Wie ausgerechnet Deutschland seine Geschichte zur Waffe macht, wer darunter leidet – und was in unser nationales Gedächtnis eingeschlossen werden sollte
Ein fester Ort des Erinnerns ist das ehemalige KZ Sachsenhausen
Foto: Hans-Christian Plambeck/Laif
In Deutschland ist Erinnerung nicht nur moralische Verpflichtung. Sie ist Teil unserer Identität. Von den ersten Tagen meiner Schulzeit war der Imperativ klar: Vergangenheitsbewältigung ist nicht nur Bürgerpflicht, sondern das Fundament, auf dem Nachkriegsdeutschland ruht. Der Holocaust wurde uns nicht als historische Gräueltat präsentiert, mit der man sich beschäftigen und aus der man lernen sollte. Er war etwas uns Näheres, das fast etwas Theologisches hatte: das Herzstück der Seele des modernen Deutschlands. Das ist nicht falsch. Aber reicht es als alleiniger Rahmen für Verständnis und Handeln?
Mir ist das alles besonders nahe. Meine Familie ist eng mit der deutschen Politikgeschichte verbunden. Mein Urgroßvater, Konrad Adenauer, war
nauer, war der erste Kanzler der Bundesrepublik. Er spielte eine zentrale Rolle dabei, das Fundament für die Nachkriegsdemokratie zu legen. Er baute aus den Ruinen des Nationalsozialismus den westdeutschen Staat auf und schmiedete Verbindungen zu den westlichen Verbündeten. Er trug auch dazu bei, die Holocaust-Erinnerung zentral in der nationalen Psyche zu verankern.Deutsch sein bedeutet seither, Schuld zu tragen. Nicht einfach irgendeine Schuld — sondern eine besondere Schuld. Eine, die uns über unsere Geschichte erhebt, indem wir sie in größerem Maße anerkennen, als je eine andere Nation ihre Schuld anerkannt hat. Das Bewusstsein unserer Schuld hat uns wieder „gut“ werden lassen. Es machte uns vertrauenswürdig. Und wurde mit der Zeit zu einer Quelle von Selbstzufriedenheit, ja Stolz.Der Philosoph Hans-Georg Moeller hat das als Schuldstolz beschrieben: eine moralische Haltung, die Selbstwert nicht trotz der Verbrechen der Vergangenheit gewinnt, sondern aus gerade diesen Selbstwert ableitet. Aus solcher Sicht sind wir Deutschen nicht nur dieses schrecklichsten Völkermordes schuldig — wir sind auch die, die auf einzigartige Weise dafür die Verantwortung übernommen haben. Andere vergessen, beschönigen, verharmlosen, leugnen. Aber wir erinnern. Wir geben zu. Wir tun Buße. Und es gefällt uns, dabei gesehen zu werden, dass wir uns schuldig fühlen. Durch diese Sühne werden wir zu etwas Besserem – nicht mehr moralisch gebrochen, sondern moralisch wiedergeboren.Diese Geschichte hat jedenfalls etwas Verführerisches. Sie schmeichelt uns auf paradoxe Weise. Sie erlaubt uns zu glauben, dass wir unsere Vergangenheit nicht nur verarbeitet, sondern überwunden haben, die Schande in eine Stärke verwandelt. Dass wir unsere Identität durch den Akt der Erinnerung gereinigt haben.Aber wie lässt sich in diesem Zusammenhang Rechenschaft ablegen? Reicht es, zu erinnern? Sich zu entschuldigen? Zu bezahlen? Zu ritualisieren? An welchem Punkt verfestigt sich die Erinnerung zu einer Aufführung? Und wer entscheidet, wessen Vergangenheit der Erinnerung wert ist?Moralisches MarkenzeichenMich beunruhigt die Richtung, in die sich die deutsche „Erinnerungskultur“ bewegt. Sie scheint zuweilen nicht mehr den Weg zu moralischer Klarheit zu weisen, sondern die Struktur eines moralischen Markenzeichens angenommen zu haben. Sie ging von guten Absichten aus, entwickelte sich aber zur öffentlichen Darstellung einer Selbstbewusstheit, die vor künftigen Gräueltaten schützen soll, uns aber nunmehr paradoxerweise zu Komplizen eines Völkermordes macht.Seit dem 7. Oktober geht der deutsche Staat rigoros gegen pro-palästinensische Äußerungen vor. In großen Städten wurden Demonstrationen verboten. Proteste waren nicht gewollt, selbst