Die geplante Reform des Bürgergelds, wie sie im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD skizziert ist, markiert keine sozialpolitische „Weiterentwicklung“, wie es die Regierungssprache nahelegt – sondern eine technokratisch verbrämte Rückabwicklung solidarischer und ethischer Prinzipien. Der Sozialstaat wird nicht repariert, sondern fundamental umgeschrieben – das ist eine strukturelle und moralische Bankrotterklärung. Von Detlef Koch.
1. Ein Systemwechsel im Schatten Orwell’scher Neusprech-Rhetorik
Hinter Begriffen wie „Lebensleistung“, „Vermittlungsvorrang“ und „Fördern und Fordern“ verbirgt sich ein Sanktionsapparat, der an die autoritären Grundzüge der Agenda 2010 anschließt und zugleich auf eine repressive Absicherung der Lohnarbeitsgesellschaft zielt.
Mit der Umbenennung des Bürgergelds in „neue Grundsicherung für Arbeitssuchende“ wird nicht nur ein symbolpolitischer Reset versucht. Es ist eine semantische Operation mit politischer Stoßrichtung: Der Rückgriff auf das Modell der Arbeitsverpflichtung als zentrales Strukturprinzip sozialer Sicherung. Der Staat soll nicht mehr in erster Linie schützen – sondern selektieren, konditionieren und sanktionieren.
2. Was geplant ist: Die Neuauflage der sozialen Repression
Die zentralen Eckpunkte dieser Reform offenbaren ein klares Machtverhältnis vom Herrn zum Knecht:
- Der Vermittlungsvorrang wird wieder eingeführt. Weiterbildungsangebote verlieren an Priorität zugunsten unmittelbarer Arbeitsaufnahme – unabhängig von Qualifikation oder Nachhaltigkeit. Mit der Rückkehr zum Vermittlungsvorrang verfolgt die Bundesregierung ein arbeitsmarktpolitisches Dogma, das längst als überholt galt. Nicht mehr die nachhaltige Qualifizierung, sondern die unmittelbare Arbeitsaufnahme – ungeachtet von Passgenauigkeit oder beruflicher Perspektive – soll wieder Priorität erhalten. Damit wird ein zentrales sozialstaatliches Reformziel revidiert: die Förderung von Bildungsaufstieg und individueller Kompetenzentwicklung. Anstelle echter Teilhabe rückt nun die statistische Reduktion der Arbeitslosenzahlen in den Vordergrund. Die Neuregelung entwertet Qualifikation und berufliche Eignung, indem sie jede Tätigkeit – unabhängig von ihrer Qualität – zur Pflicht erhebt. Ein solches Paradigma stärkt nicht die Erwerbsintegration, sondern zementiert prekäre Beschäftigung. Die Maßnahmen verkennen, dass stabile Arbeitsverhältnisse auf Ausbildung, nicht auf kurzfristiger Vermittlung basieren. Bildung wird zur vernachlässigten Größe, Weiterbildung zur nachrangigen Option – dies in einer Zeit, in der Transformation und Digitalisierung neue Kompetenzen verlangen. Was als „aktivierender Sozialstaat“ firmiert, mutiert so zur reaktiven Disziplinierungsinstanz. Die Botschaft an Leistungsbeziehende lautet nicht mehr: „Lernen lohnt sich“, sondern: „Arbeit um jeden Preis“. Das erinnert an frühere Zwangslogiken – nicht an moderne Arbeitsmarktpolitik. Und es stellt nicht zuletzt die Frage: Cui bono? Wer profitiert von einer Politik, die auf schnelle Platzierung statt auf langfristige Entwicklung setzt? Langfristig niemand!
- Mitwirkungspflichten werden verschärft, Sanktionen früher und härter ausgesprochen. Wer zweimal eine „zumutbare“ Arbeit ablehnt, muss mit vollständigem Leistungsentzug rechnen – eine Maßnahme, die dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2019 offen widerspricht. Die geplante Regelung, Bürgergeldbeziehenden bei wiederholter Ablehnung einer als „zumutbar“ definierten Tätigkeit sämtliche Leistungen zu entziehen, markiert einen folgenreichen Bruch mit rechtsstaatlicher Logik. Während selbst verurteilten Straftätern im Strafvollzug ein verfassungsrechtlich garantiertes Minimum an Versorgung zusteht, soll Erwerbslosen dieses Minimum entzogen werden können – nicht aufgrund einer Straftat, sondern wegen eines normativen Fehlverhaltens in einem ungleichen Machtverhältnis.
Das Bundesverfassungsgericht hatte 2019 unmissverständlich geurteilt, dass Sanktionen im SGB-II-System nicht zu einer vollständigen Entziehung existenzsichernder Leistungen führen dürfen, weil sie das Gebot der Menschenwürde verletzen. Ein vollständiger Leistungsentzug widerspricht damit dem sozialstaatlichen Minimalprinzip und der aus Artikel 1 in Verbindung mit Artikel 20 GG abgeleiteten Pflicht des Staates, ein soziokulturelles Existenzminimum sicherzustellen.
Indem die Koalition dennoch einen solchen Mechanismus einführt, verschiebt sie das Verhältnis von „Fördern und Fordern“ in Richtung einer Disziplinierungspolitik, in der Grundrechte konditional werden. Der Entzug materieller Existenzgrundlagen wird als regulärer Hebel zur Durchsetzung arbeitsmarktpolitischer Zielvorgaben begriffen – ohne Rücksicht auf individuelle Zumutbarkeit, strukturelle Hindernisse oder psychosoziale Belastungen. Dies ist verfassungsrechtlich fragwürdig und normativ hoch bedenklich.
- Die Karenzzeit beim Schonvermögen entfällt. Stattdessen wird eine neue Abstufung eingeführt, die Menschen mit lückenhaften Erwerbsbiografien (z. B. Alleinerziehende, prekär Beschäftigte, Geflüchtete) strukturell benachteiligt. Mit der Abschaffung der Karenzzeit beim Schonvermögen und der Einführung einer gestaffelten Bewertung wird das sozialstaatliche Minimalprinzip fundamental verschoben. Künftig zählt nicht mehr allein die Bedürftigkeit im Moment existenzieller Not, sondern die kumulierte Erwerbsbiografie als normatives Kriterium für staatliche Hilfe. Wer über Jahre hinweg Lücken im Erwerbsverlauf aufweist – etwa durch Sorgearbeit, Migration, Krankheit oder prekäre Beschäftigung – sieht sich strukturellem Misstrauen ausgesetzt: Nicht das aktuelle Fehlen von Mitteln, sondern die vermeintlich unzureichende „Lebensleistung“ entscheidet über das Maß der Unterstützung. Diese Reform setzt auf eine implizite Unterscheidung zwischen „verdienter“ und „unverdienter“ Bedürftigkeit. Während stabile Vollzeitkarrieren mit Schonvermögensboni versehen werden, geraten gerade jene unter Druck, die ohnehin am Rand des Systems stehen. Alleinerziehende, Geflüchtete und Geringqualifizierte, deren Erwerbsverläufe durch soziale Brüche geprägt sind, büßen doppelt: ökonomisch wie symbolisch. Die Maßnahme wirkt regressiv – sie privilegiert Vergangenheiten statt gegenwärtige Notlagen – und unterminiert damit die Gleichbehandlung als Kern sozialer Sicherung.
Was als Rationalisierung des Leistungsrechts verkauft wird, führt in Wahrheit zu einer selektiven Finanzialisierung sozialer Absicherung: Wer mehr „verwertbares“ Kapital aus seinem bisherigen Leben mitbringt, darf länger behalten. Wer nichts hat, muss sofort alles offenlegen. Das untergräbt Vertrauen und schwächt Teilhabe – die Langzeitwirkung ist eine stille Erosion sozialer Kohärenz.
- Die Regelsatzentwicklung wird entkoppelt von der realen Inflationsdynamik – mit der Konsequenz, dass die ärmsten Haushalte dauerhaft Kaufkraft verlieren.
Mit der geplanten Rückkehr zur alten Anpassungsformel wird die Entwicklung der Regelsätze künftig wieder von der realen Inflationsdynamik entkoppelt. Die Maßnahme erfolgt in einem Moment anhaltender Teuerung und trifft ausgerechnet jene Haushalte, deren Konsum fast ausschließlich dem existenziellen Bedarf dient. Statt auf einen nachvollziehbaren Inflationsausgleich zu setzen, wird ein statisches Berechnungsverfahren reaktiviert, das strukturell hinter der tatsächlichen Preisentwicklung zurückbleibt. Die Folge ist ein schleichender Verlust an Kaufkraft für die untersten Einkommensgruppen – und damit ein „Konsumverzicht aus Zwang“.
