Von Friedrich Merz, über Gerhard Schröder bis zur SPD der 1970er: Immer wieder packen Politiker die Moralkeule gegen vermeintlich Faule oder Arbeitsunwillige aus. Warum es sich dabei um ein politisches Werkzeug und keinen Zufall handelt


Schuld ist natürlich nicht das kapitalistische Wirtschaftssystem – schuld sind die Arbeitslosen selbst

Foto: Spauln/Getty Images


Seit Monaten ist aus CDU-Reihen immer wieder zu hören: Menschen in Deutschland arbeiteten zu wenig. „Wir müssen in diesem Land wieder mehr und vor allem effizienter arbeiten“, sagte Friedrich Merz. Carsten Linnemann sprang ihm bei: Man habe beim Thema Work-Life-Balance manchmal den Eindruck, es gehe um Life-Life-Balance.

Diese Debatte hatte den Wahlkampf bereits dominiert. Die wenigen Monate nach der Wahl zeigen: Die Union wird die Diskussion weiter befeuern. Was Unionspolitiker damit bewirken könnten, zeigt ein Blick in die Geschichte über die mediale Figur des faulen Arbeitslosen in der Bundesrepublik.

Der Nachkriegsfordismus in der Krise

Die Vorstellung, dass Arbeitslose selbst schuld seien an ihrer Lage, wurde im Sommer 1975 durch den sozialdemokratischen A

, zeigt ein Blick in die Geschichte über die mediale Figur des faulen Arbeitslosen in der Bundesrepublik.Der Nachkriegsfordismus in der KriseDie Vorstellung, dass Arbeitslose selbst schuld seien an ihrer Lage, wurde im Sommer 1975 durch den sozialdemokratischen Arbeitsminister Walter Arendt reaktiviert, als die Zahl der Arbeitslosen zum ersten Mal seit den 1950er Jahren die symbolisch aufgeladene Marke von einer Million überstieg. Nach Jahren der Vollbeschäftigung und des Wachstums geriet der fordistische Nachkriegskapitalismus in eine Krise.Schuld war aus Sicht des SPD-Politikers natürlich nicht das kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das immer wieder konjunkturelle und strukturelle Krisen hervorbringt – schuld waren die Arbeitslosen selbst.Immer wenn Regierungen ein bis zwei Jahre vor der Wahl stehen und die Konjunktur lahmt, wird die Alarmglocke ‚Faulheitsverdacht!‘ geläutetWie politisch funktional diese Moralisierung im Alltagsbewusstsein verankert ist, zeigte 2001 die Studie „Faule Arbeitslose?“ des Wissenschaftszentrums Berlin (WZB). Das WZB untersuchte Faulheitsdebatten nach wiederkehrenden Mustern.Das Ergebnis: Es gibt einen „arbeitsmarktpolitischen Reflex-Automatismus“, den Regierende gezielt aktivieren. In der Studie heißt es: „Immer wenn Regierungen ein bis zwei Jahre vor der Wahl stehen und die Konjunktur lahmt, wird die Alarmglocke ‚Faulheitsverdacht!‘ geläutet, auch wenn es keine objektiven Anhaltspunkte dafür gibt, dass die Arbeitslosen fauler geworden sind.“Begleitmusik zur Hartz-KommissionDas galt auch für das Jahr 2001. Gerhard Schröder war drei Jahre zuvor unter anderem mit dem Versprechen, die Arbeitslosigkeit zu senken, Kanzler geworden und stand damit an der Spitze der nominell linkesten Regierung, die es je in diesem Land gab. Spätestens im Frühjahr 2001 war klar, dass dieses Wahlversprechen kaum erreichbar war. Der „Medienkanzler“ Schröder wusste sich in der misslichen Lage zu helfen und verkündete in der Bild, der Speerspitze ressentimentbedienenden Journalismus, die berühmte Lösung: „Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft.“ Das war mehr als ein bloßes Ablenkungsmanöver vom eigenen Scheitern, wie der weitere Verlauf dessen, was durch dieses Interview angestoßen wurde, deutlich zeigt.Das war mehr als ein bloßes Ablenkungsmanöver vom eigenen ScheiternDie Debatte, die Schröders Aussage auslöste, dominierte die arbeitsmarktpolitische Diskussion der folgenden Wochen. Der damalige Arbeitsminister Walter Riester kündigte an, die Arbeitslosenhilfe mit der Sozialhilfe zusammenzulegen. Der Weg für die Hartz-Kommission war bereitet.Wie bekannt, trieb diese Kommission einen fundamentalen Umbau des Sozialstaats voran. Durch den Fokus auf die „Aktivierung“ der Erwerbslosen gossen die Hartz-Reformen das Erklärungsmuster, Arbeitslose seien selbst schuld, in Gesetzesform. Die Zumutbarkeitsregeln wurden verschärft, der Druck, irgendeinen Job anzunehmen stieg, egal, wie schlecht bezahlt dieser auch ist. Der damit verbundene, ausdrücklich erwünschte Ausbau des Niedriglohnsektors erfreute vor allem die Unternehmen. Für die breite Bevölkerung jedoch waren die Reformen kein Segen.Mehr Arbeit, aber trotzdem armDie Forschungsstelle des Paritätischen Wohlfahrtsverbands weist in ihren Armutsberichten immer wieder auf eine bemerkenswerte Entwicklung seit 2005 hin: Die Erwerbslosenquote ist von 11,3 Prozent im Jahr 2005 auf 3,9 Prozent im Jahr 2023 gesunken, hat sich also mehr als halbiert. Gleichzeitig ist der Anteil der Menschen mit SGB-II-Bezug kaum zurückgegangen: von etwas über zehn Prozent im Jahr 2006 auf 8,3 Prozent im Jahr 2023.Die Armutsquote blieb praktisch unverändert: Sie liegt aktuell wie Ende der 2000er Jahre bei etwas über 15 ProzentUnd auch die Armutsquote blieb praktisch unverändert: Sie liegt aktuell wie Ende der 2000er Jahre bei etwas über 15 Prozent. Das zeigt: Die Menschen arbeiten zwar mehr, sie sind genauso arm wie zuvor und weiterhin auf ähnlichem Niveau auf Sozialleistungen angewiesen.Wenn nun Friedrich Merz und Co an die Leistungsbereitschaft der Bevölkerung appellieren, dann geht es genau darum: Die Leute sollen schleunigst mehr arbeiten – aber nicht, damit es ihnen besser geht.Lexikon der LeistungsgesellschaftPlaceholder image-1Sebastian Friedrich ist Autor und Journalist aus Hamburg. In der Kolumne „Lexikon der Leistungsgesellschaft“ beschäftigt er sich seit 2013 mit den Ideologien des Alltags.



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Von Veritatis

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