gemacht hat, war vorher schon besorgt, was die Smartphonenutzung von Kindern angeht. Ihm war aufgefallen, dass sich die Aufnahmen eines Macheten-Angriffs vor einem lokalen College, bei dem eine Gruppe Jugendlicher zu identifizieren war, im Internet verbreitet hatten. Einige Wochen später kam es an der Schule seiner Tochter zu einem Selbstmordversuch. Die Lehrerschaft versuchte, das mit Diskretion zu behandeln, aber am Ende des Schultags hatten die Schüler:innen die Einzelheiten über WhatsApp miteinander geteilt. „Ich wollte keine Gespräche über solche Dinge mit einer 12-Jährigen führen müssen“, erzählt er.Adams ist stolz auf die enorme Aufmerksamkeit, die sein ursprünglicher Artikel der Kampagne gebracht hat – und etwas irritiert darüber, dass seine Veröffentlichung nie erwähnt wurde. Und er kann verstehen, warum eine wohlhabende Stadt wie St. Albans in dieser Frage führend ist. „Es ist eine Blase: hier wurde überwältigend gegen den Brexit gestimmt. Die Stadt hat eine sehr gebildete, gelehrte, informierte Bevölkerung.“2024 wurde St Albans zum zweitbesten Ort gewählt, in dem man in England leben kann. Eine andere Umfrage im vergangenen Jahr wählte die Stadt Woodbridge in Suffolk als Ort, an dem man in Großbritannien am glücklichsten lebt. Beide Städte sind Drehscheiben der Smartphone-Free-Childhood-Bewegung. Daisy Greenwell und ihr Mann Joe Ryrie, die in Woodbridge leben, starteten ihre Kampagne im Februar 2024, nachdem Greenwell einen emotionalen Instagram-Post an ihre Eltern-Kollegen geschrieben hatte, in dem sie sie drängte, ihren Kindern erst mit höherem Alter ein Smartphone zu erlauben.Das kritische Bewusstsein in der Gesellschaft ist eigentlich schon daDie Initiative veröffentlicht eine Rangliste der Bezirke und Schulen, in denen die meisten „Elternversprechen“ gesammelt werden. Bislang ist die Akzeptanz in London und in den Home Counties, einer Reihe von Grafschaften um London herum, am höchsten. In der Cunningham Hill School haben mehr als die Hälfte der Eltern das Versprechen unterzeichnet. Sie gehört damit zu den engagiertesten Schulen des Landes. Auch wenn Tavender sagt, dass seine Schule nicht sehr wohlhabend ist, haben nur 20 Prozent der Schüler Anrecht auf die gezielte Förderung für benachteiligte Schüler, die sogenannte Schülerprämie.„Es ist nicht überraschend, dass es Eltern aus der Mittelschicht sind, die mehr Zeit haben, sich tiefer mit solchen Dingen zu beschäftigen. Es steht wahrscheinlich eher weit oben auf ihrer Sorgenliste als bei vielen anderen Eltern“, vermutet Ryrie. Die Initiatoren sind sich darüber im Klaren, dass ein Smartphone-Verbot für Familien, die kein Geld für einen eigenen WLAN-Zugang oder die Anschaffung von Laptops haben, auf denen die Kinder ihre Hausaufgaben machen können, wie ein merkwürdiger Luxus wirken kann. Dagegen führt Ryrie Untersuchungen an, nach denen gerade benachteiligte Kinder stärker unter dem unkontrollierten Zugang zum Internet leiden. Haidt schreibt, dass die durchschnittliche Bildschirmzeit eines Kindes und die Nutzung sozialer Medien in Familien mit nur einem Elternteil oder anders begründetem geringen Einkommen ansteigt. Ohne weitere Regulierung besteht laut Ryrie die Gefahr einer „digitalen Kluft zwischen Kindern, die der Online-Welt ohne Leitplanken ausgesetzt sind, und denen mit Eltern, die mehr Zeit haben, das Nutzungsverhalten ihrer Kinder zu überwachen.