wenn sie friedlich waren, und Aktivisten wurden festgenommen, überwacht und öffentlich verunglimpft. Ganze Kunstausstellungen wurden ob der politischen Haltung eines Künstlers abgesagt, Professoren und Journalisten wegen der Teilnahme an Demonstrationen, dem Unterschreiben von Petitionen oder Posts in Sozialen Medien entlassen oder mit Kündigung bedroht. Gerade auch jüdische Stimmen, die sich kritisch gegenüber der israelischen Politik aussprachen, wurden ausgeschlossen. Ihr jüdisches Selbstverständnis wurde in Frage gestellt, ihre Legitimität angezweifelt – bis hin sogar zur Beobachtung durch den Verfassungsschutz.Im Namen des Kampfes gegen den Antisemitismus unterdrückt Deutschland aktiv abweichende Meinung — oft in einer Art und Weise, die im Gegensatz zu seinen eigenen erklärten freiheitlichen Werten wie der Redefreiheit steht. Und es tut das mit einer erstaunlichen moralischen Sicherheit unter der Flagge von „historischer Verantwortung“.Aber diese ist kein Blanko-Scheck. Und auch keine Lizenz dafür, die Erinnerung an den Holocaust dafür zu instrumentalisieren, über anderes Leid zu schweigen. Der moralische Absolutismus der deutschen Erinnerungspolitik ist so rigide geworden, dass er keinen Raum für die moralische Zweideutigkeit der Gegenwart bietet. Im offiziellen Narrativ lautet die Lehre aus dem Holocaust: „Nie wieder darf so etwas den Juden passieren“. Aber müsste, könnte es nicht auch heißen: „Nie wieder darf irgendjemandem so etwas geschehen“? Im Jugoslawienkrieg wurde so argumentiert. Warum nicht jetzt?Dieses Postulat moralischer Klarheit lässt sich nur schwer mit der politischen Wirklichkeit vereinbaren. Deutschland liefert Israel Waffen, die dazu benutzt werden, Zivilisten in Gaza zu bombardieren. Und versucht dann, sich freizukaufen, indem es humanitäre Hilfe an dieselben Leute schickt, die in Not zu bringen es geholfen hat. Das ist keine moralische Komplexität – sondern Doppelzüngigkeit.Es lässt sich nur schwer rechtfertigen, dass für einen Waffenstillstand Demonstrierenden mit Riot-Polizei begegnet wird. Und wenn Bundeskanzler Friedrich Merz sagt, Israels Premier Benjamin Netanjahu würde bei einem Besuch selbstverständlich nicht verhaftet — trotz Haftbefehls des Internationalen Strafgerichtshofs —, müssen wir fragen: Was ist aus dem internationalen Rechtssystem geworden, das wir im Namen von „Nie wieder“ aufzubauen geholfen haben? Haben wir wirklich „Lehren der Geschichte“ internalisiert oder nur Wege gefunden, aus diesen zu selektieren?Gelehrige AufführungenDeutschland behauptet gern, es habe aus der Vergangenheit gelernt. Aber vor allem hat es gelernt, das Gelernte aufzuführen. Es belohnt diejenigen, die innerhalb des gegebenen Skripts bleiben, während wir eigentlich daran arbeiten sollten, das Skript auszuweiten.Dieses moralische Rahmenwerk zu hinterfragen, heißt nicht, das Grauen der Shoah zu leugnen. Es stellt aber die Frage, ob eine Erinnerungskultur, die Universalität für sich beansprucht, während sie beschränkt handelt, wirklich Erinnerungskultur ist — oder nur eine getarnte nationalistische Ideologie?Im Mittelpunkt dieser Frage steht der Topos der Einzigartigkeit des Holocausts. Wissenschaftler wie der Philosoph Omri Boehm und der Politikwissenschaftler Norman Finkelstein argumentieren, dass die Betonung der Einzigartigkeit des Holocaust nicht aus einer echten historischen Debatte entstanden sei, sondern vor allem strategisch dazu diene, sowohl die israelische als auch die deutsche nationale Identität zu festigen. So korrespondiert die nationale Identität Deutschlands mit der israelischen – dem Zionismus, der stets auch rassistische Elemente umfasste.In seinem Buch The Holocaust Industry argumentiert Finkelstein, der Topos der Einzigartigkeit