Was heißt es, in der Ukraine-Politik von Willy Brandt zu lernen? Während Annalena Baerbock über deutsche Bodentruppen in der Ukraine räsoniert, erklärt SPD-Politiker Rolf Mützenich die sozialdemokratische Außenpolitik des 21. Jahrhunderts


Er gesteht auch den Fehler ein, Russland nicht realistisch eingeschätzt zu haben: SPD-Friedenspolitiker Rolf Mützenich

Foto: Chris Emil Janßen/picture alliance


Rolf Mützenich sagt nicht das englische Wort „Lecture“, er sagt „Vorlesung“, wenngleich sein Vortrag hier im Bundestag als „Willy-Brandt-Lecture“ angekündigt ist. „Welt im Umbruch – wie kann eine sozialdemokratische Außenpolitik für das 21. Jahrhundert aussehen?“ – darüber hält der SPD-Fraktionschef an diesem Dezemberabend die jährliche Vorlesung der Bundeskanzler Willy Brandt Stiftung. Er trägt vor über Brandts Entspannungspolitik und den Krieg in der Ukraine, über die heutige Bedeutung von Brandts „Südpolitik“, über den heterogenen Globalen Süden und den drohenden Legitimitätsverlust globaler Institutionen wie der UN, der Welthandelsorganisation un

