Chris Hedges
Der Völkermord in Gaza ist keine Anomalie. Er offenbart eine erschreckende Konstante menschlicher Natur und dient als Vorbote für eine sich verdunkelnde Zukunft.
KAIRO, Ägypten – Nur 322 km trennen mich vom Grenzübergang Rafah. Dort stauen sich 2.000 Lkw mit Mehl, Trinkwasser, Medikamenten, Planen und Treibstoff – unter der Gluthitze der Sinai-Wüste. In Gaza, nur wenige Meilen entfernt, sterben Männer, Frauen und Kinder in Trümmern: durch Kugeln, Bomben, Panzergranaten, Infektionen und Hunger. Nach fast drei Monaten Blockade ist jeder Fünfte vom Hungertod bedroht.
Israels Premier Netanjahu lässt täglich über 100 Menschen töten. Die neue Offensive „Operation Gideons Streitwagen“ werde nicht gestoppt, so Netanjahu. Selbst bei Freilassung aller Geiseln wolle Israel den Krieg fortsetzen. Gaza werde „kein Zuhause mehr sein“. In geleakten Gesprächen sprach Netanjahu offen: Ziel sei die „Auswanderung“ der Palästinenser. Problematisch sei nur, Länder zu finden, die sie aufnehmen.
Die neun Meilen Grenze zwischen Ägypten und Gaza ist zur Trennlinie geworden: zwischen Globalem Norden und Süden, zwischen industrieller Gewalt und verzweifeltem Überleben. Dort endet die Geltung von humanitärem Recht, Konventionen und Menschenwürde. Was beginnt, ist ein Hobbes’scher Albtraum: die hemmungslose Rückkehr kolonialer Grausamkeit, verborgen unter leeren Phrasen von Demokratie und Menschenrechten.
Die Nazis dienen als Sündenbock für ein westliches Erbe, das selbst von Massenmord durchzogen ist: Amerika, Afrika, Indien. Völkermord ist integraler Bestandteil westlicher Vorherrschaft. Der Historiker David E. Stannard spricht von bis zu 100 Millionen getöteten Indigenen zwischen 1490 und 1890. Seit 1950: Genozide in Bangladesch, Kambodscha, Ruanda u.v.m.
Gaza ist kein Einzelfall. Es ist ein Muster. Angesichts der kommenden Migrationswellen durch Klimakatastrophen wird diese Brutalität die Norm. Unsere Botschaft ist klar: Wir haben alles. Wer es uns nehmen will, stirbt.
Der Mythos vom moralischen Fortschritt zerbricht in Gaza. Die Werkzeuge ändern sich, nicht die Grausamkeit: 2.000-Pfund-Bomben, Drohnen, Artillerie statt Schwertern. Louis-Auguste Blanqui warnte bereits im 19. Jahrhundert vor dem Irrtum, Geschichte sei ein linearer Fortschritt. Fortschritt sei nicht garantiert, sondern stets bedroht.
Nach dem Fall Roms fiel Europa ins Dunkel. Wissen ging verloren. Erst die Übersetzungen antiker Texte durch islamische Gelehrte leiteten im 14. Jahrhundert die Renaissance ein. Blanqui wusste, Geschichte kann auch rückwärts gehen.
Heute betreten wir ein neues dunkles Zeitalter. Mit neuen Mitteln: Massenüberwachung, KI, Drohnen, Militarisierung. Wer glaubt, der Fortschrittsmythos würde uns retten, wird zur Beute der Tyrannei. Nur aktiver Widerstand, besonders gegen Völkermord, kann uns retten.
Kriege reißen die Maske vom Menschen. Wo Ordnung und Gesetz verschwinden, bricht das Tier hervor. Ich habe es überall gesehen, in jedem Krieg. Niemand ist immun.
König Leopold tötete im Kongo 10 Millionen. Joseph Conrad schrieb in „Ein Außenposten des Fortschritts“ über das Abgleiten in die Barbarei, wenn der Schutz zivilisierter Ordnung fehlt. Zivilisierte Prinzipien sind brüchig. Der Mensch ist keine feste Größe. Unter Druck wird er zur Bestie.
Der Genozid in Gaza entlarvt unsere Heuchelei. Wir finanzieren Waffen, verfolgen Kritiker, sprechen aber von Freiheit. Wir haben das Recht verloren, moralisch zu sprechen. Unsere Sprache ist nun die des Völkermords. Willkommen im neuen dunklen Zeitalter.