sei oft dazu benutzt worden, Israel vor Kritik an Handlungen abzuschirmen, die andernfalls angeprangert werden könnten. Wenn wir wirklich Interesse an Gerechtigkeit und Besserung des Menschen haben, dürfe man den Holocaust nicht als außerhalb jeden Vergleichs behandeln. Für ihn grenzt das „Vergleiche nicht“ an moralische Erpressung.Was aber hieße es, Erinnerung zu praktizieren, ohne sie in ein Markenzeichen zu verwandeln? Was würde es bedeuten, nicht Selbst-Beglückwünschung, sondern Solidarität ins Zentrum zu stellen?Deutschland heute ist nicht länger die homogene Nachkriegsrepublik der 1950er Jahre. Es ist eine multikulturelle, multiethnische Gesellschaft – geprägt von Migration und Vertreibung. Millionen der aktuellen Einwohner Deutschlands haben keine direkte familiäre Verbindung mit den Verbrechen des Nazi-Regimes. Und trotzdem wird von ihnen erwartet, sich in eine Erinnerungskultur einzuschreiben, die weder eine Verbindung zu ihrer eigenen Geschichte hat noch ihrem Leid Platz einräumt.Verdrängte AgendenGleichzeitig bleibt Deutschlands koloniale Vergangenheit weitgehend unbeachtet. Die Völkermorde an den Herero und Nama in Namibia, die das Deutsche Reich Anfang des 20. Jahrhunderts verübte, kommen in den Schullehrplänen kaum vor. Die Plünderung des kulturellen Erbes bleibt weitgehend nicht wiedergutgemacht. Es herrscht struktureller Rassismus bei der Wohnungssuche, auf dem Arbeitsmarkt und oft genug im Vorgehen der Polizei. Aber nichts davon passt ins Skript des nationalen Schuldstolzes. Tatsächlich schließt gerade die Struktur dieser Erinnerungskultur diese anderen Vergangenheiten aus, weil wir eine so enge Definition davon haben, was erinnert werden sollte und wie.Wie könnte also eine andere Erinnerungskultur aussehen? Sie wäre umfassend, nicht exklusiv. Sie würde sich weigern, verschiedene Teile der Geschichte gegeneinander auszuspielen. Das hieße, die Erinnerung an die Shoah zu ehren, ohne sie in ein moralisches Monopol zu transformieren. Es würde bedeuten, die Vergangenheit nicht als heiliges Markenzeichen zu behandeln, sondern als Mandat für Gerechtigkeit in der Gegenwart. Sie würde die Geschichte nicht als ein nationales Erbe verstehen, sondern als ein geteiltes und umstrittenes Gebiet.Eine solche Erinnerungskultur müsste darauf drängen, politische Anführer, für die ein internationaler Haftbefehl vorliegt, festzunehmen – gleichgültig, auf welcher Seite sie stehen. Sie würde internationales Recht auch über geopolitische Vorteile stellen. Und sie wäre stark genug, um zuzugeben, dass alte moralische Koordinaten nicht länger ausreichend sind. Sie würde aufhören, die Vergangenheit als Waffe dafür einzusetzen, in der Gegenwart die Einhaltung der Regeln zu überwachen. Sie würde unterscheiden zwischen echtem Antisemitismus und Kritik an staatlicher Politik. Diese Erinnerungskultur würde aufhören, jüdische, arabische und deutsche Stimmen unter dem Vorwand des Schutzes jüdischen Lebens mundtot zu machen, wenn diese Stimmen bloß Gerechtigkeit verlangen. Sie würde verstehen, dass Erinnerung keine Darbietung ist, sondern eine Praxis — ein anhaltender, häufig unbequemer Prozess der Auseinandersetzung mit der Macht. Und sie würde Raum eröffnen für Widerspruch, für Komplexität, für Abweichung. Wahre Erinnerung bedeutet nicht Konformität.Deutschland sagt gerne, dass es „die Lektionen“ seiner Vergangenheit „gelernt hat“. Aber Erinnerung ist kein Test, den man einmal besteht und dann vergisst. Sie ist ein lebendiger, atmender Prozess, der immer wieder neu aufgenommen werden muss. Die Erinnerungsarbeit ist noch nicht getan. In vielerlei Hinsicht hat sie gerade erst begonnen.Tabea Werhahn ist Autorin und Filmemacherin. Der Text wurde redaktionell aus dem Englischen übersetzt