Kaum wer kennt das „Militärische Nachrichtenwesen“, den größten bundesdeutschen Geheimdienst. Er operiert fernab politischer Kontrolle und rechtsstaatlicher Grundlage. Das Zentrum für Politische Schönheit geriet schon ins Visier des MilNW


Wie die Eule der Minerva, so beginnt auch die des MilNW erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug

Grafik: der Freitag; Material: iStock


Man stelle sich mal vor, es gäbe hierzulande eine Sicherheitsbehörde, die ohne Gesetz und demokratische Kontrolle arbeitet, obwohl sie dabei tief in Grund- und Menschenrechte von Bürger:innen eingreift. Schwer vorstellbar in einem demokratischen Rechtsstaat wie der Bundesrepublik, in dem die vollziehende Gewalt des Staates an Gesetz und Recht gebunden ist sowie parlamentarisch und gerichtlich kontrolliert werden muss? Doch einen solchen Fall weitgehend gesetzloser und unkontrollierter Staatsgewalt gibt es tatsächlich – und das schon jahrzehntelang.

Die Bundeswehr betreibt neben ihrem regulären Geheimdienst, dem Militärischen Abschirmdienst (MAD), ein kaum bekanntes Militärisches Nachrichtenwesen (MilNW). Zu diesem „Wesen“ gehören div

46;ren diverse Bundeswehreinheiten, die weltweit geheime Informationsgewinnung, -verarbeitung und -auswertung betreiben. Sie operieren unter anderem mit dem Ziel, mögliche sicherheitsgefährdende Angriffe gegnerischer Kräfte und Staaten zu erkunden und für militärische Sicherheit im In- und Ausland zu sorgen – enge Kooperationen mit Geheimdiensten des Bundes sowie NATO- und EU-Strukturen sind dabei inbegriffen. Aus den Erkenntnissen dieser Aktivitäten und Kooperationen werden Gefahrenanalysen über lokale Bevölkerungen und gegnerische Streitkräfte erstellt sowie militärische Handlungsempfehlungen abgeleitet.Die MilNW-Einheiten hören Handys ab und werben V-Leute anDieses MilNW arbeitet wie klassische Nachrichten- oder Geheimdienste, also vorwiegend mit geheimen Strukturen, Mitteln und Methoden. Auch wenn die Organisation des MilNW nicht in einer eigenen Behörde gebündelt, sondern als Querschnittsaufgabe auf diverse Bundeswehreinheiten verteilt ist, handelt es sich also – neben Bundesverfassungsschutz, Bundesnachrichtendienst und MAD – um einen weiteren, gleichsam den vierten Nachrichtendienst des Bundes.Die MilNW-Einheiten betreiben unter anderem internationale Fernmeldeaufklärung, hören also Funkgeräte und Handys ab, forschen Computer aus, werben Quellen an, also Informant:innen und V-Leute, führen Observationen durch, fertigen und analysieren Drohnen-Aufnahmen und werten Satellitenbilder aus. Die meisten dieser geheimen Aktivitäten greifen tief in die Grund- und Menschenrechte von betroffenen Zivilist:innen und Militärangehörigen sowie deren Kontaktpersonen ein. Auch wenn das MilNW vorwiegend im Ausland „aufklärend“ tätig wird, so beobachten die beteiligten Bundeswehreinheiten auch inländische „Objekte“ – so etwa mit dem Ziel, „gegnerische Propaganda“ frühzeitig zu erkennen sowie Desinformation und Angriffe auf das Militär abzuwehren.„Propaganda Awareness“ gegen das Zentrum für Politische SchönheitTatsächlich sind davon auch bundeswehrkritische Kräfte und Vereinigungen betroffen, wie etwa das Künstlerkollektiv Zentrum für Politische Schönheit, das 2022 monatelang vom MilNW mittels künstlicher Intelligenz ausgeforscht worden sein soll. Das Bundeswehr-Zentrum Operative Kommunikation, das auch „Analysen über die lokale Bevölkerung und gegnerische Streitkräfte“ erstellt, hatte seinerzeit im Rahmen des Pilotprojekts „Propaganda Awareness“ systematisch und automatisiert Informationen in Internet, sozialen Medien und Netzwerken sowie Presseprodukten erfasst, verarbeitet, analysiert. Dabei sollte „gegnerische Propaganda und Desinformation“ frühzeitig erkannt und ausgewertet werden, um Angriffe auf das Militär abwehren zu können.Die damit verbundenen mutmaßlich gravierenden Eingriffe in Persönlichkeitsrechte sowie die Kunst- und Meinungsfreiheit erfolgten, nachdem das Zentrum für Politische Schönheit zuvor mit Kunstaktionen auf Missstände bei der Bundeswehr aufmerksam gemacht hatte. Auch in diesem Zusammenhang ist das Künstlerkollektiv militärisch ins Visier genommen und ausgeforscht worden. Die Ergebnisse mündeten in einer Fallstudie des Bundeswehr-Kommandos Cyber- und Informationsraum mit dem Titel: „Abwehr und Resilienz. Guerilla-Aktion des Zentrum für politische Schönheit“. Darin wird das „Angriffsnarrativ des Gegners“, also der Aktionskünstler:innen, beklagt, die Bundeswehr habe ein „gravierendes Problem mit Rechtsextremismus“ und rechten Netzwerken. Dies könne zur „Verunsicherung der Bevölkerung“ sowie zu einem „Imageschaden und Vertrauensverlust“ führen, so die Studie; hiergegen müsse mit Maßnahmen der „direkten Abwehr“ reagiert werden.Das eigentliche Problem dieses Militärischen Nachrichtenwesens: Seine Aufgaben und Befugnisse sind weder durch ein rechtsstaatlich zustande gekommenes Gesetz legitimiert, reguliert und wirksam begrenzt noch wird seine Arbeit einer speziellen Kontrolle unterzogen, wie sie für die anderen Bundesgeheimdienste geregelt ist. Das heißt auch, dass es keine Vorabkontrolle durch unabhängige Gremien für besonders intensive geheime Eingriffe gibt.Frühere Bundesregierungen meinten, das MilNW braucht keine spezielle GesetzesgrundlageWeder der für die Bundeswehr zuständige Verteidigungsausschuss des Bundestags, noch die/der Wehrbeauftragte oder die Bundesbeauftragte für den Datenschutz können solche speziellen Geheimdienst-Kontrollen ersetzen. Bis zum Antritt der später gescheiterten Ampelkoalition vertraten die früheren Bundesregierungen noch die Auffassung, das MilNW brauche gar keine spezielle Gesetzesgrundlage, weil es „verfassungsunmittelbar“ durch das Grundgesetz abgesichert sei – und zwar über den in Artikel 87a des Grundgesetzes formulierten militärischen Verteidigungsauftrag, der auch dessen nachrichtendienstliche Absicherung umfasse. Doch dies widerspricht dem Legalitätsprinzip des Grundgesetzes, wonach Grundrechtseingriffe durch die öffentliche Gewalt einer klaren gesetzlichen Ermächtigung bedürfen, die auch Bedingungen und Grenzen staatlichen Handelns regelt.So haben wir es tatsächlich mit einem jahrzehntelangen rechtsstaatswidrigen Zustand zu tun, der zu weitgehend gesetzlosen und damit illegalen Grundrechtseingriffen führt, die weit über die Bundesrepublik hinausreichen. Im Kontext von Krisenprozessen und neuen Kriegen, der Ausrufung der „Zeitenwende“ und einer gewaltigen Aufrüstung der Bundeswehr werden die ungeregelten Überwachungsmöglichkeiten des MilNW gegenwärtig enorm ausgeweitet und intensiviert. Schon bislang arbeiten rund 7.000 Bedienstete direkt oder indirekt für dessen Aufklärungsaktivitäten – dies ist mehr Personal, als dem Auslandsgeheimdienst BND zur Verfügung steht, und damit ist das MilNW der größte bundesdeutsche Geheimdienst.Der zweite Schritt der Nachrichtendienst-Reform der Ampelregierung fiel ausIm Koalitionsvertrag der Ampelregierung war übrigens noch eine große Reform des gesamten Nachrichtendienstrechts festgeschrieben. Danach sollten alle Geheimdienste des Bundes auf den Prüfstand, prekäre nachrichtendienstliche Befugnisse an die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung angepasst sowie die externe Kontrolle gestärkt werden. 2023 erfolgte der erste Reformschritt mit der Novellierung des Bundesverfassungsschutz- und des BND-Gesetzes; 2024 sollte der zweite Schritt erfolgen, der mit dem Auseinanderbrechen der Ampelregierung ausfiel.Im neuen Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD ist dazu bislang nichts zu lesen – außer dass Geheimdienste insgesamt mit Geldern aus dem milliardenschweren Sondervermögen noch weiter ausgebaut werden sollen. Es wäre ein Riesenskandal, wenn der noch ausstehende zweite Teil der Reform des Nachrichtendienstrechts nicht so rasch wie möglich dazu genutzt würde, das expandierende Militärische Nachrichtenwesen rechtsstaatlich, also per Gesetz, zu „zähmen“ und effektiv zu kontrollieren. Noch besser wäre es, das MilNW angesichts jahrzehntelanger Gesetzlosigkeit und Illegalität weitgehend abzuschalten, zumal doch MAD und BND ohnehin weite Teile der Arbeitsfelder des MilNW auf gesetzlicher Basis geheimdienstlich beackern und auskundschaften (können).Schließlich geht es in diesem ganzen Zusammenhang um nicht weniger als um das elementare Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes, den Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit, um die unabdingbare Kontrolle von Geheimdienstarbeit sowie um den Schutz von Grund- und Menschenrechten im In- und Ausland. All dies ist im Fall des MilNW verfassungswidrig außer Kraft gesetzt.



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Von Veritatis

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