Das BSW fordert eine realistische Friedenspolitik für die Ukraine und eine nachhaltige Einwanderungspolitik, die Eingewanderte wie Eingesessene nicht neoliberal alleine lässt. Für unseren Autor schließt es so gefährliche Lücken im Diskurs
Gern komme ich der Bitte nach, die Art von Einwänden zu kommentieren, die üblicherweise von „links“ gegen die Programmatik des BSW erhoben werden. Ich schicke voraus, dass mir Sahra Wagenknechts Initiative auch deshalb begrüßenswert scheint, weil sie Denkverbote nicht nur der etablierten Parteien, sondern auch der Linken, Partei oder nicht, mutig und produktiv in Frage stellt.
Ich konzentriere mich hier aus Platzgründen auf die Außen- und Friedens- sowie die Einwanderungspolitik. Damit direkt zur Ukraine, wo so viel Leben auf dem Spiel steht – und schon vernichtet ist – dass es nur um Krieg und Frieden gehen kann, nicht um Schuld und Sühne. Um die Ukraine herum ist die internationale Ordnung kollabiert – oder nie zustande geko
und Sühne. Um die Ukraine herum ist die internationale Ordnung kollabiert – oder nie zustande gekommen –, ohne die es auf dem eurasischen Kontinent kein sicheres Leben gibt.Man muss nicht unbedingt darauf antworten, wer nicht gut genug aufgepasst hat, als sich die Spannungen zwischen den USA und dem in den 1990ern unter deren Oberhoheit zerfledderten Russland wieder verdichteten – auch wenn mir die Größenverhältnisse und die Vorherrschaftsansprüche der einen Seite eine Antwort nahelegen. Nun, da wir Krieg haben statt Wladimir Putins Freihandelszone von Lissabon bis Wladiwostok, was von 2010 bis 2014 Russlands Vorschlag zur Befriedung Eurasiens war, kommt es darauf nicht mehr an.Putin hat nicht die Eroberung Westeuropas zum ZielJetzt kann es, anders als für die abgewirtschafteten amerikanischen Neocons und ihre deutsch-grünen Konvertiten, nur noch darum gehen, das Blutvergießen nach den Regeln des Völkerrechts zu beenden. Ziel muss ein System gemeinsamer Sicherheit sein, indem alle Länder Eurasiens ihre Interessen wiederfinden, unter Wahrung ihrer Souveränität – ein Schweigen der Waffen als Ausgangspunkt für stabile Koexistenz, vielleicht sogar für etwas wie Wandel durch Annäherung.Placeholder image-2Um diesen Gleichgewichts- oder auch nur Kompromisspunkt zu finden, braucht es, was Wagenknecht und ihre Mitstreiter unablässig fordern: Diplomatie – im Dienste eines friedenspolitischen Realismus, den Teile der Linken erstaunlich schnell gegen ein amerikanisch inspiriertes „demokratisches“ Sendungsbewusstseins eingetauscht haben.Nur das BSW sagt mit der erforderlichen Deutlichkeit, wovon wir dabei Abstand nehmen müssen. Wäre es unser Kriegsziel, Putin in Moskau abzuholen und in Den Haag vor Gericht zu stellen, wird es Jahre- oder jahrzehntelang nur eine Fortsetzung des Sterbens in der Ukraine und – vielleicht bald – anderswo geben. Dasselbe gilt, wenn wir uns weiter einreden lassen, dass das wahre russische Kriegsziel nicht die Verhinderung NATO-amerikanischer Mittelstreckenraketen an der russisch-ukrainischen Grenze war und ist, sondern die Eroberung Westeuropas.!