„Anfang der 1930er-Jahre verelendete und radikalisierte sich die Mittelschicht in Los Angeles wirklich, und zwar in jeder Hinsicht mehr als irgendwo sonst in den USA. Der lange Boom in Südkalifornien hatte sich aus Mittelschichtsersparnissen gespeist und war in Immobilien- und Ölspekulationen kanalisiert worden. Das bedeutete für die meisten der ehemaligen Farmer, kleinen Geschäftsleute und Kleinspekulanten einen Teufelskreis von Krise und Bankrott. Und da es keine Schwerindustrie gab (und Zehntausende von arbeitslosen Arbeitern zurück nach Mexiko abgeschoben wurden), war die Mittelschicht in Los Angeles tatsächlich Bühne und Verstärker der Depression, was einen bisweilen bizarren politischen Gärungsprozess auslöste.“ Diese Zeilen schrieb Mike Davis – Anfang der 1990er-Jahre – in seinem bahnbrechenden Buch über Los Angeles „City of Quartz“. Ein Buch und ein Thema, die angesichts der sich aktuell ausweitenden Proteste wieder neue Relevanz erlangen. Von Ramon Schack.

Mit „City of Quartz“ wurde sein Autor schlagartig berühmt, hatte er doch geradezu hellsichtig die gesellschaftlichen Verwerfungen analysiert, die unmittelbar danach in den Rodney-King-Riots von 1992 explodieren sollten. Davis, der seiner Geburtsstadt mit einer Hassliebe verbunden war, kombinierte in seinem Klassiker die analytische Schärfe einer marxistisch geschulten politischen Ökonomie mit der Spannung eines Thrillers, flankiert von klassenkämpferischer Leidenschaft.

Los Angeles: Aufstieg und Fall

Davis, Jahrgang 1946, wuchs in den Boom-Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg auf, als der Großraum Los Angeles von Einwanderern aus dem In- und Ausland überrannt wurde. Dieser Boom schwächte sich in den 1970er-Jahren ab. Weitere Zuwächse gab es nun weniger in der Stadt, dafür im Umland, basierend auf dem Prozess der Suburbanisierung der Region. Was das Alleinstellungsmerkmal an der Entwicklung von Los Angeles angeht, so besteht dies nicht nur in der Tatsache, dass der Großraum sich zu einer Megacity entwickelte, sondern dass dieses massive Wachstum auch nach 1960 nicht nachließ. LA avancierte zur letzten boomenden Megacity der voll industrialisierten westlichen Welt, wo weder in den USA noch in Europa ein solches Wachstum stattfand – natürlich ganz im Gegensatz zu den Städten außerhalb der westlichen Welt.

Dieses Los Angeles repräsentierte für Mike Davis den Prototyp der kapitalistischen Metropole, die zunehmend dystopische Züge annimmt: die Strategien der „developers“; die Privatisierung des öffentlichen Raums, die mit Überwachung, Festungsarchitektur und Sicherheitsparanoia einhergeht; die sozioökonomisch fundierte ethnische Segregation der Stadt, die Davis als „räumliche Apartheid“ brandmarkt; eine Bewegung der Eigenheimbesitzer, die sich gegen Spekulanten formieren und zugleich einer beschränkten „Not in my backyard“-Mentalität (im Englischen kurz ‚nimby‘) frönen; ein rassistisches Polizeidepartment, das einen blutigen Krieg gegen die schwarze und Chicano-Jugend führt; Gang-Gewalt, in der die Unterschicht sich nur zu oft gegenseitig bekämpft; und die Mittelschichten, die sich immer weiter nach rechts radikalisieren.