“Als der britische Starkoch Jamie Oliver vor einem Jahrzehnt eine Kampagne für gesünderes Schulessen startete, reichten einige Eltern ihren Kindern Burger und Pommes durch die Schulhofgitterstäbe. Die Kampagne gegen zu frühe Smartphone-Nutzung dagegen hat wenig Widerstand ausgelöst. Kein Elternteil ist besonders traurig über die Aufforderung, nicht zu bald hunderte Euro für ein Gerät auszugeben, das womöglich jahrelange Streitigkeiten über Bildschirmzeit mit sich bringt. Selbst unter Eltern, die Haidt nicht gelesen haben, gibt es ein wachsendes Bewusstsein für die Gefahren von Smartphones. „In Großbritannien gibt es nicht viele weniger umstrittene Themen“, meint Ryrie.Kurz nach der Aufforderung der Grundschulleiter in St. Albans, auf Smartphones zu verzichten, erklärten die Schulleiter von 18 der 20 weiterführenden Schulen im südlichen Londoner Stadtteil Southwark, dass sie zusammenarbeiten, um die Eltern davon abzuhalten, ihren Kindern vor der 10. Klasse, also wenn sie 14 oder 15 sind, ein Smartphone zu kaufen, lieber noch später. Laut der Schulleiterin der Ark Walworth Academy, Jessica West, sehen sich die Lehrkräfte gezwungen, Maßnahmen zu ergreifen, da wirksame Gesetze fehlen. „An die großen Technologieunternehmen wurden viele Forderungen gerichtet“, erklärt sie, „aber die Maßnahmen sind erschreckend langsam, und das gefährdet unsere Kinder.“Im Juli 2024 verkündete die Eliteschule Eton, dass den Internatsschülern bei der Einschulung mit 13 Jahren nur einfache Handys erlaubt sind, keine Smartphones. Im Februar 2025 kündigten 103 Grundschulen im Stadtteil Barnet im Norden Londons an, dass Smartphones auf dem Schulgelände nicht mehr erlaubt sind, und 23 weiterführende Schulen im Bezirk erklärten, dass sie Smartphones ganz aus dem Schulalltag verbannen wollen. Die Botschaft von Smartphone Free Childhood hatte sich schnell über St Albans und Woodbridge hinaus verbreitet.Es braucht strenge RegelnSechs Monate nach dem Start der Southwark-Initiative sagte der Schulleiter der City of London Academy Mike Baxter, alle Schüler hätten obligatorische Handytaschen erhalten. Wenn Schüler dabei erwischt werden, dass ihr Handy nicht in der Tasche und angeschaltet ist, wird das Telefon für eine Woche eingezogen. „Wir konfiszieren etwa 15 in der Woche“, berichtet der Schulleiter. Es gibt auch zufällige Taschenkontrollen. „Man muss es rigoros durchsetzen.“ Im kommenden Schuljahr wird die Schule für Kinder in der siebten Klasse Handys in der Schule ganz verbieten. Bei Verstoß ist das Handy dann für einen ganzen Monat weg. Von Jahr zu Jahr soll diese Politik auf die Klassen acht und neun erweitert werden.Einige Kinder haben protestiert, aber die Sanktionen sind streng. „Wenn ein Kind sich weigert, das Handy abzugeben, muss es in unseren sogenannten „Reintegrationsraum“ gehen. Wenn sie am nächsten Tag mit einem anderen Handy kommen, geht es wieder in den Reintegrationsraum.“Es gab Ärger mit ein paar wenigen Eltern, die sich weigerten, ihre Kinder die gesamte Woche in die Schule zu schicken, in der das Smartphone eingezogen war. Es gab auch Fälle, in denen Eltern in die Schule kamen und Schuleigentum entwendeten – ein Schul-iPad, ein Radio – und dann gegen die Rückgabe des Handys ihres Kindes eintauschen wollten. „In beiden Fällen haben wir einfach die Polizei gerufen“, erzählt der Schulleiter. „Man muss es unerbittlich durchziehen.“Nur sehr wenige Lehrkräfte sprechen sich für Smartphones aus. In einem Brief an den Guardian bezeichnete im vergangenen Monat ein Lehrer die Bewegung, Smartphones an den Schulen zu verbieten, als „enttäuschend“. Er argumentierte, Lehrer müssten den Schülern zeigen, wie sie digitale Geräte nutzen können, um zu lernen, „kritisch zu denken und durch Online-Räume zu navigieren, die mit Desinformationen gefüllt sind, die durch künstliche Intelligenz noch verstärkt werden“. Aber seine Stimme ist eine Minderheit. „Alle sehen, dass es ein großes Problem gibt“, sagt Baxter.Einige von Tavenders älteren Schülern bedauern es, dass sie wegen des großen Engagements der Schule in absehbarer Zeit kein Smartphone haben werden. Julia Laurence, die Anzeigen für Publikationen verkauft, hat ihrer zehnjährigen Tochter angekündigt, dass sie erst mit 14 ein Smartphone erhält. „Sie hat diese Vorstellung, dass man ein Handy bekommt, sobald man allein von der Schule nach Hause geht. Aber alle Eltern haben sich geeinigt, dass keiner in der Klasse ein Smartphone kriegt“, erklärt sie. „Das macht es viel einfacher für uns.