Im aktuellen Verfassungsschutzbericht wird erstmals in der Geschichte der BRD eine Gruppierung von in Deutschland lebenden Juden, die „Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost“ als „auslandsbezogener Extremismus“ gelistet und als „gesichert extremistische Bestrebung“ eingestuft. Begründet wird dies damit, dass die Gruppierung BDS unterstütze und von einer „behaupteten israelischen Apartheid“ spreche. Die NachDenkSeiten wollten vor diesem Hintergrund wissen, wie das Innenministerium (BMI), welches die Dienst- sowie Fachaufsicht über den Verfassungsschutz (BfV) innehat, es bewertet, dass der deutsche Inlandsgeheimdienst erstmals seit über 80 Jahren eine jüdische Organisation, die sich für Frieden in Nahost einsetzt, als „extremistisch“ bewertet, und ob Innenminister Dobrindt tatsächlich die jüdische Gruppierung als „Demokratiefeinde“ bezeichnet. Von Florian Warweg.
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Hintergrund
Am 10. Juni stellten Bundesinnenminister Alexander Dobrindt und BfV-Vizepräsident Sinan Selen den sogenannten Verfassungsschutzbericht 2024 der Öffentlichkeit vor. Darin wird erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ein jüdischer Verein, die „Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost e.V.“ in die Kategorie „AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS“ sowie die Unterkategorie „säkularer propalästinensischer Extremismus“ eingeordnet und als „gesichert extremistische Bestrebung“ bewertet. Die Begründung? Der Verein, so die Verfasser vom BfV, agiere „israelfeindlich“ und bediene sich dabei „auch antisemitischer Narrative“. Wir halten fest, deutsche Inlandsgeheimdienstler werfen im Jahre 2025 in Deutschland lebenden Juden vor, „antisemitisch“ zu agieren. Ein ganz schlechter Treppenwitz… Doch es geht noch weiter.
Anschließend wird im Verfassungsschutzbericht die Begründung für die Bewertung als „extremistisch“ ausgeführt:
„Nach dem Terrorangriff der HAMAS auf Israel am 7. Oktober 2023 beteiligten sich BDS-nahe beziehungsweise die Bewegung und ihre Forderungen unterstützende Gruppierungen vielfach an israelfeindlichen Versammlungen. Ferner intensivierten sie ihre Forderungen nach dem Ende einer behaupteten „israelischen Apartheid“ sowie die Aufrufe zum Boykott von Unternehmen und Waren mit Bezug zu Israel. Einige dieser Gruppierungen werden nun als gesichert extremistische Bestrebungen bewertet. Dies ist das Ergebnis und der Abschluss der zuvor erfolgten Bearbeitung der Bewegung BDS als Verdachtsfall. Zu nennen sind hierbei (…) die Gruppierung „Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost e.V.“ („Jüdische Stimme“). Die „Jüdische Stimme“ ist eine Sektion der Föderation European Jews for a Just Peace (EJJP) und besteht seit 2007 in Deutschland.“
Eine jüdische Organisation wird also in Deutschland vom Verfassungsschutz als „gesichert extremistische Bestrebung“ bewertet, weil sie Israel, im Einklang mit den führenden westlichen Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International (siehe beispielsweise den AI-Bericht von 2022 „Israels Apartheid gegen Palästinenser“) und Human Rights Watch, als „Apartheidsstaat“ bewertet und in diesem Zusammenhang das zivilgesellschaftliche Instrument BDS unterstützt.