Im Zentrum, der Downtown von Los Angeles, kam es ab den 1970er-Jahren zu einer urbanen Neugestaltung, zu einem Hochhausboom, der bis in die 1980er-Jahre anhielt. Die 1980er-Jahre, in denen die Stadt ein zweites Mal die Olympischen Sommerspiele ausrichten durfte (allerdings bewarb sich für die Spiele seinerzeit auch keine andere Stadt, weil es ein sehr unsicheres finanzielles Unterfangen war, weshalb man bei den Spielen von 1984 erstmals massiv auf eine Kommerzialisierung des Ereignisses abzielte), waren geprägt von einem weiteren wirtschaftlichen Aufschwung, obschon Arbeitsplätze in der Industrie im Niedergang waren.

Little Seoul und Teherangeles

Es verstärkte sich der Trend der Separierung zwischen einem gut bezahlten und hoch qualifizierten Arbeitsmarkt und der explosionsartig anwachsenden Gruppe von Niedriglohnjobs, welche häufig von Mexikanern, insbesondere sogenannten „Illegalen“ ausgeübt wurden.

Der Roman „America“ von T. C. Boyle berichtet eindrucksvoll vom Leben in LA in den 1990er-Jahren, von der illegalen Einwanderung und Migration. Sicherlich ist die Migrationswelle in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch vielfältiger geworden als je zuvor und macht Los Angeles heute zu einer der ethnisch vielfältigsten Metropolen der Welt.

Nirgendwo auf der Welt leben aber, mit Ausnahme des Mutterlandes, so viele Iraner wie in Südkalifornien und insbesondere in Los Angeles. Die iranische Diaspora dort gehört zu einer der erfolgreichsten der Welt, und Los Angeles – im Volksmund „Teherangeles“ genannt – ist ihre heimliche Hauptstadt. Allein im Stadtteil Beverly Hills sind 20 Prozent der Einwohner iranischer Herkunft.

Um 1970 waren noch 70 Prozent der Einwohner der Metropole angelsächsischer Herkunft, während 1990 bereits 60 Prozent nicht-angelsächsischer Herkunft waren. Hierbei spielt gleichfalls die Zuwanderung aus Asien eine Rolle, die rund zehn Prozent der Einwohner im LA County stellen, während in den letzten Jahrzehnten aber eine Re-Latinisierung stattgefunden hat.

Es ist daher kein Wunder, dass die Vorgehensweise der Trump-Administration dort auf Widerstand stößt. Nicht, weil unter der Sonne Südkaliforniens ein Multikulti-Paradies entstanden ist – die Stadt gehört zu den ethnisch am meisten fragmentierten Städten der Welt –, sondern aufgrund der Herkunft der meisten Migranten, der Nähe zum Mutterland und der Tatsache, dass diese Stadt einst zu diesem Mutterland der meisten Einwanderer gehörte. Los Angeles gehörte bis 1848 zu Mexiko und ging im Zuge des Mexiko-Krieges in den Besitz der USA über, ebenso wie der ganze Südwesten des heutigen Imperiums.

Machtkampf zwischen Trump und Gouverneur Newsom

Nach tagelangen Protesten gegen die Migrationspolitik von US-Präsident Donald Trump ist über die Innenstadt von Los Angeles eine nächtliche Ausgangssperre verhängt worden. Ein politischer Machtkampf um die Demonstrationen verschärft sich, der Ton zwischen Trump und Kaliforniens Gouverneur Gavin Newsom wird rau. Die Marines zu schicken, das seien Fantasien eines Diktators, sagte dieser in die Fernsehkameras. Trump solle stattdessen lieber die Nationalgarde wieder abziehen: „Wenn du Präsident sein willst, dann handle auch so. Oder tu wenigstens so, als wärst Du der Präsident. Tritt zurück, und wir räumen auf.“

Newsoms Zeit als Gouverneur geht 2026 zu Ende. Für die Wahl 2028 könnte er sich als Präsidentschaftskandidat der Demokraten bewerben. Los Angeles fungiert zurzeit als Kulisse für diesen eskalierenden Machtkampf zwischen dem Bundesstaat Kalifornien und dem Weißen Haus.

Titelbild: Josiah True / shutterstock.com



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Von Veritatis

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