“ Ihre Tochter erzählt allen, die es hören wollen, wie extrem unfair sie die Entwicklung findet. Ihre Mutter zuckt mit den Schultern. „Es ist etwas, worüber ich mir praktisch schon Sorgen mache, seit sie geboren ist. Ich habe das Gefühl, dass wir es sind, die eine Veränderung herbeiführen.“Wenn Eltern zu viel Zeit am Smartphone verbringen …Auch der zehnjährige George Dill und sein achtjähriger Bruder Thomas haben von ihren Eltern zu hören bekommen, dass sie erst mit 14, am besten sogar erst mit 16 Smartphones kriegen. Die Eltern, Graham und Rachel, sind beide Lehrer an einer Schule. Als ich die Familie zu Hause besuche, stehen die Jungs auf dem Sofa im Wohnzimmer, fuchteln mit Golfschlägern herum und spielen mit ihrem Vater ein gefährlich wirkendes Indoor-„Putting“-Spiel. Als ich sie frage, ob sie gerne ein Smartphone hätten, richten sich ihre Augen sofort auf ihre Eltern. „Irgendwie schon“, antwortet George.„Was würdest du sagen, wenn ich sagen würde, dass ich dir morgen eins kaufe?“, fragt sein Vater. „Ich würde denken, dass du mich anlügst“, antwortet George.Thomas beschwert sich, dass sein Vater zu viel Zeit am Telefon verbringt, während er lieber mit ihnen Fußball spielen sollte. Der Junge verdreht die Augen und ahmt mit den Händen vor seinem Gesicht einen Mann nach, der manisch mit den Daumen auf einem imaginären Telefon herumtippt. „Ich bin auch nicht begeistert von meinen Handygewohnheiten“, räumt Graham ein. Er ärgert sich auch darüber, wie oft seine Arbeitgeber ihn spätabends oder gegen sechs Uhr morgens anschreiben.Aber er ist konsequent und lässt seine Söhne nicht einmal während langer Autofahrten Bildschirme nutzen. Während einer siebenstündigen Fahrt nach Cornwall spielten sie vor Kurzem stattdessen ein lang andauerndes Spiel, bei dem sie Punkte dafür bekamen, dass sie mit ihren Fingern auf weiße Teslas schossen. „Die tollsten Ideen in der Geschichte sind aus Langeweile geboren. Jedes Mal, wenn das Handy ‚Ping‘ macht, benötigt man zwei Minuten, um sich wieder voll zu konzentrieren“, erklärt Graham. Unterschiedlich lange Handyzeiten je nach Alter, das fände Thomas gut. „Der Punkt ist: Wenn man kein Handy hat, hat man auch keine quadratischen Augen.“Ein Jahr nach dem Brief der Grundschulleiterinnen von St Albans ist einiges passiert, das ihre Initiative mehr in den Mainstream gerückt hat. Die TV-Serie Adolescence hat neue politische Aufmerksamkeit für die Risiken von verstecktem Online-Mobbing geschaffen. Rund 99,8 Prozent der britischen Grundschulen und 90 Prozent der weiterführenden Schulen haben mittlerweile das Nutzen von Smartphones während der Schulstunden verboten.Die Bewegung wächst organischDie britische Regierung ist zudem dabei, das Online-Sicherheitsgesetz von 2023 umzusetzen: Eine Reihe von Regeln für soziale Medien, Such- und Spiele-Apps und Websites werden am 25. Juli in Kraft treten. Laut der britischen Medienaufsichtsbehörde Ofcom soll das verhindern, dass junge Menschen mit den schädlichsten Inhalten zu Themen wie Selbstmord, Selbstbeschädigung, Essstörungen und Pornografie in Berührung kommen. Kampagnengruppen sind allerdings der Meinung, dass die Vorschriften nicht weit genug gehen. Das von den Eltern getragene Modell der Smartphone-Free-Childhood-Bewegung hat mittlerweile weltweit 32 Ableger – von Kasachstan über Nigeria bis Costa Rica.Doch ein kurzer Spaziergang in St Albans ergibt den Eindruck, dass bisher keine fundamentale Veränderung stattgefunden hat. Jugendliche in