In Russland wie auch im Westen ist der Einsatz der Atombombe rhetorisch ins Spiel gebracht worden. Dass daraus Realität werden kann, dafür sprechen die aktuellen Entwicklungen rund um die Ukraine und die militärische Lage dort
April 2022: In der Ukraine regnet es russische Bomben
Foto: Yasuyoshi Chiba/Getty Images
Es ist wieder an der Zeit: Wer in diesen Tagen die Nase in den Wind hält, dem sagt der vertraute Duft von Glühwein, Lebkuchengewürz und Ausstecherplätzchen, dass das Fest der Liebe und des Friedens naht. Zugleich liegt etwas Anderes, Gegenteiliges in der Luft: der Krieg und seine Eskalation, in der Ukraine, wo er seit nun über 1.000 Tagen tobt, und über deren Grenzen hinaus. Über die Erde zog schon lange kein derartiger Brandgeruch mehr wie heute.
Als am 24. Februar 2022 Russland völkerrechtswidrig in sein Nachbarland Ukraine einmarschierte und der Westen entschied, die Ukraine militärisch zu unterstützen, waren die roten Haltelinien klar markiert. Man werde, betonte US-Präsident Joe Biden, die Ukraine mit Geld und allem nötigen Kr
Joe Biden, die Ukraine mit Geld und allem nötigen Kriegsgerät zu ihrer Selbstverteidigung unterstützen, nicht aber mit eigenen Truppen. Im Krieg standen sich somit zwar von Anfang an die Industriepotenziale des „Westens“ und Russlands gegenüber. Der Westen strafte Russland auch mit nie zuvor dagewesenen Sanktionen – vom Ausschluss aus US-dominierten internationalen Zahlungssystemen bis zum Einfrieren und Zweckentfremden von Russlands Staatsvermögen im Ausland. Aber einen direkten Krieg mit der Atommacht Russland werde man, so Joe Biden besonnen, nicht führen, weil das den Dritten Weltkrieg bedeuten würde, in dem aller Wahrscheinlichkeit nach auch Atomwaffen zum Einsatz kommen würden.„Im Krieg mit Russland“Zwar gab es schon damals diesseits und jenseits des Atlantiks Revolvermaulhelden und Sofageneräle, die bereit waren, mit den Leben anderer Menschen „all in“ zu gehen: Der Autor Deniz Yücel etwa forderte eine Flugverbotszone, ohne sich darum zu scheren, dass dies mit der Bereitschaft, russische Flugzeuge abzuschießen, auch den direkten Luftkrieg zwischen der NATO und Russland bedeuten würde. Die Welt-Kolumnistin Anna Schneider wünschte sich gleich zu Kriegsbeginn einen direkten Krieg gegen Russland und erhielt später indirekte Unterstützung von der Linksliberalen Eva Illouz, die am 80. Jahrestag der Sportpalastrede von Joseph Goebbels, in dem dieser den „totalen Krieg“ gefordert hatte, auf Zeit online vom „totalen Sieg“ über Russland träumte.Ja, vereinzelt gab es sogar einflussreiche Politiker wie Deutschlands Oppositionsführer und Kanzler im Wartestand Friedrich Merz (CDU), die schon unmittelbar nach Kriegsbeginn bereit für ein direktes Eingreifen der NATO waren. Aber während sich vermutlich nicht wenige von ihnen längst in einem direkten „Krieg mit Russland“ wähnten, so blieben sich die Staatsführer bei allem Zündeln doch einigermaßen im Klaren über die Gefahr einer Eskalation im Atomzeitalter.Placeholder image-3In diesem befindet sich die Welt seit dem weltgeschichtlich ersten erfolgreichen Atombombentest. Die USA führten ihn am 16. Juli 1945 durch. Seitdem gelten offiziell fünf Staaten als Atomwaffenmächte, inoffiziell sind es mehr: Israel zum Beispiel besitzt die Atombombe, der Iran wird verdächtigt, sie zu bauen. Die USA und Russland kontrollieren in etwa 88 Prozent der globalen Atomsprengköpfe. In der Geschichte des Krieges wurden erst zwei Atombomben gezündet. Am 6. und 9. August desselben Jahres zündeten die USA sie – ohne militärische Notwendigkeit – über den japanischen Städten Hiroshima und Nagasaki. 100.000 Menschen, davon mehr als 90 Prozent Zivilistinnen und Zivilisten, starben damals sofort, bis Ende des Kalenderjahres steigerte sich die Zahl der Todesopfer auf 150.000 bis 246.000.Die Kuba-Krise 1962 und deren BeilegungIn der Nationalen Friedensgedenkhalle für die Opfer der Atombombe, die die USA im Zweiten Weltkrieg über der japanischen Stadt Nagasaki zündeten, steht an prominenter Stelle das Motto: „Die Bombe auf Nagasaki war das zweite Mal, dass eine Atomwaffe in einem Krieg eingesetzt wurde: Lasst es das letzte Mal sein!“ Bis heute ist es das letzte Mal geblieben. Aber die Welt stand immer wieder nah am Abgrund eines atomaren Dritten Weltkriegs. Nachdem die Sowjetunion 1961/62 versuchte, ihre strategische Unterlegenheit in Bezug auf Atomsprengköpfe und Trägersysteme auszugleichen und auf die Aufstellung US-amerikanischer nuklear bestückten Atomraketen in Großbritannien, Italien und der Türkei mit der Stationierung von Luftabwehr- und Mittelstreckenraketen im revolutionären Kuba, also vor der Küste der USA, reagierte, stand die Welt mit dieser „Kubakrise“ Ende Oktober 1962 am Rande eines Atomkriegs.Placeholder image-2Die Situation entspannte sich erst durch Verhandlungen, in denen die Sowjetunion die Raketen aus Kuba wieder abzog, während die USA im Gegenzug zusicherten, ihrerseits die Raketen aus der Türkei abzuziehen und auf weitere Invasionsversuche in Kuba zu verzichten. Es folgte – trotz verschiedener Stellvertreterkriege wie dem in Vietnam – ein längere Phase der Entspannung, die der sowjetische Präsident Nikita Chruschtschow am 30. Oktober 1962 mit einem Brief an US-Präsident John F. Kennedy einleitete, indem er ein Friedensabkommen, den Verzicht auf Atomtests, die Abschaffung von Atomwaffen, die völkerrechtliche Anerkennung beider deutscher Staaten und der Regierung der Volksrepublik China vorschlug.!—- Parallax text ends here —-!Rund um den NATO-Doppelbeschluss vom Dezember 1979 kam die Welt dem Atomkrieg erneut nahe: Als am 26. September 1983, auf dem Höhepunkt des „zweiten Kalten Krieges“ (Fred Halliday), die Computer eines sowjetischen Frühwarnsystems Alarm schlugen und einen amerikanischen Atombombenangriff meldeten, war die Verhinderung eines Nuklearkriegs nur dem beherzten Eingreifen eines sowjetischen Offiziers, Stanislaw Petrow, zu verdanken, der einen Fehlalarm vermutete und die vorgeschriebenen Reaktionsschritte unterließ. Als zwei Jahre später Michail Gorbatschow und Ronald Reagan in Genf zusammentrafen, einigten sie sich am 21. November 1985 auf die gemeinsame Erklärung: „Ein Atomkrieg kann niemals gewonnen werden und darf niemals geführt werden.“Dies war bislang Konsens, ebenso wie das Ziel der atomaren Nichtverbreitung und atomaren Abrüstung. Noch am 3. Januar 2022, wenige Wochen vor Kriegsbeginn, bekräftigten die fünf Atommächte China, Frankreich, Russland, Großbritannien und die USA diese Selbstbeschränkung in einem gemeinsamen Statement: „Wir bekräftigen, dass ein Atomkrieg nicht gewonnen und niemals geführt werden darf.“ Man sei „entschlossen, in einem auf gegenseitigem Respekt beruhendem konstruktivem Dialog die Sicherheitsinteressen und Sorgen des jeweils anderen zu gewährleisten.“2022: Russland und der Westen nutzen erneut die „nukleare Abschreckung“Seit Beginn des Krieges in der Ukraine hat Russland, das – vor dem Hintergrund historischer Überfälle auf sein Land (wie 1918 während der Oktoberrevolution oder 1941 beim deutschen „Vernichtungskrieg im Osten“) – für sich das Recht auf eine „nukleare Abschreckung“ reklamiert, nun allerdings offen mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht: Wer Russland in seiner nationalen Sicherheit bedrohe, „der muss wissen, dass Russlands Antwort unmittelbar sein wird. Und sie wird zu Konsequenzen führen, wie Sie sie nie in ihrer Geschichte erlebt haben“, drohte der russische Präsident Wladimir Putin zu Beginn des Krieges.Placeholder image-1Während der Überprüfungskonferenz zum Atomwaffen-Nichtverbreitungsvertrag Ende Juli 2022 in New York kritisierte US-Außenminister Anthony Blinken die russische Rhetorik als „gefährliches nukleares Säbelrasseln“. Annalena Baerbock sprach von „rücksichtsloser nuklearer Rhetorik“. Tatsächlich aber ist auch vom Westen der Einsatz der Atombombe rhetorisch ins Spiel gebracht worden. Der französische Außenminister Jean-Yves Le Drian reagierte auf Putins Erklärung mit einem Statement: Der russische Staatschef müsse „verstehen, dass die Atlantische Allianz ein Atombündnis ist.