Es gibt Wahrheiten, die in Deutschland nicht ausgesprochen werden dürfen – weil sie als unfein gelten, als unsozial oder als politisch gefährlich. Eine davon ist: Wir haben längst eine Zwei-Klassen-Medizin. Und die wird jetzt auch noch zementiert. Denn was die Koalition plant, ist nicht weniger als die Einführung digitaler Fußfesseln für Kassenpatienten: Wer gesetzlich versichert ist, soll künftig nicht mehr selbst entscheiden dürfen, zu welchem Facharzt er geht. Der erste Gang hat zum Hausarzt zu führen – nur mit Überweisung geht es weiter. Wer das umgehen will, muss privat versichert sein. Oder zahlen.
Es ist ein Schritt mit Signalwirkung: Der freie Zugang zur Gesundheitsversorgung und die freie Arztwahl werden zur Klassenfrage. Und ausgerechnet die, die sich bisher verantwortungsvoll verhalten haben, werden nun in Sippenhaft genommen. Denn eines der größten Missverständnisse in der Debatte ist die Annahme, das System würde allein an Ärztemangel oder Budgetgrenzen leiden. Die Wahrheit ist unbequemer – und doppelt tabuisiert.
Erstes Tabu: Die Zwei-Klassen-Medizin ist real. Wer privat versichert ist, bekommt schneller Termine, wird zuvorkommender behandelt und hat mehr Optionen. Das war nie wirklich anders – aber nun wird die Ungleichbehandlung noch einmal verschärft.
Zweites Tabu: Unser Gesundheitssystem leidet nicht nur unter Ressourcenknappheit, sondern massiv unter strukturellem Missbrauch. Hausärzte berichten mir von Patienten, die ohne Befund Woche für Woche mit neuen Beschwerden kommen, von Facharzt zu Facharzt hopsen, sich parallel mehrere Meinungen einholen, ihre Ansprüche im Internet generieren. Und dabei keinerlei Scheu haben, das System maximal zu belasten. Besonders häufig, so sagen es die Ärzte hinter vorgehaltener Hand, seien es Patienten mit Migrationshintergrund, mit fehlendem Sprachverständnis und einer vollkommen anderen Vorstellung von Solidarität und Systemgrenzen.
Genau für solche Fälle wäre eine gezielte Steuerung tatsächlich sinnvoll – aber was passiert stattdessen? Die Gießkanne wird ausgepackt. Nicht die Simulanten und Ausnutzer werden gestoppt, sondern das ganze Kollektiv wird reglementiert. Aus Mangel an Mut zur Differenzierung werden nun alle zwangsverwaltet. Und das Resultat: Die vielen vernünftigen, bescheidenen Patienten, die bisher Rücksicht genommen haben, werden gleich mit gegängelt.
Ein befreundeter Arzt brachte es bitter auf den Punkt: „Wir strafen die Falschen. Wer früher das System überfordert hat, der wird auch jetzt weitermachen – und wer sich früher zurückgehalten hat, steht jetzt im bürokratischen Abseits.“
Das Krude daran: Es ist die logische Folge eines Systems, das auf Eigenverantwortung ausgelegt war – und damit auf eine Gesellschaft, in der Gemeinsinn und Maßhalten noch als selbstverständlich galten. Doch dieses Fundament gibt es in dieser Form nicht mehr. Der kulturelle Wandel hat die Spielregeln verändert – aber das System blieb naiv. Was in einer weitgehend homogenen Gesellschaft mit gemeinsamen Vorstellungen von Maß und Miteinander funktionierte, bricht in einer Republik der offenen Scheunentore zusammen. Es wurde geöffnet, ohne Schutzmechanismen. Solidarität wird noch als selbstverständlich vorausgesetzt – obwohl sie das längst nicht mehr ist. Und jetzt muss man nachträglich einhegen, was nie für den Dauerstress einer schrankenlosen Anspruchsgesellschaft gedacht war.
So funktioniert es eben nicht: Ein System, das auf Vertrauen basiert, bricht zusammen, wenn dieses Vertrauen zur Ausbeutung einlädt. Ein System, das aus Rücksicht lebt, versagt, wenn Rücksichtslosigkeit belohnt wird. Und ein Staat, der das nicht benennen darf, reagiert mit Technokratie – statt mit Klartext.
Die geplante Hausarztpflicht ist deshalb mehr als nur ein Verwaltungsvorgang. Sie ist ein Symptom der Kapitulation. Nicht vor dem Ärztemangel. Sondern vor einer Gesellschaft, in der das Verantwortungsgefühl verdunstet – und das Aussprechen der Wahrheit als größeres Sakrileg gilt als deren Verdrängung.
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