Nachdem der südkoreanische Präsident Yoon Seok-Yeol das Kriegsrecht in seinem Land ausgerufen hatte, zeigt sich erneut, wie fragil die Demokratie in der Republik ist
Nach der Ausrufung des Kriegsrechts: Südkoreanische Soldaten versuchen am 3. Dezember 2024 in die Nationalversammlung in Seoul einzudringen
Foto: Jung Yeon-Je/AFP via Getty Images
Es war nicht nur politisch eine der chaotischsten Nächte in der Geschichte Südkoreas. Nachdem Präsident Yoon Seok-Yeol am späten Abend um 22.28 Uhr des 3. Dezember das Kriegsrecht ausgesprochen hatte, Soldaten und Militär daraufhin Scheiben in der Nationalversammlung einschlugen und diese besetzten, um Abgeordnete daran zu hindern, das Gebäude zu betreten, geriet das Land kurzzeitig in eine Phase selten gesehener Unruhe.
Binnen sechs Stunden war der Spuk wieder vorbei. Vorerst, Abgeordnete widersetzten sich nämlich den militärischen Sperren, und um ein Uhr Ortszeit wurde die Anordnung des Präsidenten einstimmig von 190 Abgeordneten für ungültig erklärt. Für viele, die zu der Uhrzeit noch wach waren, wurde es eine schlaflose N
hlaflose Nacht. Alle jene, die erst am nächsten Morgen davon erfuhren, fragten sich konsterniert, ob sie denn wirklich schon wach sind. Eine Karikatur in der Tageszeitung Hankyoreh zeigt Yoon, wie er mit versifftem Hemd, ohne Schuhe und völlig derangiert nebst einem Baum aufwacht. Auf dem Boden liegen leere Soju-Flaschen, Kippen und zerknautschte Bierdosen, links daneben die von ihm unterschriebene Erklärung des Kriegsrechts, umringt wird er von Soldaten, die ihn, mit dem Rücken zugewandt, abschirmen. Yoon schaut sich verdattert um. „Was ist letzte Nacht passiert??“, fragt er sich. Als sei dieser einmalige Vorfall nicht mehr als eine promillegeschwängerte Kapriole, ein Exzess gewesen. Gerade in Südkorea gehört harter Alkoholkonsum zum Alltag wie nur in wenigen anderen Ländern: „work hard, play hard“ ist ein Lebensmotto, das aber zugleich in den letzten Jahrzehnten zu enormen abrasiven gesellschaftlichen Nebeneffekten geführt hat.Vor Jahren beschrieb der Philosoph Byung-Chul Han die koreanische Bevölkerung bereits als „Müdigkeitsgesellschaft“. Es beschreibt aber auch eine Nation, die permanent an der Grenze zum Burn-out lebt und sich verausgabt. Südkorea verfügt faktisch über keine exportrelevanten Ressourcen wie Kohle, Metalle oder Landwirtschaft. Die einzige nennenswerte Ressource ist der Mensch, respektive seine Arbeit. Krieg im eigenen LandAuch das ist der Grund, weshalb Südkorea neben der Elektronikindustrie seit vielen Jahren auf den Sektor Kulturexport setzt. Nach den internationalen Erfolgen von K-Pop (BTS, Blackpink), K-Movies (Parasite) und K-Food, gewann nun auch erstmalig eine südkoreanische Schriftstellerin, Han Kang, den Literaturnobelpreis. Man wähnt sich, nicht zu Unrecht, in der kulturellen Weltspitze angekommen.Aber ein Blick in die Geschichte verrät auch, wie fragil die südkoreanische Demokratie und somit die Gesellschaft eigentlich sind. Das ausgerufene Kriegsrecht erinnert viele Bürger:innen an den Mai 1980, als damals unter der Militärjunta von Chun Doo-Hwan Studentenproteste in Gwangju brutal und blutig niedergeschlagen wurden. Die Militärregierung argumentierte, es handle sich um einen Bürgerkrieg. Inoffizielle Quellen gehen von mindestens 2.000 Toten aus. Auch Yoon Seok-Yeol verwies während seiner Erklärung auf innerpolitische Gefahren. Die demokratische Oppositionspartei DPK sei, nachdem sie einen Haushaltsentwurf des Präsidenten blockiert hatte, Handlanger und Kollaborateur Nordkoreas, die dafür sorge, dass die Republik mit „Drogen überschwemmt“ würde. Klar ist aber auch, dass Yoon mit extrem schlechten Beliebtheitswerten zu kämpfen hat (nur noch 19 Prozent der Bevölkerung befürworten seine Politik), auch hat er im Parlament keine Mehrheit und steht strategisch gesehen mit dem Rücken zur Wand, auch innerhalb seiner Partei PPP.In