Ralf Stegner hat das Friedens-Manifest mitverfasst und ist zu Gesprächen mit Vertretern Russlands nach Baku gereist. Für beides hagelte es Kritik, auch in der SPD. Hat dieser Mann nicht verstanden, wie bedrohlich Russland für Europa ist?


„Die Diplomatie darf man nicht aufgeben“: Ralf Stegner beim SPD-Parteitag

Foto: IMAGO / photothek


Er gilt als einer der letzten Parteilinken und hat das Friedens-Manifest mitverfasst: Ralf Stegner. Seit Jahren setzt er sich für Verhandlungen mit Russland ein, um den russischen Krieg gegen die Ukraine zu beenden. Öffentlich muss er dafür viel, auch harte Kritik einstecken. Seitdem SPD-Vorsitzender Lars Klingbeil den ebenfalls friedenspolitisch orientierten Rolf Mützenich vom Fraktionsvorsitz verdrängt und mit Verteidigungsminister Boris Pistorius die Partei dominiert, stellt sich die Frage nach dem außenpolitischen Kurs der SPD noch dringlicher.

der Freitag: Herr Stegner, beim SPD-Parteitag am Wochenende hat Lars Klingbeil das zweitschlechteste Ergebnis eines Vorsitzenden erhalten. Hat Sie das gefreut?