—- Parallax text ends here —-!Solche Fantasien werden verbreitet, um Pläne für eine nie dagewesene europäische Aufrüstung zu rechtfertigen, vergleichbar der amerikanischen Aufrüstung in der Ära von George W. Bush und Dick Cheney, die außer Mega-Profiten für die Waffenindustrie nur einen Rüstungswettlauf bringen wird, der jederzeit in der Katastrophe enden kann.Das BSW unterscheidet zwischen Deutschland und den USAZu alledem wäre noch viel zu sagen. Was das BSW hier beiträgt, ist die Forderung an die deutsche Politik, sich der besonderen deutschen Interessen an Sicherheit und Frieden anzunehmen. Wo es um Leben und Tod seiner Bürger geht, darf ein demokratischer Staat die Bestimmung der Ziele, der Strategie und Taktik in einem Krieg, an dem er mehr oder weniger beteiligt ist, nicht anderen überlassen – in diesem Fall weder der absteigenden Weltbeherrschungsmacht USA noch dem undurchsichtigen Regime in Kiew. Dass der Ukrainekrieg vor allem auch ein amerikanischer Stellvertreterkrieg ist, ist jenseits der deutschen Nibelungentreue ein Gemeinplatz. Ein Geheimnis ist dagegen, was die USA damit wollen – vielleicht wissen sie es selber nicht, siehe Afghanistan, Irak, Libyen.Wenn die USA, Großbritannien, Frankreich, wenn EU und NATO heute verlangen, dass Deutschland in die Bresche springen muss, wenn die Amerikaner „Wir geben nichts“ an ihre Tür schreiben, welchem – und wessen – Zweck sollen dann die deutschen Waffen, das deutsche Geld und, vielleicht, deutsches Leben dienen? Anlässlich des kürzlichen Telefonats zwischen Olaf Scholz und Putin war zu hören, dass der Bundeskanzler zwei Jahre lang keinerlei direkten Kontakt mit dem russischen Präsidenten hatte – kaum zu glauben!Hat er Joe Biden für sich sprechen lassen – den Ukraine-Beauftragten der USA in den Obama-Jahren von 2009-2017, der im letzten halben Jahr nur noch 20 Wochenstunden Arbeit schaffte – ein Breschnew des 21. Jahrhunderts? Vielleicht gelingt es dem BSW im Wahlkampf und danach, auf eins aufmerksam zu machen: Unsere Verfassung verlangt nicht, dass unsere Regierung unser Land um eines ihr unbekannten, von anderen bestimmten und allem Anschein nach hoch unrealistischen Kriegszieles willen in Gefahr bringt. Schon das wäre ein Kreuz auf dem Stimmzettel wert.Integration, aber nicht als Kulturkampf – sondern sozial ernstgenommenWas die Einwanderung angeht, so ist in der deutschen Diskussion der Raum zwischen den Ethno-Nationalisten des rechten AfD-Flügels und einer Menschenrechtsrhetorik, die keinerlei Gründe anerkennt, jemandem die Einwanderung zu verweigern, sehr eng. Das BSW versucht, diesen Raum zu erweitern, auch weil es verstanden hat, dass die als human verkleidete, faktisch neoliberale Einwanderungspolitik der letzten Jahrzehnte der Neuen Rechten in Europa so starken Zulauf beschert hat – in Deutschland, Schweden, Finnland, den Niederlanden, Frankreich, Italien, Österreich usw.Eine nachhaltige, ernsthaft linke Einwanderungspolitik, die der ethno-nationalistischen Demagogie das Wasser abgraben könnte, müsste mindestens zwei Anforderungen erfüllen: Sie dürfte nicht als Kulturkampf gegen die Heimatfreunde betrieben werden, und sie müsste ernstnehmen, dass es im Sozialstaat Einwanderung nicht umsonst gibt. Nicht Einwanderung per se führt zu Xenophobie, sondern die Furcht vor unbegrenzter Einwanderung, verbunden mit dem Gefühl, dass Entgrenzung ein heimliches Ziel der gegenwärtigen Praxis sei und dass es dabei weniger um die Einwandernden geht als darum, der eingesessenen Mehrheit ihre irgendwie als illegitim empfundene Lebensweise auszutreiben. Getreu dem grünen Motto aus den 1990ern: „Liebe Ausländer, lasst uns mit den Deutschen nicht allein.