20;, über den heterogenen Globalen Süden und den drohenden Legitimitätsverlust globaler Institutionen wie der UN, der Welthandelsorganisation und der Entwicklungsbanken. Der SPD-Politiker äußert seine Zweifel, „dass eine multipolare Welt automatisch eine gerechtere und friedlichere Welt ist“.Mützenich spricht in seinem zweiten Wohnzimmer, in jenem Raum des Bundestags, in dem sonst seine Fraktion tagt, im Otto-Wels-Saal – benannt nach dem von Wolfgang Thierse so bezeichneten letzten Verteidiger des Parlamentarismus gegen den Nationalsozialismus: „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht.“ Der ehemalige Bundestagspräsident Thierse hält das Vorwort und begrüßt Rolf Mützenich, über den Andrij Melnyk – Botschafter der Ukraine, jetzt in Brasilien, zuvor in Deutschland – auf Elon Musks Internet-Plattform gerade geschrieben hat: „Sollte er GroKo-Außenminister werden, erschieße ich mich.“Baerbocks BodentruppenDie noch amtierende Außenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen) versucht Mützenich dann im Gespräch mit Ronja Kempin von der Stiftung Wissenschaft und Politik vor sich selbst zu schützen: Deutsche Bodentruppen zur Friedenssicherung nach Kriegsende in der Ukraine? Baerbock habe da auf eine „hypothetische Frage“ eine „hypothetische Antwort“ gegeben. Deutschland werde alles, was „dem Frieden in der Zukunft“ diene, mit „all unseren Kräften“ unterstützen, hatte die Außenministerin beim NATO-Außenministertreffen in Brüssel geantwortet. Er selbst habe ja durchaus „eine klare Ordnung im Kopf“, sagt Mützenich – und wenn man sich schon derart verfrüht mit solch einem Konstrukt beschäftige, sollte man die vielen elementaren Fragen nicht vergessen. Etwa die, unter welchem Dach solche Friedenstruppen stehen würden.Das Dach der Vereinten Nationen läge da immer noch am nächsten, doch unter diesem seien in solch einem Fall auch die Konfliktparteien versammelt, deren Akzeptanz Truppenstellerländer also finden müssten. Man könnte dies so übersetzen: Bewaffnete deutsche Soldaten auf einst sowjetischem Boden könnten wohl in Russland wie der Ukraine nicht unbedingt auf ungeteilte Zustimmung stoßen, allein aus geschichtlichen Gründen. Aber gerade auch für die amtierende deutsche Außenpolitik gilt gegenwärtig, in den Worten von Freitag-Redakteur Lutz Herden: „Es hat sich eingebürgert, dass Konfliktbefunde vom Augenblick zehren, der scheinbar ohne Vorleben ist.“Schulterschluss von Franziska Brantner und Friedrich MerzEs ist dies auch die Diagnose Mützenichs, als er gleich eingangs seiner Vorlesung auf die Sicherheits- und Friedensforschung zu sprechen kommt: Er würde sich „sehr freuen, wenn diese wieder stärker zu ihren Ursprüngen zurückkehren würde. Das Fach darf nicht zu einer reinen Politikberatungs- und Talkshow-Maschinerie verkommen.“ In den 1970er- und 1980er-Jahren habe sich die Friedensforschung „noch durch eine aktive und kritische Auseinandersetzung“ ausgezeichnet, „die weit über das aktuelle Tagesgeschehen hinausblickte“, auch auf die „strukturellen Bedingungen von Sicherheit und Frieden“.Dass die strukturellen Bedingungen von Sicherheit und Frieden Bündnis 90/Die Grünen, deren Parteichefin Franziska Brantner und Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz sonderlich interessieren, darf bezweifelt werden – nach dem jüngsten grün-schwarzen Schulterschluss Brantners und Merz‘ in der Ukraine-Politik können Mützenichs Einlassungen also durchaus als Konturen gelesen werden, die sich im beginnenden Wahlkampf immer besser erkennen lassen. Mützenich verwahrt sich dagegen, die SPD würde „das Thema Ukraine für den Wahlkampf instrumentalisieren“. Zu ernst seien dafür die Angelegenheiten von Krieg und Frieden. „Doch wenn der Souverän entscheidet, muss er wissen, was die Parteien in dieser Situation vorhaben.“Die Olaf-Scholz-Reise nach Peking und das nukleare TabuDie SPD wolle die „diplomatischen Bemühungen intensivieren, um eine weitere Eskalation des Krieges zu verhindern – und zwar unabhängig davon, wie ‚realistisch‘ diese derzeit scheinen mögen“, sagt Mützenich. „Hätten Willy Brandt und Egon Bahr nach dem sowjetischen Einmarsch in die Tschechoslowakei 1968 beschlossen, dass Verhandlungen nun zwecklos seien, hätten wir weder die Entspannungspolitik, noch die deutsche und europäische Einigung bekommen.“ Man werde vielleicht erst in der Zukunft begreifen, was die Reise von Bundeskanzler Olaf Scholz nach Peking im November 2022 zu verhindern vermochte. „Dort gelang es, gemeinsam mit China das nukleare Tabu zu stärken.“Wenn sich nun angesichts der Lage auf dem Schlachtfeld die Erkenntnis durchsetze, dass dieser Krieg nicht militärisch entschieden werde und sich die Debatte über eine diplomatische Lösung intensiviere, freue ihn das. „Andere haben diese öffentliche Diskussion etwas früher gewagt.“ Dafür, dass er selbst sie schon weit früher gewagt hatte, war Mützenich schon in der Vergangenheit nicht nur von Andrij Melnyk, sondern auch vom politischen Gegnern im Inland übel beschimpft worden. Eine der Regierung Wolodomyr Selenskyjs unterstellte Behörde wollte ihn als „Informationsterroristen“ und „Kriegsverbrecher“ vor Gericht stellen.Wenn Donald Trump die Unterstützung der Ukraine einstelltDabei lässt es Mützenich an Selbstkritik nicht mangeln: „Als Sozialdemokraten müssen wir anerkennen, dass wir die imperialistischen Ambitionen Putins und die Gefahr durch die Energieabhängigkeit von Russland unterschätzt haben. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass es diese politischen Fehleinschätzungen auch in anderen politischen Lagern und Ländern gab – auch wenn diese sich heute daran nicht mehr erinnern können oder wollen.“Ebenso äußert er ein klares Bekenntnis zur Unterstützung der Ukraine – nur bettet er diese, anders als andere, realistisch ein: Dass Donald Trump als US-Präsident den Ukraine-Krieg innerhalb von 24 Stunden beenden werde, dürfe bezweifelt werden, denkbar sei auch, dass er „in wenigen Wochen eine gegenteilige Politik propagieren und verfolgen wird“. Es könne jedoch auch sein, „dass Trump noch Ende des Jahres die Einstellung aller finanziellen Mittel für die Ukraine ankündigen wird. Das wird uns im Januar dann dazu zwingen, weitere finanzielle Anstrengungen zu unternehmen. Für mich steht außer Zweifel, dass dann ein Überschreitungsbeschluss noch vor der Bundestagswahl herbeigeführt werden muss“, dass sich also im Bundestag eine Mehrheit für das Überschreiten der Schuldenbremse finden müsse. Zudem: „Spätestens im Jahr 2028, wenn das Sondervermögen aufgebraucht ist, stellt sich die drängende Frage, wie wir weiterhin ausreichend in unsere Verteidigung investieren können, ohne eine Finanz- und Verfassungskrise zu riskieren.“Mützenich dankte Kanzler Scholz für das Telefonat mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin: „Dabei geht es keineswegs um Scheinverhandlungen oder Reden um des Redens willen. Solche Gespräche sind entscheidend, um die Positionen auszutauschen und wenigstens ein Stück strategische Stabilität in diesen gefährlichen Zeiten zu wahren.“„Weit über das aktuelle Tagesgeschehen hinaus“ zu blicken, vermied Mützenich auch in weitergehendem Sinne nicht: „Im Übrigen sollten wir – so unwahrscheinlich es derzeit auch klingen mag – als langfristiges Ziel die Perspektive einer friedlichen Ko-Existenz mit Russland mitdenken. Auch wenn das Konzept der friedlichen Ko-Existenz unter völlig anderen globalen Rahmenbedingungen während des Kalten Krieges entstanden ist, sollten wir prüfen, ob ein solcher Ansatz auch in einer multipolaren Welt von Nutzen sein und vielleicht sogar dazu beitragen könnte, Spannungen abzubauen und Raum für Dialog und Diplomatie zu schaffen.“Kritik an Stationierung von US-MittelstreckenraketenDer SPD-Politiker erneuerte zudem seine Kritik an der geplanten Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Deutschland: „Die Flugkörper verfügen über eine sehr kurze Vorwarnzeit und eröffnen neue militärische Fähigkeiten zugunsten der offensiven Strategie der US-Streitkräfte. Die Stationierung der US-Mittelstreckenraketen erhöht die Gefahr einer unbeabsichtigten militärischen Eskalation, die vor allem das Primat der Politik aushebeln könnte. Deshalb wünsche ich mir eine Diskussion darüber. Die Stationierung derartiger Waffen ist kein Verwaltungsakt.“Für einen Bundeskanzler Friedrich Merz wäre Rolf Mützenich, der bei der für den 23. Februar 2025 vorgesehenen Bundestagswahl wieder antritt, die unbequemere Besetzung im Auswärtigen Amt als etwa die Grüne Franziska Brantner. Wohl aber die nachhaltigere.



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Von Veritatis

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