Ralf Stegner: Nein, das hat mich nicht gefreut. Und gerad

enpolitischen Kurs der SPD noch dringlicher.der Freitag: Herr Stegner, beim SPD-Parteitag am Wochenende hat Lars Klingbeil das zweitschlechteste Ergebnis eines Vorsitzenden erhalten. Hat Sie das gefreut?Ralf Stegner: Nein, das hat mich nicht gefreut. Und gerade nach einer Debatte, in der kaum Kritik geäußert wurde, war das ein bisschen eigentümlich.Vielleicht wollte auch niemand mehr widersprechen – viele Kritiker hat Klingbeil ja ausgebootet.Aber im Leben gilt: Es wird mit einem nur das gemacht, was man mit sich geschehen lässt. Kritik in der Sache ist wichtig, sofern sie fair vorgetragen wird. Ich habe mich darum bemüht. Andere haben sich entschieden, zu schweigen.Wie haben Sie den Parteitag insgesamt wahrgenommen?Die Partei ist im Zustand der Verwirrung. Es wäre gut gewesen, mehr über die Wahlniederlage zu sprechen. Auch die Körpersprache war aufschlussreich. Standing Ovations gab es früher bei besonderen Gelegenheiten – nicht als ritualisierte Gymnastik-Übung selbst bei schlechtem Ergebnis. Das wirkte fast wie Hohn. Das war nicht die Partei, die früher leidenschaftlich diskutiert hat.Der Parteitag stand unter dem Motto „Veränderung beginnt bei uns“. Wo müsste Veränderung beginnen?Das Wahlergebnis war das schlechteste seit 137 Jahren – das ist existenziell. Das müssen wir aufarbeiten. Ein Teil davon war im Leitantrag angesprochen: Die sozialen Fragen müssen in den Vordergrund gestellt werden, praxistauglich und in klarer Sprache vermittelt: Rente, Gesundheit, Pflege, Miete. Aber zur Niederlage gehört auch, dass die Partei Themen wie Migration sowie Krieg und Frieden kampflos anderen überlassen hat.Wie meinen Sie das?Viele, die Angst vor Krieg haben, wandern zu Wagenknecht, zur Linken oder der AfD ab. Wir müssen sie zurückholen – nicht durch die Übernahme falscher Narrative, davon halte ich nichts. Aber ich glaube, zwischen der Position, die nur über Waffen redet und Diplomatie zwar erwähnt, aber im Grunde genommen immer als Appeasement verhöhnt, und denen, die Putins Narrative verbreiten und keine Empathie für die Ukraine haben, dazwischen muss es eine sozialdemokratische Position geben.Wie soll diese Position aussehen?Verteidigungsfähigkeit sichern, aber auch Rüstungskontrolle und Diplomatie. Die Friedenspolitik ist eine Wurzel der SPD. Ich bin für Waffenlieferungen an die Ukraine, um mit Luftabwehr Menschenleben zu retten. Aber Putin ist nicht militärisch zu besiegen. Rolf Mützenichs Vorschlag im vergangenen Jahr, den Krieg einzufrieren, wurde verhöhnt. Heute kommt der gleiche Vorschlag von den Franzosen und Engländern. Allerdings in einer deutlich schlechteren militärischen Lage.Wir dürfen das mit der Aufrüstung nicht so weit treiben, dass wir in den Krieg hineinschlittern.Sie sind Parteilinker, reden viel über Frieden, aber zu sozialen Themen sagen Sie nur, das müsse nur besser kommuniziert werden. Ist das alles, was Ihnen dazu einfällt?Ganz und gar nicht. Ich will Gerechtigkeitsthemen nach vorn bringen. Uns fehlt es dabei aber nicht an Konzepten, sondern am Raum, darüber zu sprechen. In Wahlkämpfen dominiert das Thema Migration. So schaut keiner auf unsere sozialen Punkte.Sie wollen also erst für Ruhe bei Migration und Frieden sorgen, um Raum für Sozialpolitik zu schaffen?Beim Thema Migration Ruhe reinbringen und beim Thema Frieden verlässlich sein, sodass die Leute wissen, mit uns müssen sie keine Angst haben. Wir sind diejenigen, die wissen: alles, was in Aufrüstung reingeht, fehlt am Ende bei der Sozialpolitik. Wenn wir fünf Prozent des BIP für Verteidigung ausgeben – wir reden über Wahnsinnssummen –, glaubt irgendjemand, wir können dann noch so viel in den Sozialstaat investieren, wie es notwendig wäre?Kommen wir zur Außenpolitik: Putin hat die Initiative von Trump versanden lassen, derweil bombardiert er weiter und beansprucht ganz offen die gesamte Ukraine. Zeigt das nicht, dass er gar nicht verhandeln will?Mag sein. Aber militärisch ist keine Lösung möglich. Deswegen bleibt nur die Kombination aus: Der Ukraine beistehen, ihre Verteidigung stärken und ansonsten das Bohren dicker Bretter hinter verschlossenen Türen. Auch über Drittstaaten wie China oder Länder des globalen Südens, wie Olaf Scholz das versucht hat. Die Diplomatie darf man nicht aufgeben.Aber müsste man nicht den militärischen Druck erhöhen, um Verhandlungen zu erzwingen?Das sagen manche seit drei Jahren – funktioniert hat es nicht. Aber die Idee, nur mehr Waffen würden den Frieden bringen, überzeugt mich nicht. Die Rüstungsausgaben sind auf Rekordniveau. Deutschland ist auf Platz vier weltweit. Und gleichzeitig werden Abrüstung und humanitäre Hilfe vernachlässigt. Das macht doch die Welt nicht sicherer, sondern gefährlicher. Wir dürfen es mit der Aufrüstung nicht so weit treiben, dass wir in den Krieg hineinschlittern.Ihr Manifest verweist auf die Entspannungspolitik der 70er. Die war aber Ergebnis gegenseitiger Hochrüstung. Unter Willy Brandt gab die Bundesrepublik 3,4 Prozent des BIP für Verteidigung aus.Wir hatten damals eine Wehrpflicht, deswegen floss ein größerer Anteil des Budgets in Personal. Preisbereinigt lagen die Rüstungsausgaben weit unter dem heutigen Niveau. Es ist nicht wahr, dass wir heute so desolat ausgerüstet wären. Allein Deutschland und England geben zusammen mehr für Rüstung aus als Russland.Im Westen gilt die Entspannungspolitik als Erfolgsgeschichte. Sie trug auch zum Zerfall der Sowjetunion bei. Putin zieht daraus offenbar den Schluss, dass Russland nie wieder schwach sein darf.Mag sein, aber früher war Moskau auch nicht verlässlich. Denken Sie nur an die Kuba-Krise. Trotzdem musste man reden. Putin ist ein Kriegsverbrecher, ja – aber Verhandlungen mit Leuten, deren Werte man nicht teilt, bleiben nötig. Langfristig wird Russland westliche Technologie brauchen. Die Allianzen mit Nordkorea und Iran werden nicht reichen. Darauf müssen wir setzen. Ich bin kein Pazifist oder Fantast, ich sage nur, es gibt keine Alternative.Es ging uns um einen programmatischen Beitrag, nicht um Krawall. Mir kommt es darauf an, dass wir die Debatte eröffnen und führen. Und ich glaube sogar, dass uns das nützt.Was, wenn Putin sagt: Ich will diese vier Oblaste der Ukraine haben? Wie viel Prozent des Territoriums der Ukraine sind für Sie verhandelbar?Das geht Deutschland nichts an. Die Ukraine ist ein souveräner Staat, die muss das entscheiden. Deshalb müssen solche Gespräche hinter verschlossenen Türen geführt werden. Das ist Diplomatie.Wie nehmen Sie die Reaktionen auf ihr Manifest wahr?Öffentlich gab es viel Kritik. Aber aus der Partei und der Bevölkerung kamen viele positive Rückmeldungen. Auch Umfragen zeigen: Die Thesen finden bei SPD-, BSW- und AfD-Anhängern große Zustimmung, selbst unter CDU-Anhängern ist es ein Drittel. Ich will das nicht überbewerten. Aber das ist doch ein Hinweis, wir hätten eine Chance, die Leute zurückzugewinnen.Viele der Unterzeichnenden sind „a.D.“ – außer Dienst. Warum ist es Ihnen nicht gelungen, mehr aktive Politiker zu gewinnen?Aber a.D. heißt ja nicht senil.Das nicht, aber es klingt auch nicht nach viel Einfluss.Es ging uns auch nicht um Einfluss, sondern um einen programmatischen Beitrag. Es ging auch nicht um Krawall. Aber wir bekamen dann 17.000 Unterschriften in einer Woche – das ist doch etwas. Mir kommt es darauf an, die Debatte zu eröffnen und zu führen. Und ich glaube sogar, das nützt uns. Es hatte jedenfalls keinen negativen Einfluss auf unsere Umfragewerte.Reden wir über Ihre Reise nach Baku. Hat die sie das Amt im Parlamentarischen Kontrollgremium gekostet?Das weiß ich nicht. Das Gremium wurde deutlich verkleinert – das war wohl der Hauptgrund.Warum sind Sie nach Baku gereist?Weil ich glaube, solche Gespräche haben drei Effekte. Erstens bekommt man mit, was die andere Seite denkt, jenseits dessen, was sie öffentlich sagt. Zweitens, die kriegen mit, was man denkt, auch jenseits von öffentlichen Äußerungen. Und drittens erkennt man, ob es Veränderungen gibt, wenn man den Kontakt aufrechterhält.Als Kontrollgremium-Mitglied hatten Sie Zugang zu Geheimnissen. War das nicht riskant?Mich muss man nicht abhören, um zu wissen, was ich denke. Und meinen Sie, ich habe auf meinem Handy Sachen, die dort nicht hingehören? Und wer mich kennt, weiß, ich verrate nichts. Diese Unterstellungen waren absurd.Und die SPD ist die einzige Partei, die sich wirklich mit ihrer Ostpolitik kritisch auseinandersetzt. Viele tun ja so, als ob Angela Merkel in der SPD gewesen wäre.Was haben Sie den Russen in Baku gesagt?Wir haben denen zum Beispiel gesagt: Leute, vergesst das, wenn ihr die AfD schmiert, weil ihr glaubt, das macht unsere Gesellschaft kaputt. Daraus kann nichts werden. Und ich bin zwar Sozialdemokrat und für Verhandlungen. Aber das heißt nicht, wir können akzeptieren, dass ihr mit Gewalt die Grenzen verändern wollt.Planen Sie weitere Treffen?Nicht konkret. Aber ich finde es richtig, das zu tun.2022 sagten Sie, Warnungen vor einem russischen Angriff seien Kriegstreiberei. Der Krieg kam. Sie irrten sich – warum sollte man heute auf Ihre außenpolitischen Instinkte vertrauen?Ja, das war ein Irrtum. Aber ich bin nicht der Einzige, der sich verschätzt hat, das hat noch ganz andere getroffen. Ich habe keine Probleme, das einzuräumen. Und die SPD ist die einzige Partei, die sich wirklich mit ihrer Ostpolitik kritisch auseinandersetzt. Viele tun ja so, als ob Angela Merkel in der SPD gewesen wäre.Mit Rückblick auf die Debatte um Ihr Manifest und den Parteitag, halten Sie Lars Klingbeil für einen guten Vorsitzenden?Ich wünsche mir, die Parteiführung würde Debatten nicht nur dulden, sondern aktiv befördern. Die SPD braucht inhaltliche Breite und muss verschiedene Milieus ansprechen, wenn sie eine Volkspartei sein will. Die Rückmeldungen zeigen mir, meine Position ist kein Randthema. Wir brauchen gemeinsame Sicherheit – nicht nur vor Russland, sondern irgendwann – nach einem für die Ukraine akzeptablen Frieden – auch wieder mit Russland.War Klingbeils Abstrafung die Rache des linken Flügels?Ich glaube nicht, dass es hier um Flügelkämpfe ging. Versuche, unsere Position als „linken Flügel“ abzutun, sind viel zu einfach gedacht. Hans Eichel ist kein Linker. Friedenspolitik betrifft die gesamte Partei.Wie blicken Sie auf die Zukunft der SPD?Ich bin kein Nörgler, aber die SPD macht mir große Sorgen. Ich weiß, wie schwer das ist, ich war selbst lange in der Parteiführung. Aber wie hat Karl Kautsky gesagt: Die SPD ist eine revolutionäre, aber keine revolutionsmachende Partei. Das ist ein wunderbarer Spruch, der gilt immer noch.

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Von Veritatis

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