Ökonomisch ist die Maßnahme kurzsichtig. Denn Mikroausgaben dieser Gruppen entfalten makroökonomische Wirkung: Sie fließen direkt in den Binnenkonsum, wirken stabilisierend in Krisenzeiten und tragen zur Nachfrage in preissensiblen Sektoren bei. Ihre Beschneidung schwächt somit nicht nur die individuelle Teilhabe, sondern auch die konjunkturelle Resilienz. Während der Staat Milliarden in konjunkturelle Stimuli und Subventionen für Unternehmen investiert, wird ausgerechnet bei jenen gekürzt, die jeden Euro unmittelbar ausgeben müssen.
Der beschlossene Mechanismus der Regelsatzanpassung mutiert damit zur fiskalpolitischen Stellschraube – zulasten der Ärmsten. Es ist ein indexpolitischer Blindflug, der soziale Härte verstetigt und wirtschaftspolitisch kontraproduktiv ist. Gerade in einer fragilen Gesamtwirtschaft ist diese Maßnahme ein Risiko: für den sozialen Frieden wie für die Konsumdynamik.
- Wohnkosten sollen pauschaliert werden. Schon jetzt müssen über 300.000 Haushalte einen Teil ihrer Miete aus dem Regelsatz aufbringen – künftig könnten es deutlich mehr werden. Die geplante Pauschalierung der Wohnkosten im Bürgergeldsystem markiert einen tiefgreifenden Systemwechsel mit gravierenden sozialen Folgen. Bereits heute müssen über 300.000 Bedarfsgemeinschaften einen Teil ihrer Mietkosten aus dem regulären Regelsatz bestreiten – also aus einem Budget, das eigentlich der Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums dienen soll. Künftig, so die Prognose, wird sich diese Zahl deutlich erhöhen, da die neue Pauschale vielerorts unter den realen Wohnkosten liegen dürfte. Ökonomisch betrachtet bedeutet dies eine systematische Budgetverdrängung: Fixkosten wie Miete werden aus einem pauschalen Betrag bestritten, der nicht an lokale Mietspiegel oder reale Preisentwicklungen angepasst ist. Für viele Betroffene bleibt damit nur die Möglichkeit, andere notwendige Ausgaben – etwa für Ernährung, Kleidung oder Teilhabe – zu kürzen. Faktisch führt dies zu einer sozialen Unterdeckung und unterschreitet das verfassungsrechtlich garantierte Minimum menschenwürdiger Existenz. Die Maßnahme ist weder ein bloß technischer Eingriff noch ein Beitrag zur Verwaltungsvereinfachung, sondern ein struktureller Eingriff in die Daseinsvorsorge. Wer gezwungen ist, das gesetzlich definierte Existenzminimum für Wohnkosten zu verwenden, lebt unterhalb eben jenes Minimums. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach der sozialstaatlichen Legitimität der Pauschale – und nach der politischen Prioritätensetzung in einem Staat, der zugleich milliardenschwere Konjunkturpakete auflegt. Ein Konzept, das Bedürftige zwingt, zwischen Wohnraum und Lebensunterhalt zu wählen, konterkariert das Versprechen der sozialen Sicherung. Es reduziert existenzielle Grundrechte auf ein Rechenexempel – zulasten jener, die sich ihrer eigenen Unterversorgung nicht entziehen können.
3. Wer die Zeche zahlt: Die Schwächsten – und das bewusst
Die Reform trifft nicht „die Arbeitslosen“ im Allgemeinen. Sie trifft besonders verletzliche Gruppen mit systematisch eingeschränkten Ressourcen:
- Alleinerziehende, die zwischen Kinderbetreuung, Jobcentervorgaben und Erwerbsarbeit zerrieben werden.
- Ältere Erwerbslose, die nach jahrzehntelanger Arbeit ihre Rücklagen verlieren, aber real kaum vermittelbar sind.
