Ob er den „Taurus“ tatsächlich an Kiew liefern wird, darüber lässt Kanzler Friedrich Merz die Öffentlichkeit bewusst im Unklaren. Moskau spricht von einer möglichen Kriegsbeteiligung durch NATO-Staaten, die Folgen haben werde
Friedrich Merz, Emmanuel Macron, Wolodymyr Selenskyj und Keir Starmer am 10. Mai 2025 in Kiew
Foto: Gleb Garanich/Reuters/picture alliance
Unter den Moskauer Militärkommentatoren gilt Wiktor Baranez als ein Mann von Gewicht. Der Oberst a. D. ist Militäranalytiker der Kreml-nahen Tageszeitung Komsomolskaja Prawda.
Einst Offizier der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte in der DDR, schaut er mit tiefer Skepsis und kaum verhohlener Enttäuschung auf Deutschland. Das verbindet ihn mit seinem Präsidenten Wladimir Putin. Bei gelegentlichen öffentlichen Auftritten der beiden vor laufenden Kameras war zu sehen, dass Oberstleutnant a. D. Putin den Oberst Baranez zu schätzen weiß. Das demonstrierte Putin unter anderem in einem Ukas vom August 2020, als er dem Oberst den Titel „Verdienter Journalist der Russischen Föderation“ verlieh.
Hardliner wollen die Transportrouten für
Hardliner wollen die Transportrouten für den Waffentransfer Richtung Ukraine angreifenBaranez, Sohn eines sowjetischen Frontoffiziers aus dem Zweiten Weltkrieg, betrachtet die Deutschen wegen ihrer Unterstützung für Kiew als gefährliche Rückfalltäter. Zur Erklärung von Friedrich Merz, man habe gemeinsam mit Großbritannien, Frankreich und den USA jede Beschränkung für die Reichweiten an Kiew verschickter Raketensysteme aufgehoben, sagt Baranez, der deutsche Regierungschef sei sich der Folgen womöglich nicht bewusst. Was der zu Langstreckenwaffen im Ukraine-Krieg sage, ändere „in radikaler Weise die Situation auf dem Schlachtfeld“. Die russische Luftabwehr habe jetzt eine neue Aufgabe. Sie müsse „die weitreichenden Raketen des Westens vernichten, schon auf ihrem langen Weg in die Ukraine“.„Unsere Raketen“, so Baranez, „sollten in den Karawanen einschlagen, die sich in Richtung Ukraine bewegen“, von polnischen und rumänischen Flughäfen aus. Damit unterstützt Baranez die Haltung russischer Hardliner, die schon seit Längerem dafür plädieren, die Transportrouten für weitreichende Artilleriesysteme auch auf dem Territorium von NATO-Ländern anzugreifen. Solche Forderungen waren immer wieder in Diskussionssendungen des Fernsehkanals Swesda (Stern) zu hören, der dem Verteidigungsministerium gehört und als Forum der forschen Töne gilt. Das Risiko, dass die NATO eine solche Attacke als Angriff nach Artikel 5 ihres Statutes werten könnte, wird in diesen Debatten konsequent ausgeblendet.Parallel dazu sind in Moskau unter Experten auch moderatere Töne zu vernehmen. Timofej Borrisow, Autor der Regierungszeitung Rossiskaja Gaseta, betont in seinem Telegram-Kanal, Merz habe den „Taurus“ nicht ausdrücklich erwähnt. Den Entschluss, diese Waffe in die Ukraine zu liefern, so Borissow, müsse der Deutsche Bundestag treffen. Vor der Erklärung von Merz hatte Verteidigungsminister Boris Pistorius am 24. Mai in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung auf die Frage, ob mit den „Long Range Fires“ der „Taurus“ gemeint sei, geantwortet: „Nein, das steht nicht dahinter“.Der Interviewer hatte daraufhin nachgefragt, ob diese Art des Vorgehens die von der Bundesregierung propagierte „strategische Ambiguität“ sei. Dazu Pistorius: „Ja genau. Ich war immer dafür, dass wir Russland nicht wissen lassen, was wir morgen oder übermorgen an die Ukraine liefern könnten und werden.“Unter Moskauer Deutschlandkennern wird Merz mehr als Propagandist in eigener Sache statt als Kriegsherr gesehen, mehr als Nervenkrieger denn als Schlachtenlenker. Manche Beobachter konstatieren, Merz verkehre die Devise von Preußenkönig Friedrichs II., es gelte, mehr zu sein, als zu scheinen, in ihr Gegenteil. Die in Russland öffentlich geführten Debatten über die Politik der Bundesregierung mäandern zwischen divergierenden Urteilen. Mal wird Merz als Bluffer gesehen, mal als jemand, der womöglich eine verhängnisvolle Entscheidung für den „Taurus“ treffen könne.Dmitri Peskow nannte den Einsatz weitreichender Lenkwaffen „eine sehr gefährliche Entscheidung“Wladimir Putin hatte bereits am 12. September 2024 in einem Interview für das russische Staatsfernsehen zu verstehen gegeben, im Falle des Gebrauchs „hochpräziser Waffen mit langer Reichweite“ gegen Russland wäre dies eine „andere Geschichte“ als der bisherige Konflikt. „Sehr wichtig“, so Putin, sei dabei, dass die Flugbahn solcher Lenkraketen „nur Militärs von NATO-Ländern“ steuern könnten. Dies aber wäre „eine direkte Teilnahme“ am Krieg.Soeben hat sein Sprecher Dmitri Peskow wissen lassen, der Ukraine den Einsatz weitreichender Lenkwaffen zu gestatten, das sei „eine sehr gefährliche Entscheidung“. Er machte allerdings die Einschränkung, „wenn sie denn getroffen werde“. Er deutet damit an, dass die russische Führung durch ihre Aufklärung genau wisse, welche Risiken wortgewaltige westliche Politiker einzugehen bereit sind.