Der Waffenstillstand zwischen Israel und dem Iran hat weltweit Aufmerksamkeit erregt. Doch was bedeutet er wirklich für die Region und die globale Politik? Colonel Douglas Macgregor, ein renommierter Experte für Geopolitik, teilt in einem aktuellen Interview seine Einschätzung zu den Hintergründen, Konsequenzen und der fragilen Natur dieses Waffenstillstands. Dieser Artikel beleuchtet die Kernpunkte seiner Analyse und bietet einen tiefen Einblick in die komplexe Lage im Nahen Osten.
Ein fragiler Waffenstillstand: Wer hat gewonnen?
Nach einem zwölftägigen Konflikt zwischen Israel und dem Iran wurde ein Waffenstillstand vereinbart, den beide Seiten als Sieg für sich reklamieren. Doch Macgregor stellt klar: Es gibt keinen klaren Sieger. „Es hängt davon ab, auf welcher Seite man steht“, sagt er. Aus iranischer Sicht habe das Land gezeigt, dass sein Waffenarsenal weit mächtiger ist, als viele vermuteten. Insbesondere die Fähigkeit, israelische Verteidigungssysteme mit einer Flut von Raketen zu überwältigen, habe Israel überrascht. Ein hochrangiger israelischer Politiker, Ben Gvir, gab sogar zu, dass die iranischen Kapazitäten unterschätzt wurden.
Israel hingegen feiert die Zerstörung angeblicher iranischer Ziele, doch Macgregor bezweifelt, dass diese Angriffe bedeutende Schäden verursacht haben. Laut seinen Quellen in Geheimdienstkreisen waren die angegriffenen Ziele weitgehend leer. „Es war ein optischer Erfolg“, so Macgregor, „aber strategisch irrelevant.“ Der Iran habe zudem die USA und Israel im Vorfeld über einen geplanten Gegenschlag informiert, der eine verlassene Luftbasis in Bahrain traf – ein symbolischer Akt ohne größere Konsequenzen.
Die Rolle der USA: Bedingungslose Unterstützung für Israel?
Ein zentrales Thema in Macgregors Analyse ist die bedingungslose Unterstützung der USA für Israel. „Es spielt keine Rolle, welche Partei an der Macht ist“, sagt er. Diese Politik verpflichte die USA, Israel finanziell und technologisch zu unterstützen, unabhängig von den Konsequenzen. Dies habe die USA in den aktuellen Konflikt hineingezogen, ohne dass eine klare Strategie erkennbar sei. „Ich sehe keine Strategie, nur impulsive Reaktionen“, kritisiert Macgregor die US-Politik unter Präsident Donald Trump. Er vergleicht Trumps Ansatz mit dem von Joe Biden und spricht sogar von einem „orangen McCain“, um die Kontinuität der US-Politik trotz scheinbar neuer Führung zu verdeutlichen.
Die Unterstützung Israels habe auch dazu geführt, dass die humanitäre Krise in Gaza weitgehend ignoriert wird. Macgregor schätzt, dass Hunderttausende in Gaza gestorben sind – sei es durch Gewalt oder Krankheiten – und sieht darin einen dauerhaften Konfliktkatalysator. „Solange die Gaza-Frage ungelöst bleibt, wird es keinen dauerhaften Frieden geben“, warnt er.
Irans gestärkte Position und die nukleare Frage
Entgegen westlicher Narrative glaubt Macgregor nicht, dass Irans nukleares Programm durch die jüngsten Angriffe geschwächt wurde. „Die Ziele waren leer“, betont er und verweist auf Informationen aus Geheimdienstkreisen. Iran habe seine Uranvorräte rechtzeitig verlagert und betone weiterhin, keine Atomwaffen entwickeln zu wollen. Dennoch sieht Macgregor eine globale Konsequenz: „Jeder Staat, der die Möglichkeit hat, wird nun versuchen, Atomwaffen zu erwerben.“ Der Grund? Die Angst vor Interventionen durch die USA oder Israel.
Israel bleibt laut Macgregor die einzige Atommacht der Region mit etwa 90 Sprengköpfen. Diese nukleare Überlegenheit sei zentral für das „Groß-Israel-Projekt“, das eine regionale Dominanz anstrebt. Ein nuklearfreier Nahost, wie vom Iran gefordert, würde Israel zwingen, seine Waffen aufzugeben – ein Szenario, das für die israelische Führung undenkbar scheint.