Schuluniform, die nach der Schule im Stadtzentrum für Heißgetränke Schlange stehen, balancieren mit Mühe iPhones, Schultaschen und Kaffeebecher. Landesweit meldete der Handynetzbetreiber O2 im vergangenen Oktober eine Verdoppelung der Verkäufe von Handys ohne Internetzugang, was das Unternehmen auf die Besorgnis der Eltern über die Online-Sicherheit zurückgeführte.Aber im Three-Mobile-Laden in St Albans wissen die drei freundlichen Verkäufer nichts von der Kampagne, die die unter 14-Jährigen von St Albans von Smartphones befreien soll. „Tendenziell fragen meistens ältere Leute nach Handys ohne Internetfunktion“, ist hier die Erfahrung. Die Mitarbeiter schätzen, dass Kinder im Schnitt weiter mit elf Jahren ein Smartphone von ihren Eltern bekommen, wenn sie in die weiterführende Schule wechseln.In einer Hollywood-Version der St-Albans-Story gäbe es vermutlich ein triumphales Ende, vielleicht mit Eltern, die eine Dampfwalze anheuern, um die technischen Geräte ihrer Kinder zu zermalmen, oder mit Lehrern, die einen bußfertigen Besuch der WhatsApp-Gründer organisieren, die aus Kalifornien einfliegen, um Schüler und Eltern in Cunningham Hill zu besuchen und sich auf einem verregneten Schulhof zu entschuldigen. Tavender, gespielt von Martin Freeman, würde für seinen Erfolg im Stil von David und Goliath gefeiert werden, so wie Alan Bates, als der Postskandal im Fernsehen übertragen wurde. Ich bin nicht sicher, ob die Film-Produktionsfirmen sich wirklich schon um die Rechte für diese Geschichte schlagen.Wie geht es weiter?Aber Tavender freut sich nicht nur über den Rückgang an Smartphones in der 6. Klasse von 75 auf 12 Prozent, sondern auch darüber, dass die Zahl der Eltern, die ihren Kindern Smartphones kaufen, in den unteren Jahrgängen ebenfalls gesunken ist. Im Dezember 2023 besaßen 30 Prozent der Fünftklässler an der Schule ein Smartphone; ein Jahr später waren es noch 4,8 Prozent – also nur drei Kinder. Der Schulleiter glaubt, dass sich die Bewegung organisch ausbreiten wird. „Es wird ein paar Jahre dauern, bis sich die Auswirkungen wirklich zeigen.“ Außerdem hat er festgestellt, dass weniger häufig Eltern beim Abholen ihre Kinder ignorieren, weil sie gerade am Handy sind.Enttäuschend findet der Schulleiter, dass sich die weiterführenden Schulen in der Stadt nicht für einen ähnlich koordinierten Ansatz entschieden haben, obwohl die meisten von ihnen inzwischen klare Einschränkungen für die Smartphone-Nutzung haben. Er ist sich auch bewusst, dass die Erfolge bisher auf den Südosten Großbritanniens beschränkt sind. Seine Kollegen in York und Middlesbrough hätten noch kaum etwas von der Bewegung Smartphone Free Childhood gehört. Außerdem bedauert er das Versagen der Technologieunternehmen, mehr für den Schutz der Kinder zu tun, und dass die Smartphone-Initiativen der britischen Regierung verwässert wurden.Aber vor allem ist er froh, einen kleinen Beitrag dazu geleistet zu haben, dass sich die Einstellung der Leute zu ändern beginnt. „Insgesamt eine erfolgreiche Sache“, resümiert er, „aber es ist ein langer Weg.“Draußen auf dem Hof gibt der Vater einer Neunjährigen still und leise zu, dass er ihr gerade diese Woche eine SIM-Karte gekauft hat, die sie in einem gebrauchten Handy nutzen kann. Er arbeitet in einem Restaurant. Er und seine Frau arbeiten beide im Schichtdienst und manchmal muss ihre Tochter alleine zu Hause warten, bis sie nach Hause kommen. Er streitet sich mit seinem Sohn im Teenager-Alter über die Bildschirmzeit, meint aber, seine Tochter brauche eins. „Ich hasse das Ding-Ding-Geräusch, wenn seine Freunde sich melden. Und seine TikTok-Nutzung macht mich fertig“, erklärt er. „Aber es gibt Gründe dafür, dass sie ein Handy braucht. Manchmal ist sie 20 Minuten allein zu Hause. Man muss auch praktisch denken.“