Eine Betrachtung zum „Tatort“ von Torsten Kohlschein

Chemnitz.

Man sitzt am Ende aufrecht im Sessel und fragt sich: „Warum ist da vorher noch niemand drauf gekommen?“ „Schweigen“, die jüngste „Tatort“-Folge vom Norddeutschen Rundfunk, geht dahin, wo’s wehtut. Dahin, wo es der Gesellschaft nicht nur der Bundesrepublik schon seit rund 15 Jahren offiziell wehtut, sondern Tausenden von Betroffenen seit Jahrzehnten. Oder seit Jahrhunderten gar? Ohne dass sie je Gehör gefunden hätten. Nicht in den Medien, nicht in der Politik – erst recht nicht in der Kirche: Es geht um sexuellen Missbrauch von Kindern durch die römisch-katholische Geistlichkeit. Zum ersten Mal im „Tatort“.

In deren Obhut hat sich Bundespolizist Thorsten Falke (Wotan Wilke Möhring) nach dem Tod seiner Kollegin Grosz begeben. Zu einer Auszeit ins abgelegene Kloster St. Joseph, irgendwo da, wo Niedersachsens Christen ganz aus der Art geschlagen mehrheitlich der römischen Spielart ihrer Religion anhängen. Dass bei „Schweigen“ eine Anstalt Regie führt, in deren Einzugsbereich die Katholiken in der Diaspora sind, im Gegensatz zu den meisten anderen (westdeutschen) Sendern des ÖRR, ist zumindest besonderer Erwähnung würdig. Jeder kann sich selbst seinen Reim darauf machen.

Thorsten Falke (Wotan Wilke Möhring) hat fertig mit der Katholischen Kirche.

Thorsten Falke (Wotan Wilke Möhring) hat fertig mit der Katholischen Kirche. Bild: Kai Schulz/NDR

Mit der Auszeit ist es jedenfalls für Falke bald vorbei. Beim Brand seines Wohnwagens kommt eines Nachts Pastor Otto, der Leiter des Klosters (Hannes Hellmann), ums Leben. Durch Zufall entdeckt Falke, eigentlich zu Ermittlungen nicht befugt und gebremst von der örtlichen Kollegin Eve Pötter (Lena Lauzemis), in Ottos Nachlass kinderpornografisches Material in rauen Mengen, aufbereitet zu einer Art Kartei für die Vermittlung von Knaben an „Brüder im Geiste“. Wer hat Otto auf dem Gewissen, wen wiederum er?

In der atmosphärisch dicht erzählten, brillant besetzten und gespielten, am Ende gar noch richtig spannenden Milieustudie von Stefan Dähnert (Buch) und Lars Kraume (Regie) ist es wie so oft in diesen Fällen: Man kratzt an einer Stelle etwas frei, und es offenbart sich ein Abgrund von Missbrauch, Abhängigkeit, Verlogenheit in einem Staat im Staate, der über Menschengedenken agiert hat, als gäbe es keine über ihm stehende Gerichtsbarkeit. Wie sagt Falke: „In der katholischen Kirche können Sünden vergeben werden. Und wo keine Sünder sind, gibt’s auch keine Opfer mehr.“

Am Ende haben alle ihre Finger drin. Und sei es aus falsch verstandener Loyalität zu den eigenen Dienstherren. Gegenüber einem Klosterbruder platzt Falke schließlich der Kragen. Dieser hatte bereits 35 Jahre zuvor Pastor Otto bei der Diözese angezeigt, worauf aber nichts geschah. Dennoch insistierte er nicht oder ging gar zur Polizei. Falke schreit ihn an: „Ich verstehe das einfach nicht! Die Menschen kommen zu euch, weil sie glauben wollen! Und der Mensch muss doch an was glauben! Und was macht ihr? Ihr verratet sie! Ihr vergeht euch an den Unschuldigsten, an den Kindern! Diese ganze Scheiße hier von Sündenfall und Buße und Beichte und Ablass! Es geht doch immer nur um Macht!“

Ein großer, zu Herzen gehender Moment im deutschen Fernsehen, „Schweigen“ ist ein Glanzpunkt im „Tatort“-Jahrgang 2024.


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Torsten Kohlschein ist Redakteur im Ressort Kultur.

Torsten Kohlschein ist Redakteur im Ressort Kultur. Bild:



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Von Veritatis

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