Korruptionsskandale war außerdem seine Ehefrau Kim Keon-Hee verwickelt. Nachdem diese im Mai wegen einer geschenkten Luxushandtasche in die Schlagzeilen geraten war, sagte Yoon kurzfristig seinen Staatsbesuch in Deutschland ab, was nicht nur Wirtschaftsdelegationen mit großer Irritation quittierten. Auch so etwas hatte es in der Form noch nicht gegeben. Zudem hat kein Präsident so oft von seinem Veto Gebrauch gemacht wie Yoon. K-Trump, wie Yoon auch von Medien zum Amtsantritt 2022 genannt wurde, muss sich ob seiner scheinbar unüberlegten Aktion nun politisch verantworten. Die Opposition hat bereits ein Amtsenthebungsverfahren eingeleitet. Auch soll er wegen Landesverrat zur Rechenschaft gezogen werden. Noch aufzuklären gilt allerdings, wie impulsiv und erratisch die Ausrufung des Kriegsrechts tatsächlich gewesen ist und ob es sich wirklich um eine groteske Einzelaktion handelt, die im „Suff“ entstanden ist, wie die eingangs erwähnte Karikatur mutmaßen lässt.Im Fokus stehen jetzt auch der Verteidigungsminister Kim Yong-Hyun und der Innenminister Lee Sang-Min, die zwar beide bereits ihren Rücktritt erklärt haben, aber zum engen Kreis von Yoon Seok-Yeol zählen. Die drei kennen sich bereits aus Schulzeiten. Medienstimmen zeigen sich indes einig, dass die Aufarbeitung des Vorfalls alle Beteiligten in den Blick zu rücken hat, das betrifft auch das Militär. Kalter Krieg im 21. JahrhundertOft wird in der hiesigen Betrachtung übersehen, welche Rolle im gesellschaftlichen und politischen Alltag die Trennung der beiden Koreas eigentlich spielt. Man zeigt sich schnell verwundert, wenn von „nordkoreanischer Infiltration“ die Rede ist. Aber anders als in Deutschland, wo vor 35 Jahren die Mauer fiel, sind Nord- und Südkorea nicht nur ein konservatorisches Biotop des Kalten Krieges aus dem 20. Jahrhundert. Der systemische Konflikt hat sich hier über die vergangenen Jahrzehnte konstant weiterentwickelt und fortschreitend technologisiert.In der westlichen Wahrnehmung liegt das kapitalistische Südkorea unseren Lebenswelten näher. Der Turbokapitalismus des Südens ist aber auch politisch zu lesen. Will meinen, dass der Kapitalismus amerikanischer Prägung ausgehend von der McCarthy-Ära hier quasi in konzentrierter und kondensierter Form auftritt und praktiziert wird, ohne dass es eine Wende wie in Europa je gegeben hätte. Sozialpolitische Konzepte wie freie Schulbildung, Renten, Kindergeld und staatlich geförderte Krankenversicherungen werden bis heute von vielen a priori als „kommunistisch“ diskreditiert und tun sich somit schwer, Resonanz zu finden, die das Land, das von Altersarmut und demografischen Katastrophen betroffen ist, bitter nötig hätte. Placeholder image-1In dieser Nacht werden in zahlreichen Städten Südkoreas wie schon 2016/2017 Menschen für Demokratie und die Absetzung Yoons in den sogenannten Kerzen-Demonstrationen protestieren. Damals ging es um den Skandal um die damalige Präsidentin Park Geun-Hye, die über Jahre von der Schamanin Choi Soon-Sil politisch manipuliert wurde. 2018 wurde Park zu 22 Jahren Haft verurteilt. Viele fürchten, dass durch die jetzigen Skandale der internationale Ruf geschädigt wird, was durchaus schon Formen annimmt: Die Plattform t-online schreibt in einem aktuellen Listical über „Südkoreas Chaos-Präsidenten“.Als 1997 die früheren Präsidenten Chun Doo-Hwan und Roh Tae-Woo wegen der Ausrufung des Kriegsrechts und des Massakers in Gwangju zu langen Haftstrafen verurteilt wurden (Chun wurde allerdings kurz danach wieder begnadigt), war das für die Bevölkerung ein wichtiges Signal, und so konnte die Ära der „Sonnenscheinpolitik“ von Kim Dae-Jung eingeleitet werden.Aber ein Schritt hin zu einer wieder liberaleren, weniger autoritären Demokratie bleibt zunächst Zukunftsmusik. Denn erstmal muss der Kater der vergangenen Nacht verarbeitet werden und der Scherbenhaufen, der dabei entstand, ist unüberschaubar groß.