Seit 1987 erstellen Friedens- und Konfliktforschungsinstitute jährlich ein Friedensgutachten. Auf der Skala des Grauens von Gewaltkonflikten liegt der Krieg in der Ukraine für das Jahr 2025 auf Platz 14. Was uns das aufzeigen sollte


Sudanesinnen versuchen, sich in Sicherheit zu bringen: Renk im Nachbarland Südsudan, nahe der Grenze

Foto: Luis Tato/AFP/Getty Images


Der Mainstream unserer Medienwelt suggeriert, man blicke dem Leid der Menschheit fest ins Auge, wenn man der Ukraine gegen den Aggressor beistehe. Das viel größere Leid im Gazastreifen tritt schon merklich zurück, zumal es nicht ungefährlich ist, allzu wütend zu protestieren. Aber auch wer seiner Wut oder Sorge über diese beiden Krisenherde freien Lauf lässt, bleibt noch gefangen in einer radikalen Verharmlosung des Weltgeschehens. Das macht das unlängst vorgelegte Friedensgutachten 2025 der deutschen Friedensforschungsinstitute deutlich.

Demnach gab es 2023 in 34 Ländern 59 Kriege – Gewaltkonflikte, an denen mindestens ein staatlicher Akteur beteiligt war. Das ist mehr als je zuvor seit 1945. Die Anzahl „konfliktrelevanter Ereignisse