Israels finanzielle und militärische Krise
Ein überraschender Punkt in Macgregors Analyse ist die prekäre Lage Israels. Laut Finanzminister Smotrich stehe das Land kurz vor einem wirtschaftlichen Kollaps. „Noch eine Woche, vielleicht zwei, dann implodiert die Wirtschaft“, zitiert Macgregor. Zudem habe Israel einen Großteil seiner Raketen verschossen, während die USA ebenfalls Nachschubprobleme hätten. „Wir bauen Raketen nicht schnell genug“, warnt er. Diese Schwäche könnte Israel dazu zwingen, den Waffenstillstand vorerst einzuhalten – doch Macgregor bleibt skeptisch: „Nichts hat sich grundlegend geändert.“
Netanyahus Strategie und die Frage des Regimewechsels
Macgregor ist überzeugt, dass der israelische Premierminister Benjamin Netanyahu den Konflikt nach dem Hamas-Angriff am 7. Oktober bewusst eskalierte. „Das war kein Zufall“, sagt er und verweist auf Warnungen, die Israel im Vorfeld ignoriert habe. Netanyahu nutze die Krise, um eine breitere regionale Auseinandersetzung zu rechtfertigen, gestützt durch die Kontrolle über US-Politiker. „Netanyahu hat mehr Einfluss im US-Kongress als Trump“, betont Macgregor.
Ein weiteres Ziel Israels sei der Regimewechsel im Iran. Macgregor erwähnt die Unterstützung für den Sohn des ehemaligen Schahs als potenziellen „Marionettenherrscher“ in Teheran. Doch er sieht wenig Aussicht auf Erfolg: „Die iranische Bevölkerung steht geeinter denn je hinter ihrer Regierung.“ Der Iran, als zivilisatorischer Staat mit tief verwurzelter Kultur, sei widerstandsfähiger, als viele im Westen annehmen.
Globale Perspektiven: Russland, China und die Ukraine
Macgregor weitet seinen Blick auf die globalen Implikationen. Russland und China beobachten die Entwicklungen im Nahen Osten mit Interesse, da sie ihre „One Belt, One Road“-Initiative vorantreiben wollen. Diese ziele darauf ab, Eurasien und Afrika wirtschaftlich zu integrieren – ein Projekt, das durch Instabilität im Nahen Osten gefährdet ist. „Russland ist der Schlüssel zur Stabilität in Zentralasien“, erklärt Macgregor, während China seine maritime Verwundbarkeit kompensieren will.
In Bezug auf die Ukraine sieht Macgregor Parallelen zu Israel. Präsident Selenskyj stehe vor einer ähnlichen strategischen Krise wie Netanyahu, jedoch in einer noch schlimmeren Lage. Mit schätzungsweise 1,5 Millionen toten ukrainischen Soldaten und einer systematischen russischen Offensive sei die Ukraine ein „Patient auf der Intensivstation“. Macgregor kritisiert Trumps Behauptung, den Krieg in 24 Stunden beenden zu können, als unrealistisch. Russland werde den Konflikt dominieren und die Ukraine wahrscheinlich in einen Rumpfstaat ohne Zugang zum Meer verwandeln.
Ausblick: Ein unsicherer Frieden
Macgregor schließt mit einer ernüchternden Prognose: Der Waffenstillstand ist nur eine Pause in einem größeren Konflikt. „Die strategischen Dynamiken sind in Bewegung und schwer zu stoppen“, sagt er. Israel werde weiterhin versuchen, seine regionale Dominanz zu sichern, während der Iran gestärkt aus dem Konflikt hervorgeht. Die USA, gefangen in ihrer bedingungslosen Unterstützung für Israel, riskieren eine weitere Eskalation ohne klare Strategie.
Für die Zukunft sieht Macgregor zwei Szenarien: Entweder bricht Frieden aus – was er für unwahrscheinlich hält – oder der Nahe Osten steht vor tiefgreifenden Veränderungen. „Die Landkarte der Region könnte sich grundlegend wandeln“, warnt er. Länder wie Syrien, der Irak oder Kuwait könnten ihre Grenzen neu definieren, während Großmächte wie Russland, China und die Türkei ihre Einflusssphären ausbauen.
Fazit
Colonel Douglas Macgregors Analyse zeigt, dass der Waffenstillstand zwischen Israel und dem Iran keine nachhaltige Lösung darstellt. Die Region bleibt ein Pulverfass, geprägt von wirtschaftlichen Krisen, nuklearen Ambitionen und geopolitischen Machtkämpfen. Ohne eine klare Strategie der USA und eine Lösung für die humanitäre Krise in Gaza droht der Konflikt weiter zu schwelen – mit potenziell verheerenden Folgen für den Nahen Osten und darüber hinaus.