“ In amerikanischen Medien wurde – fußend auf historischen Plänen der atomaren Kriegführung – darüber spekuliert, ob man Atomkriege führen und gegebenenfalls gewinnen könne.!—- Parallax text ends here —-!Der ehemalige Brigadegeneral der Bundeswehr, stellvertretende Leiter der Stabsabteilung Militärpolitik im Verteidigungsministerium und militärpolitische Berater der deutschen Ständigen Vertretung bei der NATO in Brüssel, Helmut W. Ganser, sprach damals in der taz von einer „unfassbaren Nonchalance“ im Umgang mit Atomwaffen und Fragen eines Nuklearkriegs. Währenddessen hatte sich auch die deutsche Außenministerin vor ihrer Kritik an der russischen Rhetorik positiv auf die „nukleare Abschreckung“ bezogen. Diese Abschreckung der NATO, sagte sie im März 2022, müsse „glaubhaft bleiben“, die Atomwaffen der NATO seien wichtig.Die militärische Lage in der Ukraine spitzt sich zuDie Drohungen mit Atomwaffen ruhten für eine Zeit. In dem Maße, in dem sich die Lage in der Ukraine zuspitzt, sind aber auch sie wieder da. In der Ukraine droht die Front zusammenzubrechen. Russland hat mit etwa 1.100 Quadratkilometern von September bis November dieses Jahres mittlerweile mehr als dreimal so viel Territorium erobert wie im gesamten vergangenen Jahr. Die Hoffnung, dass der Einmarsch ukrainischer Streitkräfte rund um Kursk in Russland zum Teilabzug von Truppen führen würde, hat sich nicht bewahrheitet. Die Front im Donbass wurde durch dieses Vabanquespiel geschwächt.Zugleich zeigt sich immer mehr die numerische Überlegenheit Russlands, auch weil sich in der Ukraine immer mehr Kriegsmüdigkeit bemerkbar macht: Mehr als 600.000 wehrfähige Ukrainer haben sich dem Verbot, das Land zu verlassen, widersetzt. Mehr als 150.000 „kriegsverwendungsfähige“ ukrainische Männer sind desertiert, mehr als 10.000 von ihnen sitzen wegen Wehrkraftzersetzung in den Gefängnissen. In den sozialen Medien zählen Gruppen, mit denen sich ukrainische Männer gegenseitig vor Zwangsrekrutierungskommandos der Regierung warnen, über 200.000 Mitglieder.Vor diesem Hintergrund sind die Forderungen von CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter zu erklären, durch Streichung des Bürgergelds „Anreize“ zu schaffen, damit die nach Deutschland geflohenen Männer in die Ukraine zurückkehren und von dort an die Front geschafft werden. Die US-Regierung rät der ukrainischen Regierung, nun auch die jüngste Generation ab 18 für den Krieg heranzuziehen.Im Übrigen haben diejenigen, die nicht mehr kämpfen wollen, zunehmend Rückhalt in der Bevölkerung: Stieg seit dem Sommer der Teil der Bevölkerung, der ein Kriegsende auch zum Preis von Territorialverlusten wünscht, auf über ein Drittel an, gab es zuletzt erstmalig eine Mehrheit für die Antikriegsposition. Einer Umfrage des US-amerikanischen Instituts Gallup ergab, dass 52 Prozent „Verhandlungen, die den Krieg so schnell wie möglich beenden“, fordern, während nur noch 38 Prozent meinen, „die Ukraine soll weiterkämpfen, bis der Krieg gewonnen ist“.Placeholder image-4Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat – unter dem Eindruck eines drohenden Friedensdiktats seitens des designierten US-Präsidenten Donald Trump – mittlerweile von seiner „Friedensformel“, d.h. dem maximalistischen Ziel der Rückeroberung von Krim und Donbass, sowie von dem Dekret, das Verhandlungen mit Putin verbietet, Abstand genommen und stellt einen Friedensschluss durch Diplomatie schon fürs kommende Jahr in Aussicht. Trotzdem steht er in Umfragen beim Negativwert von nur noch 22 Prozent Unterstützung, dem niedrigsten Wert seit seinem Wahlsieg von 2019.!