Innenminister Dobrindt erklärte in diesem Zusammenhang bei der Vorstellung des Berichts zudem die Mitglieder der „Jüdischen Stimme“ mindestens indirekt zu „Demokratiefeinden“:
„Die verfassungsmäßige Ordnung Deutschlands ist fast täglich Angriffen ausgesetzt. Extremisten stellen das Existenzrecht Israels in Frage und rufen zur Gewalt gegen Juden und Jüdinnen in unserem Land auf. (…) Wir wehren uns mit allen Mitteln gegen die Feinde unserer Demokratie: Unsere Sicherheitsbehörden sind wachsam. Sie arbeiten Tag und Nacht daran, um unsere Sicherheit und unsere Freiheit zu schützen. Mein Dank gilt allen, die sich täglich im Bund und im Land für den Schutz unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung einsetzen und dafür arbeiten diese Angriffe abzuwehren. Der Verfassungsschutz ist unverzichtbar als effektives Frühwarnsystem und wichtiger Schutzwall gegen Demokratiefeinde aller Art.“
Die „Jüdische Stimme“ hat mittlerweile auf die Einstufung als „gesichert extremistisch“ reagiert und eine Stellungnahme veröffentlicht:
Stellungnahme: Zur Einstufung der Jüdischen Stimme und BDS als „gesichert extremistisch“ durch den Verfassungsschutzhttps://t.co/3eAjedPjgA pic.twitter.com/6Cvc73Aeb7
— Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost (@JSNahost) June 11, 2025
Darin erklärt der Verein unter anderem:
„Wer für die Rechte der Palästinenser kämpft, für Gerechtigkeit und Gleichheit, wird von den Behörden verfolgt. Es ist nur konsequent: In einem Staat, der den Genozid in Gaza und das ganze System der Apartheid, Unterdrückung und Vertreibung im gesamten Gebiet des historischen Palästina materiell und politisch mitträgt, ist es per Definition staatsfeindlich, eine solche Position einzunehmen. Der deutsche Staat missachtet offen das Völkerrecht und spricht abschätzig vom Internationalen Gerichtshof, der den Vorwurf des Genozids an Israel schon im Januar 2024 als plausibel bezeichnet hat. Die “deutsche Staatsräson”, die Doktrin der bedingungslosen Unterstützung Israels, die inzwischen von 80% der Bevölkerung Deutschlands abgelehnt wird, rechtfertigt alles. Es ist kein Zufall, dass Deutschland zu den allerletzten Staaten gehörte, die sich den Sanktionen gegen Südafrika anschlossen. Genozid und Rassismus haben hier eine mächtige Kontinuität.
Insofern verwundert es nicht, dass diese Staatsräson, auch jüdische Menschen und Vereine treffen kann, obwohl der “Kampf gegen Antisemitismus” zu seinen wichtigsten Waffen gehört. (…) Und wo Judentum durch Zionismus ersetzt wird, können auch Nichtjuden bestimmen, wer als jüdisch gilt. Das hat in Deutschland bekanntlich Tradition.
Somit dürfte klar sein, dass diese Einstufung mehr über den deutschen Staat und seine Handlanger aussagt als über uns und unsere Verbündeten.“
Zudem kündigte der Verein an, rechtliche Schritte zu unternehmen, „um unsere Nennung im Verfassungsschutzbericht rückgängig zu machen“.
Auszug aus dem Wortprotokoll der Regierungspressekonferenz vom 11. Juni 2025
Frage Warweg
Zum Großthema Israel/Gaza in Rückkopplung auf die deutsche Innenpolitik: Im aktuellen Verfassungsschutzbericht wird erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik eine Organisation von in Deutschland lebenden Juden, die „Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost“, als auslandsbezogener Extremismus gelistet und entsprechend als gesichert extremistische Bestrebung gewertet. Begründet wird das damit, dass die Gruppierung BDS unterstütze und von einer behaupteten israelischen Apartheid spreche. Da würde mich interessieren: Was sagt denn das BMI dazu, welches als Ministerium sowohl die Dienst- als auch die Fachaufsicht über das BfV innehat, dass der deutsche Inlandsgeheimdienst erstmals seit über 80 Jahren eine jüdische Organisation, die sich für Frieden in Nahost einsetzt, als extremistisch bewertet?
Dr. Ata (BMI)
Über das hinaus, was im Verfassungsschutzbericht steht, äußern wir uns zu diesen Belangen nicht.
Zusatzfrage Warweg
Innenminister Dobrindt hat bei der Vorstellung des Berichts am 10. Juni erklärt, der Verfassungsschutz sei ein unverzichtbarer Schutzwall gegen Demokratiefeinde aller Art. Gehe ich richtig in der Annahme, dass der deutsche Innenminister damit auch die angesprochene jüdische Gruppierung als Demokratiefeinde bezeichnet hat?
Dr. Ata (BMI)
Ich bleibe bei dem, was ich gesagt habe.
Zusatz Warweg
Sie haben leider sehr wenig gesagt, aber zumindest eine kleine historische Einordnung gegeben.
Titelbild: Screenshot NachDenkSeiten, Bundespressekonferenz 11.06.2025