- Menschen mit chronischen oder psychischen Erkrankungen, die aufgrund bürokratischer Zumutungen nicht in der Lage sind, Fristen und Meldepflichten einzuhalten.
- Geflüchtete, deren Integrationserfolge ignoriert werden, um politisch ein Exempel zu statuieren.
Die Folgen sind gravierend: Stigmatisierung, soziale Isolation, psychische Belastung und der Rückzug aus öffentlichen Räumen. Sozialpolitik wird zur Disziplinierungspolitik – mit dramatischen Implikationen für das Menschenbild in der Demokratie.
4. Bürgergeld als Systemandrohung: Ein Damoklesschwert für Beschäftigte
Die geplanten Reformen haben eine strukturelle Nebenwirkung: Sie stärken das Bürgergeld nicht als soziale Absicherung – sondern als staatliche Drohkulisse. Bereits heute dient die Grundsicherung als stilles Druckmittel, um Erwerbstätige im Niedriglohnsektor gefügig zu halten. Die Angst vor Abstieg und Jobverlust wirkt disziplinierend. Wer „aufstockt“, steht unter doppeltem Druck – ökonomisch und moralisch.
In dieser Logik wird nicht etwa der Arbeitsmarkt reformiert, sondern die Erwartung an den Einzelnen gesteigert, jede noch so schlechte Beschäftigung zu akzeptieren. Diese strukturelle Erpressbarkeit ist kein Kollateralschaden – sie ist menschenverachtendes Kalkül.
5. Psychosoziale Folgen: Der Rückbau des Existenzrechts
Wer Armut administriert statt sie zu bekämpfen, produziert seelische Verwundung. Die Forschung der letzten 25 Jahre belegt eindeutig: Armut ist ein Stressfaktor mit chronischer Wirkung – sie erhöht das Risiko für Depressionen, Angststörungen und soziale Isolation. Die geplanten Leistungskürzungen und das Sanktionsregime werden diesen Druck verschärfen – und vor allem bei Kindern, Jugendlichen und Alleinstehenden zu langfristigen psychischen Schäden führen.
Die „erlernte Hilflosigkeit“, wie sie psychologische Studien beschreiben, ist kein individuelles Versagen – sie ist das Resultat struktureller Aussichtslosigkeit. Der Staat entzieht den Menschen nicht nur Geld – er entzieht ihnen Handlungsspielraum, Würde und Zugehörigkeit.
6. Rhetorik der Täuschung: Von Lebensleistung und Eigenverantwortung
Die Regierung spricht von „Leistungsgerechtigkeit“. Gemeint ist: Wer nicht leisten kann oder darf, erhält auch keine Solidarität mehr. Die Rede von „Lebensleistung“ bedeutet faktisch: Wer in den falschen Jahrzehnten krank war, Kinder erzogen oder keine durchgehende Erwerbsbiografie hat, wird bestraft.
Es ist eine subtile Form der sozialen Selektion. Unter dem Vorwand „Eigenverantwortung“ zieht sich die Gesellschaft aus der Verantwortung zurück. Sozialstaat wird zur Rückversicherung der Starken.
7. Die SPD und das gespaltene Erbe
Dass diese Reformen mitgetragen werden von der SPD, ist nicht einfach ein politischer Widerspruch – es ist ein Verrat an ihrem historischen Anspruch. Lars Klingbeils Behauptung, die SPD wolle wieder „Arbeiterpartei“ sein, wirkt vor diesem Hintergrund wie Hohn. Wer Sozialabbau organisiert und zugleich das rhetorische Banner der Gerechtigkeit schwenkt, dem droht nicht nur der Verlust des Rückhalts – sondern seiner politischen Identität.
8. Politische Logik moralischer Verwahrlosung: Kalkulierte Verwundbarkeit als Regierungsprinzip
Was eine demokratisch legitimierte Regierung dazu bringt, eine Sozialpolitik zu betreiben, die psychisch belastet, existenziell bedroht und sich von der Idee der Menschenwürde abkoppelt, lässt sich nicht allein durch politische Pragmatik oder fiskalische Zwänge erklären. Vielmehr deutet vieles auf einen strukturell verankerten, moralisch indifferenten Zugriff auf soziale Verwundbarkeit hin – eine Verrechtlichung der Zumutung, die durch legislativen Zynismus kaschiert wird und systematisch entwürdigende Lebensverhältnisse schafft.