—- Parallax text ends here —-!Der Westen steht vor ZäsurenKurz: Die ukrainische Front droht zusammenzubrechen. Damit droht aber auch der Westen zu verlieren, der mit der Wahl Donald Trumps und – in geringerem Maße – auch der Bundestagswahl in Deutschland vor einer Zäsur steht. Kurzsichtige und teilweise verzweifelte Handlungen sind die Folge. Sie berühren aber auch die russische Atomdoktrin und machen die letzten Monate der Biden-Regierung zu einem sehr gefährlichen Moment.Die russische Atomdoktrin, die bis dahin im Juni 2020 letztmalig aktualisiert worden war, ist im Westen bekannt. Die russische Staatsführung hat immer wieder betont, dass sie taktische Atomwaffen als Vergeltungsmaßnahmen durch feindliche Angriffe mit Atomwaffen einsetzen wird, wenn auch durch konventionelle Angriffe „die Existenz des Staates bedroht ist“. Fachleute gehen davon aus, dass zwei Situationen dazu führen dürften, diese Drohungen wahrzumachen: Erstens, wenn Russland an den Rand einer militärischen Niederlage gebracht wird, und zweitens im Falle von massiven Angriffen auf seine nationalen Zentren, namentlich auf Moskau und Sankt Petersburg.Im Spätsommer 2022, als die ukrainischen Streitkräfte erhebliche Geländegewinne machten, war die Welt schon einmal am Rande einer Katastrophe. Die USA vermuteten, dass Russland, um eine strategische Niederlage in der Ukraine zu verhindern, eine taktische Atomwaffe zünden würde. Vorkehrungen wurden getroffen, mit welchen Waffengattungen die USA in dieser Situation direkt in den Krieg eingreifen könnten.Verschiedene Szenarien wurden erörtert, einschließlich des Einsatzes von massiven Vergeltungsschlägen gegen Militäreinrichtungen in Russland. Eine ähnlich gefährliche Situation ergab sich in diesem Jahr, als ukrainische Drohnen das russische Frühwarnsystem gegen nuklear bestückte Lang- und Mittelstreckenraketen aus dem Indischen Ozean ausschalteten, was nach der bis hierhin geltenden russischen Atomdoktrin den Einsatz von Atomwaffen gerechtfertigt hätte.Die Modifizierung der russischen AtomdoktrinHeute hat sich die Situation verglichen mit dem Spätsommer 2022, als Russland auf der Verliererstraße schien, gedreht. Russland hat Oberwasser. Angesichts der numerischen Überlegenheit sucht man im Westen nach neuen „Game Changern“. So erlaubte US-Präsident Joe Biden kurz vor seinem Ausscheiden aus dem Amt und nach 1.000 Tagen Ukrainekrieg den Einsatz von ATACMS-Mittelstreckenraketen im russischen Hinterland. Es folgten Angriffe mit britischen „Storm Shadows“ und US-amerikanischen ATACMS. Die russische Staatsführung sprach von sechs ATACMS-Raketen, die die ukrainische Regierung auf die Region Bryansk abgefeuert habe, von denen aber fünf abgefangen worden seien und die sechste nur geringe Schäden in einer Militäranlage verursacht habe, da sie von russischem Flugabwehrkanonen beschädigt worden sei.Der Kreml hatte im Vorfeld wiederholt gewarnt, dass die Freigabe von Mittelstreckenraketen des Typs ATACMS als eine direkte Kriegsbeteiligung der USA angesehen würde. Der russische Außenminister Sergej Lawrow erklärte, man werde dies „als eine qualitativ neue Phase des Krieges des Westens gegen Russland einstufen und entsprechend darauf reagieren“. In einer Rede sprach Putin darüber, dass der Ukrainekrieg nun einen „globalen Charakter“ eingenommen habe.Zugleich hat die russische Staatsführung inzwischen ihre Atomdoktrin in insgesamt 26 Absätzen modifiziert. Mehrere Änderungen stechen heraus. Erstens wird nun eine Aggression gegen den Bündnispartner und Nachbarstaat Belarus auch als Aggression gegen Russland gesehen. Der Einsatz von Atomwaffen ist nunmehr schon im Fall einer „ernsten Bedrohung“ der „Souveränität“ und „territorialen Integrität“ beider Staaten vorgesehen. Der Paragraf 10 der russischen Atomdoktrin wurde dahingehend geändert, dass künftig gilt, dass – so Russlands Botschaft an die NATO – ein Angriff irgendeines Staates auf Russland oder Belarus als eine Aggression des gesamten Militärbündnisses, dem er angehört, angesehen wird.Mit Blick auf die Ukraine wurde der Paragraf 11 dahingehend geändert, dass Russland künftig Angriffe gegen sich „und/oder seine Verbündeten“, die ein „nicht über Atomwaffen verfügender Staat mit der Beteiligung oder Unterstützung einer Atommacht“ durchführt, zukünftig „als einen gemeinsamen Angriff betrachten wird.“ Bereits im September hat der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko betont, dass ein Angriff auf sein Land „den Dritten Weltkrieg auslösen“ würde.Die Entsendung eigener westlicher TruppenMit Blick auf die NATO-Osterweiterung und die Bestrebungen der Selenskyj-Regierung, in die NATO und die – mit noch weitreichenderen Militärverpflichtungen einhergehende – Europäische Union aufgenommen zu werden, weitet die neue russische Atomdoktrin zweitens die Liste der militärischen Gefährdungen, die eine atomare Reaktion zur Folge haben kann, aus. Sie beinhaltet nun den Besitz von Massenvernichtungswaffen, die gegen Russland zum Einsatz kommen können, sowie das Abhalten von Militärmanövern an Russlands Grenzen.Dazu erlaubt die neue Atomdoktrin mit Blick auf die Landverbindung zur Krim oder die – im Ergebnis des Zweiten Weltkriegs an Russland gegangene – Oblast Kaliningrad an der Ostsee den Einsatz von (taktischen) Atomwaffen im Falle des Versuchs, einen Teil des russischen Territoriums zu isolieren. Und mit Blick auf mögliche Einsätze von westlichen Mittelstreckenraketen gegen russische Atomkraftwerke und dergleichen sieht die neue russische Atomdoktrin den Einsatz von Atomwaffen im Fall von gezielten Angriffen auf potenziell umweltschädliche Einrichtungen für gerechtfertigt.Russische Diplomaten erklärten, dass die Krise der Kubakrise von 1962 ähnelt. Der Westen dürfe nicht den Fehler machen zu glauben, dass Russland in der Ukrainefrage klein beigeben werde. Zugleich, betonte der stellvertretende Außenminister Sergej Riabkow, der für Rüstungskontrolle und US-russische Beziehungen zuständig ist, dass „die Gefahr eines bewaffneten Zusammenpralls von Atommächten nicht unterschätzt werden“ dürfe und man sich „durch militärisch und politisch unbekanntes Gebiet“ bewege, für das es keine „Analogien in der Vergangenheit“ gebe. Kremlsprecher Dmitri Peskow nannte die neue Doktrin eine „nukleare Abschreckung mit dem Ziel, „sicherzustellen, dass ein potenzieller Gegner versteht, dass im Falle einer Aggression gegen den russischen Staat oder seine Verbündeten die Vergeltung unausweichlich ist“.Der französische Außenminister Jean-Noel Barrot hat erklärt, dass die Absenkung der Schwelle für Atomschläge bloße „Rhetorik“ sei. Man sei „nicht eingeschüchtert“. Die NATO-Staaten sollten sich in der Auseinandersetzung mit Russland „keine roten Haltelinien auferlegen. Schon im Februar hatte der französische Präsident Emmanuel Macron gesagt, dass man „nichts ausschließen“ werde, auch nicht die Entsendung eigener westlicher Truppen. Man werde „alles tun, was wir können, um zu verhindern, dass Russland diesen Krieg gewinnt.“Dazu gehören mittlerweile auch die Tabubrüche eigener NATO-Truppen, die die wankende Ukraine-Armee ersetzen sollen. In Großbritannien und Frankreich wird dies in der Regierung erwogen; in Deutschland brachte Carlo Masala von der Bundeswehr-Hochschule eine „Koalition der Willigen“ aus Europa ins Spiel. Noch 2022 hatte er auf Twitter „ein Eingreifen der NATO (…) aufgrund der daraus folgenden Konsequenzen“ ausgeschlossen. Der Krieg ist damit offenbar in seine womöglich letzte, in jedem Fall aber „gefährlichste Phase“ eingetreten.