Der israelische Schriftsteller Eshkol Nevo führt seit dem 7. Oktober 2023 ein Kriegstagebuch. Diesmal erzählt er von Erlernter Hilflosigkeit und einer neuen Liebe, während die Nachbarschaft im Schutzraum zusammensitzt


Tel Aviv, 15. Juni 2025: Eine Frau verschafft ihrem Baby etwas Kühlung in einem Parkhaus, das als Schutzraum dient

Foto: Baz Rather/Picture Alliance


Man nennt es Erlernte Hilflosigkeit. Wir haben das im Bachelorstudium Psychologie gelernt. Und der Begriff kommt mir jetzt in den Kopf, während wir das dritte Mal in derselben Nacht in den Schutzraum rennen. Sie haben Mäusen Stromschläge gegeben. Mäusen oder auch Hunden. Ein psychologisches Experiment. Etwas Grausames, das heute durch keine Ethikkommission mehr käme.

Sie gaben ihnen Stromschläge und brachten ihnen bei, dass es keinen Zusammenhang gibt zwischen ihren Versuchen, den Stromschlag zu vermeiden und dem, was ihnen de facto widerfährt. Die Schläge wurden ihnen willkürlich versetzt. Zufällig. Und nach und nach versanken die Mäuse oder die Hunde in Apathie. In Depression. Wenn es keinen Zusammenhang zwischen Handeln und Konsequen

g zwischen Handeln und Konsequenz gibt, welche Bedeutung hat dann noch der eigene, freie Wille?Also rennen wir in den Schutzraum. Wie auf Autopilot. Im Schutzraum drängen sich alle Nachbarn zusammen. Ein Gebäude mit vier Stockwerken, zwei Wohnungen pro Etage. Insgesamt acht Familien. Und ein wunderschönes Baby, das ununterbrochen weint. Bei den früheren Raketenalarmen, bevor der Krieg mit dem Iran begonnen hatte, machten die Leute noch Witze im Schutzraum. Jetzt sind alle still. In sich gekehrt. Auf den Nachrichtenseiten Bilder von einstürzenden Gebäuden. Und auch unser Haus könnte eines davon sein. Mit neuer Schärfe fragen wir uns: Mit wem wollen wir den Rest unseres Lebens verbringen?Im Schutzraum gibt es wenige Stühle, also sitzen eher die älteren Menschen auf ihnen. Die Kinder und die Jugendlichen sitzen oder liegen auf Matratzen auf dem Boden. Warten auf die Benachrichtigung, dass man den Schutzraum wieder verlassen darf. Es kann zehn Minuten dauern, es kann aber auch mehrere Stunden dauern. Man kann es nie wissen. Und man kann auch nie wissen, wann der nächste Raketenalarm kommt. Man muss sich der Ungewissheit hingeben – um nicht zu sagen: ergeben. Und an dem festhalten, was gewiss ist.Zum Beispiel unsere Liebe. Ihre und meine. Ein Krieg ist ein Teilchenbeschleuniger. Er bringt dich dazu, dich mit neuer Schärfe zu fragen, mit wem du den Rest deines Lebens verbringen willst. Er brachte mich dazu, mich von meiner früheren Partnerin zu trennen. Und brachte sie dazu, sich von ihrem früheren Partner zu trennen. Und dann erhoben wir uns, aus den Trümmern unserer Leben, und fanden einander. Und sahen, dass es gut war. Und sahen, dass es unglaublich gut war. Wir schlafen beieinander, eng umschlungen, als der Beschuss aus dem Iran Ende vergangener Woche beginnt.Wir gehen Hand in Hand hinunter in den Schutzraum. Wir halten uns eng aneinander fest, im Schutzraum, streicheln einander, sind aufgeregt. Der erste Krisenmoment, den wir gemeinsam als Paar durchleben. Ein wichtiger, dramatischer Teil unserer kurzen gemeinsamen Geschichte wird gerade jetzt geschrieben. Und das Leben, das Leben wird uns plötzlich so unendlich kostbar.Los, drängt sie mich, während ich zu langsam in den Schutzraum hinuntergehe. Jetzt wo wir uns gefunden haben, sollen wir das einfach wieder verlieren?Darüber berichten sie nicht den in NachrichtensendungenJa, auch das geschieht im Krieg. Das Wunder der Liebe. Darüber berichten sie nicht in den Nachrichtensendungen. Und die Analysten müssen auch keine Antworten liefern auf die Frage – Warum gerade jetzt? Aber es ist uns widerfahren. Und nicht nur uns. Mehrere Liebespaare sind im vergangenen Jahr aus der Asche und dem Staub um uns herum gesprossen. Noch mehr Menschen haben sich zum ersten Mal geküsst, während über ihnen Raketen flogen.Ich erinnere mich an noch etwas aus dem Bachelorstudium: den Streit zwischen den britischen Philosophen Thomas Hobbes und John Locke über die Natur des Menschen. Der Mensch ist von Grund auf schlecht, sagte Hobbes. Der Mensch ist von Natur aus gut, sagte Locke.Der Mensch ist zu Bösem fähig, und der Mensch ist zu Gutem fähig , denke ich jetzt. Der Mensch kann Atombomben bauen, Teilnehmer eines Musikfestivals massakrieren und Gaza in Schutt und Asche bomben. Und der Mensch kann sich bis über beide Ohren verlieben, Flamenco spielen wie Paco de Lucía, eine Sandburg bauen.Die Wahl liegt letztlich bei uns.Noch eine Insel der Gewissheit inmitten des Chaos Nach einem langen gemeinsamen Wochenende kehrt die Frau, die ich liebe, zu ihren Kindern zurück, und meine Töchter kommen zu mir in die Wohnung.Und da ist noch eine Insel der Gewissheit inmitten des Chaos: Sie werden hungrig sein. Man muss sich in die langen Schlangen im Supermarkt stellen und den Kühlschrank füllen, bevor sie kommen. Man muss ihnen ein Mittagessen und ein Abendessen zubereiten. Und manchmal auch einen kleinen Mitternachtssnack. Und auf dem Weg in den Schutzraum, um vier Uhr morgens, muss man im Zimmer der Großen stehen bleiben – die, ganz gleich, wie laut oder schrill die Sirenen sind, einfach weiterschläft, als wäre nichts.Im Schutzraum sind inzwischen ein paar Stühle dazugekommen. Jemand hat ein Damespielbrett mitgebracht. Jemand anderes eine Tafel Schokolade. Sie geht zwischen allen von Hand zu Hand.Das wunderschöne Baby unterdessen weint weiter. Die junge Mutter ist erschöpft, so wie nur frischgebackene Mütter erschöpft sein können. Ihr Mann rührt keinen Finger. Ist in sein Handy versunken.Darf ich sie kurz halten?, fragt meine Große. Ich arbeite in einer Kinderkrippe, fügt sie hinzu, als sie das Zögern der Mutter bemerkt. Ich hab… Erfahrung.Das Baby wandert in die Arme meiner Tochter. Sie wiegt es sanft und singt ihm, zu meiner Überraschung, das Schlaflied vor, das ich ihr vorgesungen habe, als sie selbst ein Baby gewesen war.Beide wissen nicht, dass das Lied ursprünglich ein Fußballfangesang war, bei dem ich die Worte geändert habe.Das Weinen des Babys wird leiser. Dann sehr leise. Dann hört es ganz auf.Der Mensch ist zu Gutem fähig.

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Von Veritatis

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