ist mehr als je zuvor seit 1945. Die Anzahl „konfliktrelevanter Ereignisse“ überhaupt hat sich in den vergangenen fünf Jahren verdoppelt. Die „weltweit schlimmste Katastrophe“ hat der Krieg im Sudan verursacht. Von alldem lesen wir in unseren Zeitungen so gut wie nichts. Umso mehr freilich von der Migration, und das ist nichts anderes; ich komme darauf zurück.Um sich eine Vorstellung vom Ausmaß dieser Verdrängung zu machen, reicht es, eins zu wissen: Der Ukrainekrieg rangiert auf einer Skala des Schreckens, dem Menschen in Gewaltkonflikten ausgesetzt sind, erst auf Platz 14. Davor steht nicht nur Gaza, sondern „beispielsweise noch der Libanon, der 2024 Ziel israelischer Angriffe war“.Was im Sudan geschieht, behandelt das Gutachten ausführlicher, und wir werden ihm folgen: Exempel eines Grauens, mit dem wir nicht befasst sein wollen. Es bekriegen sich dort zwei staatliche Armeen, zu deren Mitteln die Strategie der verbrannten Erde gehört. Wo eine Armee sich zurückziehen muss, vernichtet sie alles, was der anderen nützen könnte, auch Privathäuser. Sexuelle Gewalt wird gezielt eingesetzt. „Im Oktober 2024 wurde bekannt, dass eine Gruppe von mehr als 100 Frauen gemeinsam Selbstmord begangen hatte, um der sexuellen Gewalt der RSF“ – einer der beiden Armeen – „zu entkommen.“Von Israel und der Ukraine soll hier daher einmal nicht weiter die Rede sein. Nur ganz am Rande sei vermerkt, welche Bloßstellung unserer Aufmerksamkeitsökonomie allein in dem Umstand liegt, dass die Wissenschaft durchgängig von „Gewaltkonflikten“ als ihren Gegenständen spricht. Während in unserer Welt dem Ukrainekrieg gar kein Konflikt zugrunde zu liegen scheint, sondern wir nur eine Emanation des Bösen in ihm sehen sollen.Wir bleiben beim Sudan. „Knapp 26 Mio. Menschen leiden unter akuter Ernährungsunsicherheit, herbeigeführt durch die systematische Zerstörung von Ernten, Feldern und landwirtschaftlichen Geräten, vor allem in den von der RSF kontrollierten Gebieten. Die zivile Infrastruktur, Schulen und Krankenhäuser sind in den Konfliktgebieten weitgehend zerstört. Frauen und Kinder sind besonders betroffen. Vor allem Frauen und Mädchen sind Ziel sexueller Gewalt. Kinder haben keinen Zugang zu Bildung und sind in Gefahr, von bewaffneten Gruppen rekrutiert zu werden.“ Weiter: „Auch USAID war ein Hauptgeber, bis US-Präsident Donald Trump die Mittel einfrieren ließ. Der Wegfall der Hilfen hätte verheerende Konsequenzen für das Überleben der vom Krieg betroffenen Zivilbevölkerung im Sudan“ und in Nachbarländern.Spätkolonialer ZerfallGrell beleuchtet ist in unseren Köpfen die Migration, doch gerade sie ist die Kehrseite dieses Grauens. Wo Gewaltkonflikte wüten, flieht die Bevölkerung. Die wenigsten kommen im Westen, gar in Deutschland an. Sie fliehen innerhalb des Landes, dann in die Nachbarländer, viele Sudanes:innen etwa nach Ägypten, wo sie von der Polizei nicht gerade gut behandelt werden. Wo schon Deutschland, wie wir lesen, viel zu arm sei, um sich die Aufnahme so vieler Flüchtlinge leisten zu können, was soll da Ägypten sagen?Da leistet die EU sogar Hilfe – nicht für die Flüchtlinge, für die sie abwehrende Polizei. Wir haben ja selbst erlebt, wie schlimm Deutschland unter dem großen Fehler der Kanzlerin Angela Merkel gelitten hat – immerzu wird er ihr vorgehalten, von ihrer eigenen CDU –, Menschen aus Syrien, vor dem dortigen Bürgerkrieg Flüchtende, hier aufzunehmen. „Wir schaffen das“, hatte sie behauptet, offenbar fälschlich, denn wir sehen ja, dass Deutschland infolgedessen verarmt und zusammengebrochen ist …Wer sich die Zusammenhänge bewusst macht, kann nur so zynisch sprechen. Mit dem kriegstreibenden Zerfall der Ordnung in vielen Teilen der Welt hat der Westen, der jetzt seine Brandmauern gegen Flüchtlinge hochzieht, sehr viel zu tun. Überall wurzelt der Zerfall letztendlich im Kolonialismus. Nun kommt noch die ökologische Katastrophe dazu, die vom westlichen Kapitalismus-Konsumismus ausgeht. An unseren Freuden hat man im Sudan nicht teil, trägt aber die katastrophischen Folgen mehr als wir. Im Friedensgutachten wird dieser Aspekt nicht betont, aber in einem ausführlichen Wikipedia-Artikel über den Darfur-Konflikt kann man es nachlesen.Die als Darfur („Haus der Fur“, einer Ethnie) zusammengefassten westsudanesischen Gebiete sind der Quellort des sudanesischen Krieges. Seit den 1980er Jahren gehen dort Anbauflächen und Weideland durch Wüstenbildung und Erosion verloren. Es kam zu „Wanderungsbewegungen“, wie man sagt – in Gebiete aber, die schon besiedelt waren. Das sorgte für Konflikte. Ich sprach von zwei staatlichen sudanesischen Armeen: Eine davon, die genannte RSF, gründete sich als dortige Rebellenorganisation und wurde später vom Staat kooptiert, der in der Folge daran zerbrach.Wenn zwei staatliche Armeen einander bekriegen, heißt das, die staatliche Ordnung ist zerfallen, es heißt aber nicht, dass der Staat nicht mehr existiert. Die Staatsapparate sind teils noch da, und die Kriegspartei, die sich ihrer bemächtigen kann, nimmt sie als Beute. Beunruhigen muss uns, dass auch im führenden Land des Westens der Staat vom Ordnungsfaktor zur Beute von Interessengruppen