Polizei und Geheimdienste sind keine Nachrichtenagenturen, und was sie schreiben, ist kritisch zu hinterfragen. Das gilt für den Fall von Polizeigewalt ebenso wie für Extremismusberichte. Ein Weckruf an den Journalismus


Bei Polizeimeldungen gilt, erstmal kurz anhalten

Montage: der Freitag; Material: alamy


Eins mag man hoffen nach dem traurigen Tod von Lorenz A., der jetzt 22 Jahre alt wäre: Dass der Fall etwas mehr Misstrauen gegenüber polizeilichen Darstellungen kritischer Vorgänge nach sich zieht. Denn ganz so, wie es die Polizei zunächst klingen ließ, kann es am 20. April nicht zu den Schüssen auf den jungen Mann in Oldenburg gekommen sein: Wieso wurde er von hinten getroffen, wenn er sich, wie es in der ersten Polizeimeldung hieß, „bedrohlich auf die Polizisten zu“ bewegte?

Dass in diese Causa rasch Bewegung kam, verdankt sich einer vorbildlichen Staatsanwaltschaft: Umgehend machte sie den Obduktionsbericht publik, der dem Polizeitenor widersprach. In anderen Fällen polizeilicher Todesschüsse auf „Randalierer“ – e

Dass in diese Causa rasch Bewegung kam, verdankt sich einer vorbildlichen Staatsanwaltschaft: Umgehend machte sie den Obduktionsbericht publik, der dem Polizeitenor widersprach. In anderen Fällen polizeilicher Todesschüsse auf „Randalierer“ – etwa am 17. März in Herne und am 15. März in Dortmund – bestimmte hingegen das Dienststellen-Wording die öffentliche Aufnahme des Geschehens. Dabei hatten Recherchen des nd im Dortmunder Fall erhebliche Zweifel aufgeworfen.Der Polizeiticker ist keine NachrichtenagenturWas zum Umgang mit Polizeimeldungen zu sagen ist, findet sich in einer knappen Broschüre der Deutschen Journalistinnen- und Journalistenunion (dju): „Die Polizei“, heißt es da, ist „nicht nur Quelle von Informationen, sondern auch Gegenstand der Berichterstattung“, oft „sogar beides zugleich“. Angesichts dieser „Doppelrolle“ müssten Berichte stets in dem Wissen verfasst werden, dass „die Polizei eine Behörde mit eigenen Interessen ist: Zumal bei eigener Beteiligung müsse sie „als Partei behandelt“ werden, „weil es ihr im Zweifel an der erforderlichen Objektivität fehlt“.Hieran müssen lokale Medien, die ob des wachsenden Produktions- und Knüllerdrucks versucht sind, den Polizeiticker als Nachrichtenagentur zu behandeln, immer wieder erinnert werden. Aber auch überregionale Publikationen, die „Qualität“ beanspruchen, sollten sich gelegentlich den Wert des Konjunktivs vor Augen halten: Neben der grammatikalischen Form ist damit ein professioneller Zweifel gemeint, der offizielle Äußerungen als Anlass und Ausgangspunkt von Berichten betrachtet, aber nicht schon als deren Inhalt.Und nicht nur Polizeimeldungen sind ja verführerisch, sondern auch Äußerungen anderer Sicherheitsdienste, selbst wenn sie einer Redaktion einmal nicht als „exklusiv“ zugesteckt werden. Wie geht nun Konjunktiv, wenn etwa der dem Innenministerium unterstellte Verfassungsschutz einer abstoßenden Partei nach genretypisch intransparentem Verfahren „gesicherten“ Extremismus attestiert?Verfassungsschutz: Unglaubwürdig bei Klimabewegung, glaubwürdig bei der AfD?Kann man den Inhalt dieser Äußerung im Indikativ verbreiten, wenn man sich sonst über den Umgang der Behörde mit Teilen der sympathischen Klimabewegung aufregt? Wäre nicht mindestens zu fragen, wo das unter einer scheidenden SPD-Ministerin gefällte Verdikt in einer politischen Landschaft steht, in der das Draußenhalten der AfD eine Art sozialdemokratische Regierungsbeteiligungsgarantie darstellt?Noch prekärer wird es, wenn der Bundesnachrichtendienst ins Spiel kommt, der dem Bundeskanzleramt zugeordnet ist. Was ist die Nachricht, wenn derselbe kurz vor einem nie da gewesenen Rüstungspaket über eine nie da gewesene militärische Bedrohung spricht? Ist hier das Thema, was er sagt – und nicht auch, dass er das sagt? Die deutschen Medien haben sich für Ersteres entschieden. Dabei drängte sich als Kontext auf, dass die jüngsten Bulletins der US-Dienste die Gefahr eines russischen Angriffs auf die NATO nicht erwähnen (2025) oder sogar ausschließen (2024).Finger weg von KI und ClickabilityJe geheimer die Sicherheitsbehörden werden, desto mehr gilt jene dju-Broschüre zur Verteidigung des Konjunktivs. Professioneller Zweifel muss davon ausgehen, dass nachrichtendienstliche Äußerungen weniger Nachrichten über politische Prozesse sind als selbst Teile derselben: War es nicht auch eine Botschaft zwischen Regierungen, als US-Dienste 2022 wiederholt den russischen Angriff auf die Ukraine ankündigten? Im Sinne eines „Es wird nicht verhandelt. Tut, was ihr nicht lassen wollt“?Über all das sollte nachdenken, wer mit News-Produktion zu tun hat. Sofort zu stoppen ist indes die faktenwidrige Zuspitzung ungeprüfter Behördenmeldungen zwecks Steigerung der Clickability – ob nun mit oder ohne KI. Genau das aber tat der Springer-Boulevard im Fall des Lorenz A.: In der ersten Headline war von einem „Messer-Angreifer“ die Rede. Das aber hatte nicht einmal die Polizei behauptet.



Source link

Von Veritatis

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert