Nachruf: Marcel Ophüls (1927–2025) hat in seinen Filmen oft alle Formate gesprengt. Ob es um Kriegsverbrechen und Kollaboration in Frankreich ging oder um die deutsche Wiedervereinigung – er fand Wege, Unvorhergesehenes zutage zu fördern


Regisseur Marcel Ophüls (1927–2025)

Foto: gezett/Imago Images


Marcel Ophüls, der am 24. Mai im Alter von 97 Jahren gestorben ist, hat ein beeindruckendes Werk großer Dokumentarfilme hinterlassen, obgleich er viel lieber Spielfilme inszeniert hätte. Doch seine Karriere als Spielfilmregisseur – er ging bei seinem Vater Max Ophüls in die Lehre und assistierte ihm bei dessen Meisterwerk Lola Montez (Frankreich 1955) –, endete, kaum dass sie begonnen hatte. Sein erster Spielfilm Peau de banane (Heißes Pflaster), den er nach einem Roman von Charles Williams geschrieben hatte und der mit Jeanne Moreau, Jean-Paul Belmondo, Gerd Fröbe und Claude Brasseur glänzend besetzt war, erwies sich an der Kinokasse zwar als Erfolg, doch seinen nachfolgenden Film Faites vous jeux, Mesdames (Ab heute wieder Niederschläge

(Ab heute wieder Niederschläge) aus dem Jahr 1965 mit Eddie Constantine in der Hauptrolle wollte niemand sehen.Also nahm Marcel Ophüls Abschied vom Spielfilm und wechselte zum französischen Fernsehen, für das er dokumentarische Magazinbeiträge drehte. Als der Sender um die Maiunruhen 1968 von der Regierung stärker kontrolliert wurde, ging er zum Norddeutschen Rundfunk nach Hamburg. So entstand mit Geld aus der Bundesrepublik und der Schweiz sein erster großer Dokumentarfilm Le Chagrin et la pitié – Chronique d’une ville française sous l’occupation (Das Haus nebenan – Chronik einer französischen Stadt im Kriege).Aus Opportunisten werden KollaborateureDer Film erzählt von Widerstand und Kollaboration in der französischen Stadt Clermont-Ferrand in der Zeit der deutschen Besatzung 1940 bis 1944. Er lebt von den vielen Gesprächen, die der Regisseur in Frankreich und Deutschland mit unbekannten wie bekannten Zeitzeugen führte. Durch die kluge Montage, die sich Zeit für jede Gesprächssituation nimmt, ohne den großen Erzählbogen zu verlieren, entsteht ein besonderes Geschichtspanorama, das die Veränderungen der Menschen in der Besatzungszeit festhält, wie Opportunisten zu Kollaborateuren wurden, und selbst am Verrat noch Geld verdienten, und andere sich als Helden erwiesen, die selbst unter Folter niemanden verrieten.Als internationale Koproduktion entstand 1976 sein nächster großer Dokumentarfilm The Memory of Justice, der ausgehend vom Nürnberger Prozess gegen die Nazis der Frage nach der Verfolgung und Bestrafung von Kriegsverbrechen bis in die Gegenwart der 1970er-Jahre nachging. Bei der Fertigstellung des Films kam es zum Streit zwischen dem Regisseur und seinen Produzenten, die anschließend für das ZDF einen eigenen Film herstellen ließen. Ein Skandal sondergleichen. Zwei Mitarbeiterinnen von Ophüls gelang es aber, das Material aus dem Schneideraum herauszuschmuggeln, so dass er in den USA seine eigene Fassung herstellen konnte, die dann weltweit Beachtung fand.Placeholder image-1The Memory of Justice rekonstruiert die Nürnberger Prozesse, in denen Politiker und Funktionäre des Nazi-Regimes angeklagt worden waren, anhand des Filmmaterials, das im Gerichtssaal aufgenommen wurde und das bislang nur in Ausschnitten bekannt war.Ophüls hatte es in einem US-Archiv entdeckt und die Rechte daran erwerben können. Gleichzeitig untersucht er Kriegsverbrechen, wie sie die Franzosen in Algerien zur Zeit des dortigen Befreiungskampfes und die US-Amerikaner während des Vietnamkriegs begingen. Der sich einstellende Vergleich der Verbrechen nivelliert nicht die Unterschiede, arbeitet aber heraus, wie in bestimmten Situationen so etwas wie Inhumanität erzeugt oder befördert werden.Ein guter Film ist nie zu langWar Le Chagrin et la pitié mit 270 Minuten schon lang, übertraf The Memory of Justice das noch um 8 Minuten. Marcel Ophüls selbst bezeichnete einmal seine Arbeiten als „Filme von epischem Ausmaß“, denn selbst kürzere wie Novembertage (1990), der von den Tagen des Mauerfalls in Berlin erzählt, dauern noch über zwei Stunden. Das allein erhob sie zur Ausnahme sowohl im Kino- wie im Fernsehbetrieb und trug Ophüls manchen Streit mit seinen Auftraggebern ein. Dabei ist die Verwunderung über die Länge auch merkwürdig – als ließen sich die von Ophüls behandelten historischen Themen in ihrer politischen Komplexität in der normierten Längen von 45 Minuten (Fernsehen) oder 90 (Kino) wirklich seriös behandeln.Denn selbst beim mehrfachen Wiedersehen erscheinen die Dokumentarfilme von Marcel Ophüls in Wahrheit nie zu lang. Im Gegenteil: erst die epische Konstruktion ermöglicht so etwas wie ihre Vielstimmigkeit und eine komplexe Montagetechnik, die in weiten Bögen immer wieder auf bestimmte Themen zurückkommt und so einen geschichtlichen Zusammenhang aufscheinen lässt, der sich in schnellen Begriffsbildungen und starken Meinungen nie erfassen lässt.„Episch“ kann man seine Filme auch angesichts ihrer Darstellungsformen nennen. Sie folgen keinem dramatischen Muster. Ophüls verzichtet auf die üblichen Aktstrukturen und auf klassische Wendepunkte. Stattdessen entwickelt er seine Erzählungen aus dem Stoff, den er jeweils bearbeitet. So ähneln manche seiner Arbeiten wie Hotel Terminus einem Reisefilm, als er sich Mitte der 1980er-Jahre auf den Spuren des Nazi-Folterers Klaus Barbie durch Deutschland, Frankreich und Lateinamerika bewegt. Andere wie Novembertage und La chagrin et la pitié ähneln Chroniken dessen, was sich an einem bestimmten Ort – hier Berlin, dort Clermond-Ferrant – in einer bestimmten Zeitspanne – hier wenige Tage, dort mehrere Jahre – ereignete.Spielfilmszenen als ironischer KommentarSo finden fast alle Filme ihre je eigene Form für ihr jeweiliges Thema. Gemeinsam ist ihnen, dass all diese Formen offen sind. Es sind keine hermetischen Darstellungen, sondern sie setzen sich aus vielem zusammen: Beobachtungen, Gesprächen, Deutungen, Zitaten, Paraphrasen, visuellen und akustischen Kommentaren (aber kaum ein Off-Kommentar). Die Offenheit der Form ermöglicht es dem Zuschauer, selbst weiter zu denken, was er sah und hörte. Es ist ein Weiterdenken, ein das Gesehene und Gehörte in die Gegenwart des Sehens/Hörens