“Wenn das ein Teil des Problems ist, muss eine nachhaltige linke Immigrationspolitik glaubhaft machen, dass sie es nicht zu einer Einwanderungswelle wie der von 2015 kommen lassen wird, als die Kanzlerin, wohl auch in Vorbereitung einer schwarz-grünen Koalition oder vielleicht als Hilfestellung für die USA im Syrienkrieg, die Kontrolle nationaler Grenzen für unmöglich erklärte.Begrenzung ist aber nicht alles. Eine linke Einwanderungspolitik, die politisch nachhaltig sein will, muss bestrebt sein, mindestens den Eingewanderten der zweiten Generation dieselben Chancen zu bieten wie alteingesessenen Kindern. Dazu sind deutsche Schulen aber besonders wenig in der Lage, ganz abgesehen davon, dass unser Schulsystem in internationalen Vergleich immer schlechter abschneidet. Eine Reparatur der Schulen als Voraussetzung einer akzeptablen Einwanderungspolitik – das Gegenteil von „Abschottung“! – würde auch gegen die weit verbreitete Angst alt-, aber auch neueingesessener Eltern helfen, dass ihre Kinder in Schulklassen, in denen nur ein Bruchteil der Schüler Deutsch versteht, nicht genug lernen, um später mehr als nur formal „integriert“ zu sein. Dasselbe gilt für die Kitas, von denen es darüber hinaus viel zu wenige gibt.Sozialpolitik muss auch Produktionspolitik heißenZurückgelassene Jugendliche landen oft in schlechter Gesellschaft. Sie nach neoliberaler Art für sich selber fechten zu lassen, kann sehr schief gehen. Auch muss, wer Zuwanderer aufnehmen will, einen Plan haben, wo und wie sie wohnen sollen. Sich in einem neuen Land niederzulassen ist nicht einfach, zumal nicht, wenn man unten einsteigen muss; Solidaritätsrhetorik hilft da nicht. Welchem Ideal von Integration wollen wir uns verschreiben, das verhindert, dass in und um Schrottimmobilien Ghettos entstehen?Placeholder image-1Wie wollen wir damit umgehen, dass Eingewanderte ihren Herkunftsländern, ihren oft großen, traditionstreuen Familien, ihrer Religion, auch ihren althergebrachten politischen Leidenschaften verbunden bleiben – reale „Vielfalt“, die mit einem Mal auch vielen auf der Linken unerwünscht ist? Viele Freunde Israels etwa werden sich unter muslimischen Jugendlichen nicht finden lassen.Zum Thema Wirtschaft nur noch einige Bemerkungen: Mehr noch als anderswo geht es hier um komplizierte Fragen, die erst noch gänzlich verstanden, und um Antworten, die erst noch entwickelt werden müssen. Dazu gehören die Folgen und Formen der in Gang befindlichen Entglobalisierung, die notwendige Umstellung auf inländische Energiequellen, auf Binnennachfrage und nicht zuletzt öffentliche Dienstleistungen, um eine stärkere Regionalisierung von Produktion und Konsum, die Reparatur der physischen und institutionellen Infrastruktur, die Wiederbelebung des Genossenschaftswesens, die Einführung neuer, gemeinschaftsbezogener Unternehmensformen, vor allem auch die Entschleunigung und Dezentralisierung der Finanzmärkte und so weiter.In der gegenwärtigen Programmatik des BSW sehe ich nichts, was den dringend nötigen Diskussionen über solche Fragen im Wege stünde. Zugleich sehe ich keine andere Partei, die in der Lage wäre, entsprechende Überlegungen einzubringen. Allgemein scheint es mir nötig, dass die wirtschaftspolitische Diskussion auf der Linken nicht nur sozial- und verteilungs-, sondern auch produktionspolitische Fragen aufnimmt und so ein Gegenmodell zur neoliberalen Wirtschaftsweise entwickelt, das sich nicht in Forderungen nach höheren Sozialleistungen erschöpft.Dem noch jungen BSW könnte es gelingen, zu diesen und ähnlich schwierigen Fragen eine nüchtern und faktenbasierte statt ideologisch und demagogisch geführte Diskussion auch auf der Linken zu eröffnen, ohne bequeme Problemverschiebung auf ein handlungsunfähiges „Europa“. Augen zu und durch, im Namen einer Gerechtigkeitsvorstellung, die viele nicht teilen, hilft hingegen niemandem.Wolfgang Streeck ist Soziologe und Direktor emeritus am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln