Die Kanarischen Inseln sind das Ziel des tödlichsten Migrationsroute nach Europa. Moustapha Diouf hat ihn 2006 als einer der Ersten gewagt. Heute lebt er wieder im Senegal – und warnt die Jugend seiner Heimat vor der Fahrt über den Atlantik
Moustapha Diouf zeigt auf den schmalen Strandabschnitt, der das senegalesische Meer von den erdfarbenen Häusern seiner Gemeinde trennt, und sagt: „Das hier ist ein mythischer Ort: Die ersten Migrantenboote, die auf den Kanaren ankamen, haben hier abgelegt.“ Bei jedem Schritt versinken seine Sandalen tief im Sand, die afrikanische Mittagssonne zieht Falten auf seine Stirn. Diouf, 57, blickt auf ein Leben voller Anstrengung zurück.
Der Fischerort Thia erstreckt sich einige Kilometer entlang der senegalesischen Küste, schmale Gassen winden sich durch den Ort. Wie viele Menschen unter den Wellblechdächern der kleinen Häuser wohnen, ist nicht erfasst, wahrscheinlich sind es einige Zehntausend.
Die Bewohner leben seit Generationen vom Fischfang, alternative Bes
inige Zehntausend.Die Bewohner leben seit Generationen vom Fischfang, alternative Beschäftigungen gibt es kaum. Als Moustapha Diouf noch jünger war, fuhr er mit einer Pirogue, einem Fischerboot, hinaus aufs Meer. Heute überlässt er das Fischen der jüngeren Generation. Und doch vergeht kein Tag, an dem er nicht den Strand seiner Gemeinde entlangläuft, sich nicht mit den Fischern des Ortes austauscht. Denn Diouf hat sich einer Lebensaufgabe verschrieben: Er will die Jugend seiner Gemeinde davon abhalten, ihre Heimat zu verlassen.Placeholder image-22006 kehrte er seiner Heimat den Rücken: Er stieg in eines der unzähligen bunt bemalten Fischerboote, die sich am Strand des Ortes wie in einer Perlenkette aneinanderreihen, und versuchte, die Kanarischen Inseln zu erreichen: Diouf legte als einer der ersten die atlantische Migrationsroute zurück.!—- Parallax text ends here —-!An Bord waren damals wie heute meist junge Männer, die von Europa und einer besseren Zukunft träumten. Beflügelt von der Entdeckung der neuen Migrationsroute setzten sich 2006 gut 31.000 Menschen in die Boote und nahmen Kurs auf die Kanaren, die zu Spanien und somit zur EU gehören. Die Europäische Union reagierte mit der „Operation HERA“.Nach einem Abkommen Spaniens mit den Ländern Senegal und Mauretanien patrouillierte die EU-Grenzschutzorganisation Frontex im Atlantik und versuchte, die Boote der Migranten abzufangen. Daraufhin reduzierten sich die Zahlen drastisch.Auf der kleinsten Kanarischen Insel, El Hierro, wurden 2024 mehr als 20.000 irreguläre Migranten registriert. Auf der Insel leben nur 11.000 SpanierDoch seit 2020 wurde die Route wieder populärer. Heute kommen auf der kleinsten Kanarischen Insel, El Hierro, die meisten Pirogues an: 2024 registrierte man dort über 20.000 irreguläre Migranten. Dabei leben auf der Insel nur 11.000 Spanier.Einer der Gründe für die wieder stärkere Hinwendung zur Atlantik-Route ist das erhöhte Risiko einer Überfahrt über das Mittelmeer. Laut der Seenotrettungsorganisation SOS Humanity bleibt zudem die Situation für Migranten besonders in Tunesien und Libyen angespannt.Die Überfahrt auf die Kanaren führt ab Senegals Küste etwa 1.000 Kilometer weit über den Ozean. Im Atlantik gibt es keine Rettungsboote von NGOs wie im MittelmeerDas Durchqueren der Sahara ist mit Risiken wie Dehydrierung, Krankheiten oder Gewalt verbunden, denen die Menschen ausgeliefert sind. Dadurch verlagert sich die Migrationsbewegung nach Europa auf alternative Routen, von denen die atlantische eine ist. Die Überfahrt auf die Kanaren führt ab der senegalesischen Küste etwa 1.000 Kilometer weit über den Ozean.Auch von anderen westafrikanischen Ländern wie Mauretanien, Marokko oder Gambia legen Pirogues ab, die nie für eine Fahrt auf hoher See konstruiert wurden. Bis zu zwei Wochen kann die Überfahrt dauern, in dieser Zeit harren die Migranten in den Booten aus.Nichtregierungsorganisationen mit Rettungsbooten, wie es sie im Mittelmeer gibt, existieren im Atlantik nicht – zu weitläufig ist die Fläche, auf der patrouilliert werden müsste. Das macht die atlantische Route zum tödlichsten Weg gen Europa: Nichtregierungsorganisationen wie die spanische Caminando Fronteras schätzen, dass über 10.000 Menschen auf der Route über den Atlantik gestorben sind. Die genaue Zahl der Toten weiß niemand.Placeholder image-4Auch die Gemeinde Thiaroye-sur-Mer vermisst Bewohner, die sich an die Überfahrt gewagt haben. Moustapha Diouf kannte einige von ihnen persönlich. „Wenn ich höre, dass wieder jemand vermisst wird, tut es mir weh“, sagt er und blickt auf die Boote, die im flachen Wasser wippen.Als er sich vor fast 20 Jahren auf den Weg machte, kam er auf den Kanaren an und wurde nach wenigen Wochen auf Teneriffa wieder in den Senegal ausgewiesen. Er überlebte. Doch was er auf der einwöchigen Überfahrt erlebte, hat ihn geprägt.Diouf geht in die Schulen, klärt über die Risiken der Route auf. Was ihn empört, ist die fehlende Unterstützung von Politik und BehördenSein Boot hatte nicht genügend Nahrung an Bord, Passagiere starben und wurden ins Meer gestoßen. Diouf wird das nie vergessen. Er möchte, dass niemand mehr diese Gefahren auf sich nimmt, dass kein junger Senegalese mehr in eines der Boote steigt. Dafür gründete Diouf den Verein AJRAP. Das steht für Association des Jeunes Rapatriés de Thiaroye-sur-Mer (Verein der jungen Heimkehrer von Thiaroye-sur-Mer).Diouf spricht zu den Menschen in seinem Ort, geht in die Schulen, klärt über die Risiken der Route auf. Doch ihm fehlt die Unterstützung der Behörden: „Kein Politiker kam jemals hierher“, empört er sich. Trotz Dioufs Bemühungen machen sich immer mehr Menschen auf den Weg Richtung Kanaren – auch aus Thiaroye-sur-Mer.Placeholder image-3Der Senegal gilt als das stabilste Land Westafrikas, es blieb nach der Unabhängigkeit im Jahr 1960 frei von Kriegen. Trotzdem sieht Diouf die Perspektivlosigkeit der jungen Menschen seiner Gemeinde als Grund für steigende Migrationszahlen. Sie würden weniger Fische fangen als früher, auch ein Fischereiabkommen der EU aus dem Jahr 2019, wonach europäische Fangflotten gegen Kompensationszahlungen in senegalesischen Gewässern fischen dürfen, sei ein Grund. Zwar lief das Abkommen 2024 aus, dennoch ist auch jetzt noch jeder zweite Fischtrawler vor der Küste Senegals in ausländischem – meist spanischem oder chinesischem – Besitz.Senegal erhielt vergangenes Jahr 30 Millionen von der EU, um gegen illegale Migration vorzugehen. Moustapha Diouf findet das Agieren der EU heuchlerischUm die Migration einzudämmen, reagierte der Senegal im Jahr 2022 mit der „Nationalen Strategie zur Bekämpfung der Irregulären Migration“. Fünf Punkte wurden benannt, um die Abwanderung zu unterbinden: Prävention, Sicherung der Grenzen, das Vorgehen gegen Netzwerke von Schleusern, der Schutz von Hilfsbedürftigen und die Rückführung und Reintegration von Migranten. Doch noch immer ist jeder fünfte Migrant, der auf den Kanaren strandet, aus dem Senegal.Das Land erhielt letztes Jahr 30 Millionen von der EU, um gegen illegale Migration vorzugehen. Zusätzlich ist die spanische Guardia Civil unmittelbar vor der Küste Westafrikas aktiv und fängt dort vereinzelt Boote auf dem Weg zu den Kanaren ab. Für Moustapha Diouf sind die europäischen Bestrebungen heuchlerisch. Er fordert „konkrete Projekte, damit die Jugend hier im Land Arbeit finden kann“.Placeholder image-5Am Strand von Thiaroye-sur-Mer blickt er aufs Meer: „In Afrika haben wir die Sonne, wir haben Öl, wir haben Gas, wir haben das Meer und wir haben eine Jugend. Aber was bleibt für uns übrig, um uns zu entwickeln?“ Westliche Länder würden von den Bodenschätzen im Land mehr profitieren als der Senegal selbst, so Diouf. „Ich kämpfe weiterhin gegen die Migration, weil sie nicht gut für unsere Bevölkerung ist.“!—- Parallax text ends here —-!Sein Verein AJRAP habe bis heute noch keine finanzielle Unterstützung der Regierung bekommen, noch immer sei er der einzige, „der von Tür zu Tür geht und mit den Menschen spricht“, so Diouf. Doch er wird auch in Zukunft nicht aufhören, die Jugend seiner Gemeinde zu sensibilisieren, über die Gefahren und seine Erfahrungen auf dem Meer zu berichten. Solange, bis er nie wieder davon hört, dass ein junger Senegalese bei der Überfahrt verschwunden ist.