Wie uns antike Dramen helfen können, die Gegenwart zu verstehen und warum uns die Verbohrtheit von „Antigone“ ein Vorbild sein sollte


Antigone ist und bleibt relevant

Foto: Imago Images


Ihre Existenz rechtfertigen die Wissenschaften damit, dass sie für die Probleme der Menschheit Lösungen anbieten. Impfungen, Katalysatoren, Brücken, Spaceshuttle, Induktionsherd et cetera. Die Manie, den eigenen Erfolg auf diese Weise zu messen, lässt selbst die Philosophie nicht kalt, die sich bei solchen Trends ja sonst auf ihre Erhabenheit beruft. Doch auch sie hat nun angefangen, nach Lösungen für Menschheitsprobleme zu suchen, gegen den wieder erstarkenden Autoritarismus, den Zusammenbruch der liberalen Werteordnung, den menschengemachten Klimawandel. Bisher allerdings ohne Erfolg.

„Beginnen wir mit der naheliegendsten Frage: Wie kann uns die Lektüre von Antigone bei der Bewältigung heutiger Probleme, etwa der Klimakrise, helfen? Sie kann uns überhaupt nicht helfen.“ Das schreibt der slowenische Philosoph Gregor Moder gleich zu Beginn seines Essays über die antike Heldin (Turi + Kant, 169 S., 22 Euro). Warum sich also ausgerechnet mit einem 2.500 Jahre alten Familiendrama beschäftigen? Den meisten von uns fehlt ja schon die Zeit, sich mit dem eigenen auseinanderzusetzen.

Antigone ist, wie wir, in eine Polykrise verstrickt. Das geht damit los, dass ihr Vater auch ihr Bruder ist und ihre Mutter zugleich ihre Großmutter, aber beide sind schon tot. Dann hatte Antigone aber auch noch zwei andere Brüder, die sich im Streit um den Thron von Theben gegenseitig erschlagen haben – Familie halt. An die Macht kommt nun ihr Onkel Kreon, der nicht den geringsten Schimmer von Regierungskunst hat (insofern ist er also mit Friedrich Merz vergleichbar). Dieser verbietet, dass einer der beiden Brüder beerdigt werden soll. Antigone tut es trotzdem und wird dafür zum Tod verurteilt. Dafür ist sie verbohrt, individualistisch, gar unvernünftig genannt worden.

Das Szenario ist nicht unbedingt lebensnah. Warum also diesen Stoff heute wieder vorkramen? Gregor Moder gibt folgende Antwort: „Die Menschheit ist in eine Situation geraten, in der sie sich entweder neu erfinden oder untergehen muss, und diese Aufgabe ist eng mit Antigone verbunden.“

Warum? Weil wir uns anhand von Antigone ein fundamentales Paradox der Freiheit vor Augen führen können. Eigentlich wissen wir, was zu tun ist, aber es ist zugleich unsere individuelle Freiheit, die es uns verunmöglicht, gemeinsam als Menschheit zu agieren. Die Ironie in unserer Situation liegt darin, dass es unsere eigene Rationalität ist, die uns in diese missliche Lage gebracht hat. Nicht, weil etwas schiefgelaufen ist, sondern weil alles funktioniert hat, die Dampfmaschine, das Auto, der Induktionsherd, sogar das Spaceshuttle.

Antigone dagegen agiert tatsächlich irrational, verbohrt und so weiter und sie bringt dadurch ein ganzes sittliches System zu Fall. Vielleicht liegt also die Lehre, die wir aus der Beschäftigung mit ihr ziehen können, dass es gerade nicht unsere Fähigkeit zum rationalen Handeln ist, die uns aus dieser Krise herausholen wird, sondern unsere Fähigkeit, verbohrt, engstirnig, ja dickköpfig an unserer eigenen Freiheit festzuhalten. Gerade das Diktat der ewigen Vernunft zu hinterfragen und entgegen allen Dringlichkeiten wieder die Klassiker zu studieren und uns so gegen den Sinn selbst aufzulehnen. Aber Moment, jetzt, wo ich das ausgesprochen habe, erscheint mir das selbst recht sinnlos.



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Von Veritatis

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