geworden ist.Der Streit zwischen Elon Musk, dem reichsten Mann der Welt, und Donald Trump, der zu den 300 Reichsten seines Landes gehört, illustriert das. Musk hat in Trumps Auftrag Teile des Staates zerschlagen, auch einen, der seine Geschäftsinteressen stören könnte. Dann wurde er auf Trump wütend, weil dessen Steuergesetz seine Firma nicht noch besser stützt. Trump selbst fördert den Aufbau neuer Städte, die nur Kapitalisten zugutekommen, in denen nur sie geduldet sind. Er spaltet das Land systematisch, wie jetzt die Ereignisse in Kalifornien zeigen. Seine Machtbasis ist der Migrant:innenhass. Der Zerfall in anderen Teilen der Welt schlägt auf uns zurück.In Deutschland scheint es noch ordentlich zuzugehen. Scheint es. Ein Gericht hat festgestellt, was bekannt war: dass die jetzt regierungsamtliche Abweisung von Asylbewerber:innen an den Grenzen rechtswidrig ist. Die Bundesregierung ignoriert das einfach. Wird nicht auch bei uns schon trumpistisch regiert? Der neue Kanzler, Friedrich Merz (CDU), wollte den Rechtsbruch vor wenigen Monaten mit der AfD zusammen beschließen lassen, jetzt kann er es ohne parlamentarische Befassung durchsetzen, geduldet von der SPD.Es kommt so viel zusammen, dass wir nicht einmal die Zeit finden, uns zu empören. Alles geht viel zu schnell, wie sollen wir uns da für den Selbstmord sudanesischer Frauen interessieren?! Aber lassen Sie uns ein Fenster öffnen. Was gerade geschieht, kann ein Blick in die uns benachbarten Niederlande verdeutlichen. Dort regiert eine sehr rechte Koalition, an der die Partei des hierzulande wohlbekannten Geert Wilders beteiligt war. Galt dieser Mann nicht immer als rechtsextremes Schreckgespenst? Jetzt ist die Regierung daran zerbrochen, dass er „weiter nichts“ als eine Asylpolitik à la Merz gefordert hat.Kultur des bösen VerdachtsWas in der Welt geschieht, wollen wir nicht wissen, aber die Migration stellt uns die Rechnung aus. In wünschenswerter Klarheit wird diese uns sichtbare Seite der Sache im Friedensgutachten vorgeführt. Das Grundproblem ist, dass immer mehr Menschen fliehen müssen. Nein, nicht wir. Wir leiden ja nicht, außer unter den Flüchtlingen. Ein ganzes Drittel ist aus der Ukraine, aber denen wird es kaum vorgeworfen, die gehören zu Europa. Die anderen aber gelten nicht als Visualisierung irgendeines Grundproblems – das wir womöglich verursacht haben –, sondern nur selbst als Sicherheitsproblem. Der Diskurs ist von der Behauptung beherrscht, je mehr Migration stattfinde, desto höher steige die Kriminalitätsrate. Das stimmt aber nicht.Um das zu verstehen, muss man sich freilich mit Statistik auskennen – wie die Professor:innen des Friedensgutachtens. Sogar die FAZ zeigte sich da jüngst nicht fachkundig, als sie verbreitete, der statistische Oberflächenschein führe zur Verharmlosung der Gefährlichkeit von Migrant:innen. Wahr sei etwa: Jugendliche seien zwar krimineller als andere Altersgruppen, aber die Kriminalität migrantischer Jugendlicher sei nicht höher als der Durchschnitt. Doch, so die FAZ, Migration bringe mehr Jugendlinge ins Land, und somit mehr Kriminalität! Ein Kurzschluss. Ob jung oder weniger jung, Migrant:innen werden überwiegend in Ballungsräumen untergebracht, und dort ist die Kriminalitätsrate nicht ihretwegen angestiegen. Die Regierung gibt sich aber Mühe, sie ansteigen zu lassen. Denn was bedeutet es, wenn Innenminister Alexander Dobrindt (CSU) den Familiennachzug stoppt? Jugendliche Migranten leben dann noch weniger in einem geordneten Umfeld.Auch sonst wird grob fahrlässig gerechnet, als stünde ein Dobrindt keinem Ministerium voll Mitarbeiter:innen vor, die ihm etwa das Friedensgutachten vorhalten könnten. Dieses weist auch darauf hin, dass die Statistik stets nur Verdachtsfälle erfasst – und Migrant:innen schneller verdächtigt werden: 19-mal mehr im TV, 32-mal mehr in Printmedien. In der Bevölkerung „ist die Bereitschaft, eine Straftat anzuzeigen, höher, wenn Betroffene bei dem mutmaßlichen Täter von einem Migrationshintergrund ausgehen“. Die Pauschalverdächtigung bedroht den sozialen Frieden unseres Landes, das ja zu einem Drittel aus Menschen mit migrantischem Hintergrund besteht. Die Regierung weiß das.Doch ihr Wunschtraum ist die Abschiebung. Dabei sind Geflüchtete in Nordafrika, wo die EU sie gern sähe, „schweren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt: In Libyen sind Zwangsarbeit, Inhaftierung, Erpressung, Folter und Vergewaltigung in Lagern durch Milizen und den von der EU finanzierten ‚Grenzschutz‘ an der Tagesordnung. In Tunesien und Algerien werden Geflüchtete rassistisch ausgegrenzt und willkürlich in der Sahara ausgesetzt – oftmals mit Todesfolge.“Fehlt uns das Geld dafür, in Deutschland selbst menschenwürdiger mit Geflüchteten umzugehen? Oder könnte es sein, dass dieses Geld falsch ausgegeben wird? „Die Stadt Wuppertal organisierte im Jahr 2023 einen Einzelcharter für eine Person aus Mauretanien, einen konvertierten Christen ohne Vorstrafen, der 114.085 Euro kostete.“Es läuft gerade so vieles so vollkommen verkehrt.

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Von Veritatis

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