Diese Politik vollzieht sich mit offenkundigem Wissen um ihre sozialen Folgen. Sie verkennt nicht, sondern kalkuliert die Eskalation von Notlagen: die psychische Destabilisierung durch chronischen Existenzstress, die Isolation durch soziale Ausgrenzung, das erhöhte Erkrankungsrisiko in Armut. Das staatlich kodifizierte Fordern und Sanktionieren verkommen so zur Chiffre eines institutionellen Sadismus, in dem Sozialgesetzgebung nicht mehr schützt, sondern diszipliniert.
Psychologisch betrachtet liegt dem ein Verdrängungskomplex zugrunde, der Verantwortung externalisiert: Nicht politische Versäumnisse, sondern das Verhalten der Armen wird problematisiert. Ein Mechanismus projektiver Schuldabwehr – flankiert von entmenschlichenden Diskursen über „Leistungsunwillige“. In der politischen Kommunikation wird der Sozialstaat rhetorisch als Hilfeinstanz verteidigt, faktisch jedoch als Druckregime konzipiert. Die semantische Umetikettierung des Bürgergelds zur „neuen Grundsicherung für Arbeitssuchende“ ist hierfür exemplarisch.
Demokratietheoretisch ist dieses Vorgehen ein Indikator für eine politische Entkoppelung von Verantwortung. Die Regierung agiert nicht mehr im Modus der sozialen Repräsentation, sondern der selektiven Steuerung: Menschen werden zu adressierbaren Einheiten einer wirtschaftspolitischen Nutzenlogik. Die soziale Position der Menschen wird als individuelles Versagen gelesen. In dieser Logik gilt: Kalkulierte Verwundbarkeit ist kein politisches Versagen, sondern ein Steuerungsinstrument.
Gesetze, Verwaltungsakte und die Sprache offizieller Dokumente spiegeln diese Haltung wider – nicht als Exzess, sondern als System. Die menschenrechtliche Schwelle zur Würde wird nicht unterschritten, sondern administrativ nivelliert. Der Sozialstaat erscheint nicht mehr als Ausdruck gemeinsamer Solidarität, sondern als Instrument der sozialen Auslese durch formalisierte Verknappung.
Dies ist keine politische Randerscheinung, sondern eine breitflächig etablierte strukturelle und moralische Bankrotterklärung. Sie bricht mit dem demokratischen Versprechen gleicher Achtung – nicht aus ökonomischer Notwendigkeit, sondern aus einem ideologisch verformten Staatsverständnis, das die Bedürftigkeit des Einzelnen als störende Abweichung normativer Erwerbsbiografien behandelt. Der Sozialstaat wird nicht repariert, sondern fundamental umgeschrieben – als Dienstleister eines permanenten Mangels, der nicht behebt, sondern normiert. Damit steht nicht nur die Integrität sozialstaatlicher Institutionen infrage, sondern die demokratische Legitimität selbst.
9. Was gebraucht würde: Eine sozialstaatliche Kurskorrektur
Was also fehlt, ist nicht Disziplinierung, sondern Absicherung:
- Eine sanktionsfreie, armutsfeste Mindestsicherung, wie sie u. a. der Paritätische, das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung und Human Rights Watch fordern.
- Eine Regelsatzanpassung, die reale Lebenshaltungskosten abbildet, nicht statistische Schönrechnungen.
- Eine volle Erstattung der Wohnkosten, um Verdrängung und Wohnungslosigkeit zu verhindern.
- Ein Fokus auf Qualifikation statt Zwangsvermittlung, mit individueller Förderung, nicht standardisierten Maßnahmen.
- Ein Rehabilitations- statt ein Repressionsregime für erkrankte oder traumatisierte Menschen.
10. Fazit: Die neue Grundsicherung ist kein Fortschritt – sie ist die Refeudalisierung des Sozialen.
In einer Zeit multipler Krisen bräuchte es eine starke soziale Infrastruktur. Was stattdessen geliefert wird, ist ein Regelwerk der sozialen Härte. Das Bürgergeld wird zur Zumutung – nicht allein für die Betroffenen, sondern für das demokratische Selbstverständnis dieses Landes.
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