tragen. Gelegentlich durchaus ein Weiterdenken, das sich von den Intentionen des Regisseurs abwendet und eigene Wege beschreitet. Doktrinär sind seine Filme selbst dort nicht, wo sie entschieden eine besondere Position markieren.Vor allem in den letzten Filmen nahm die visuelle Kommentierung zu, bei der dokumentarische Szenen durch Spielfilmfragmente unterbrochen werden. Das hat oft komische Momente, verrät nebenbei die Faszination des verhinderten Spielfilmregisseurs Ophüls für die klassischen Komödien etwa eines Ernst Lubitsch. Mitunter – das sei eingestanden – gehen die Pointen zu Lasten derjenigen, deren Aussagen er mit den Spielfilmzitaten ironisiert oder persifliert.In seine Gespräche vor der Kamera ging Ophüls als Regisseur seiner selbst. Je nach Situation und Gesprächspartner nahm er eine unterschiedliche Rolle ein. Mal war er ein neugieriger Journalist, mal ein Verhörspezialist, dann wieder ein sympathisierender Zuhörer. Dass ein solches Rollenspiel seelische Kraft kostet, deutet Ophüls in den Filmen selbst an. Unvergessen, wie er in Hotel Terminus die vergebliche Suche nach den Nazis in einem Garten nachstellt. Und in seiner Autobiografie erwähnt er, wie die Dreharbeiten dieses Films in eine große Lebenskrise führten.Der Nazi mit dem KruzifixBei den Gesprächen achtete er auf Details. Als er einen führenden Nazi befragte, stand die Kamera so, dass sie im Hintergrund das Kreuz registrierte, der den einstigen Kriegsverbrecher als gläubigen Menschen zeigte. Er brachte so auch aus Menschen, die sich mit der Interviewsituation bestens auskannten, überraschende Antworten und verblüffende Erkenntnisse hervor. Mitunter – das gestand er offen ein – spekulierte er bereits bei der Aufnahme darauf, dass der Befragte ihm die Chance böte, in das Interview ein Spielfilmzitat einzuschneiden. So erging es selbst Markus Wolf, den Ophüls für Novembertage befragte und der genau jene Bonhomie an den Tag legte, auf die der Regisseur gehofft hatte, die er nun mit einer Szene aus To Be or Not To Be (Sein oder Nichtsein) von Lubitsch kommentierte. Der Grad der Prominenz spielte für Ophüls beim Schnitt seiner Filme keine große Rolle. Er, der sich in seiner Autobiografie Meines Vaters Sohn, die 2015 auf Deutsch erschien, als gewiss nicht uneitler Mensch zeigte, war am Schnittplatz stets ein kühler Kalkulator, der Aussagen nicht nur nach ihrem sachlichen Gehalt, sondern auch nach der Kraft der Persönlichkeit bemaß, die in dem Geäußerten spürbar wurde. So wurden viele Unbekannte zu heimlichen Helden seiner Filme wie die Brüder Grave in Le chagrin et la pitié, die als Bauern sich der Resistance anschlossen, oder wie Simone Lagrange in Hotel Terminus, die als Kind im Vernichtungslager Auschwitz das Wachstum einstellte.Dass er mitunter den Lügen eines Befragten glaubte, gestand er in seiner Autobiografie, aber auch gelegentlich in den Artikeln, die er publizierte, ein. (Ein Teil dieser Texte erschien 1997 unter dem Titel Widerreden und andere Liebeserklärungen auf Deutsch.) So gab er zu, dass er der Selbstdarstellung von Albert Speer in The Memory of Justice glaubte, er hätte vom Massenmord an den europäischen Juden nichts gewusst. Immerhin, und das zeigt seine Cleverness, schnitt er an die Aussage von Speer die des Politikwissenschaftlers Daniel Ellsberg, der sagte, der ehemalige Nazi würde immer nur das gestehen, was ihm nütze. Speer war nicht zuletzt mit dieser Strategie um die Todesstrafe herumgekommen. Ellsberg ist im Film, weil er 1971 geheime Pentagon-Papiere veröffentlicht hatte, in denen die Lügen offenkundig wurden, mit denen die Regierung der USA die Bevölkerung über den Vietnamkrieg getäuscht hatte. Marcel Ophüls war ein streitbarer MannDie Vielzahl der Zeitzeugen, die jeweils in einem ihnen gemäßen Interieur befragt wurden, führt dazu, dass die Abspänne von Ophüls‘ Filmen äußerst lang sind. Die vielen Stimmen fügen sich anders als etwa in den Dokumentarfilmen von Eberhard Fechner aber nicht zu einem Chor. Man hört bei Ophüls stets Einzelstimmen, die eindeutig bestimmten Individuen mit einer bestimmten Geschichte zugeordnet sind. Deshalb ging die Kritik, wie sie etwa in Frankreich Ende der 1960er-Jahre zu La chagrin et la pitiè laut wurde, dass hier pauschal die Franzosen als Kollaborateure erschienen, am Film vollkommen vorbei. Kollektive gibt es bei Marcel Ophüls nicht, selbst die Nazis lassen sich unterscheiden – in antisemitische Feingeister, in kühl planende Strategen des Massenmords, in Schläger und Folterer. Marcel Ophüls war ein streitbarer Mensch, was er in seiner Autobiografie auch zugibt. Er, der im persönlichen Gespräch stets zugewandt war, der sich Zeit nahm für Fragen zu seinen Filmen und der mitunter diese schärfer kritisierte als die Kritiker, konnte sich selbst mit besten Freunden so zerstreiten, dass sie die Kommunikation abbrachen. Die Qualität seiner Filme schmälert das nicht. Und die Auseinandersetzungen mit Produzenten und Redaktionen sind als Ausweis der Anstrengung eines Regisseurs zu sehen, der sich selbst, aber auch allen anderen sehr viel abverlangte.



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Von Veritatis

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