Nach dem Ampel-Aus ist vor der Wahl: Doch die Parteien halten sich mit Fehleranalysen nicht auf und stürzen in einen Wahlkampf mit unheilvollem Sound
Jetzt kommt der kalte Winter: Zeit, sich warm anzuziehen!
Die Ampel-Regierung war gerade gescheitert, da machten ihre Hauptdarsteller schon wieder auf dicke Hose. Die SPD berief für den 30. November eine „Wahlsieg-Konferenz“ in Berlin ein, der vom Kanzler gefeuerte Finanzminister Christian Lindner (FDP) erklärte noch am Tag seiner Entlassung, er wolle auch der nächsten Regierung wieder als Finanzminister angehören, und die grüne Zehn-Prozent-Partei präsentierte Wirtschaftsminister Robert Habeck vergnügt als Kanzlerkandidaten. Keine der Ampel-Parteien scheint begriffen zu haben, was passiert ist. Sie verdrängen die Realität.
Diese Realität sieht so aus: Im Herbst 2021 stimmten bei der Bundestagswahl 51,4 Prozent der Wähler für SPD, Grüne oder FDP. Zusammen erhielten die dr
die Realität.Diese Realität sieht so aus: Im Herbst 2021 stimmten bei der Bundestagswahl 51,4 Prozent der Wähler für SPD, Grüne oder FDP. Zusammen erhielten die drei Parteien 24 Millionen Stimmen. Ein enormer Vertrauensvorschuss. Doch bei der ersten landesweiten Wahl danach – der Europawahl im Juni 2024 – halbierten die drei Parteien ihr Ergebnis. Nur 12,3 Millionen Bürger stimmten für sie, 11,7 Millionen taten es nicht mehr. Die SPD verlor 53,4 Prozent ihrer Wähler, die Grünen 30,4 Prozent, die FDP 61 Prozent. Ein politisches Erdbeben. Deutlicher kann ein Misstrauensbeweis nicht ausfallen. Doch die Ampel reagierte nicht. Waren ja nur Europawahlen.Fehleranalyse? Lieber nicht!Weder wurde nach den Gründen geforscht, noch wurden Konsequenzen gezogen. Im Gegenteil, man machte weiter wie bisher. Und jetzt, nach dem Ampel-Aus, zeigt sich wieder die gleiche Ignoranz. Jochen Bittner, Redakteur der Zeit und treuer Transatlantiker, findet das alarmierend. Bevor sich die Parteien besinnungslos in den nächsten Wahlkampf stürzen, sollten sie erst mal eine schonungslose Gegenwartsanalyse liefern. Denn erst wenn sie wissen, in welcher Lage sie sich befinden, können sie auch nach überzeugenden Lösungen Ausschau halten.Bittner befürchtet, dass Deutschland in einem „Kampf zwischen zornigen Imperien“ aufgerieben wird: „Nationalistische Mächte wie China und Russland werden immer potenter, während die potente Altmacht USA immer nationalistischer wird.“ Es gehe daher um die Frage, „wie Deutschland wieder zu Kräften kommen soll. Genauer: Wie Germany Inc. seine Wettbewerbsfähigkeit retten kann in einer Welt, in der so viel brutaler Wettbewerb herrscht wie noch nie.“Ist das eine schonungslose Gegenwartsanalyse? Nein, Bittners Alarmruf zeigt nur, welcher Zeitgeist inzwischen im „aufgeklärten Bürgertum“ weht. Seine Kampfwelt-Beschreibung empört sich zwar über den „Wilhelminismus der anderen“, doch die eigenen Ambitionen blendet er aus. Sein braves Deutschland sieht er, wie viele Konservative vor 1914, als Opfer, das sich wehren muss, um endlich den gebührenden Platz an der Sonne zu ergattern. Und so ist das Rezept, das Bittner dem eingezwängten und bedrängten Deutschland empfiehlt – Aufrüstung und Atomkraft! –, zwar reaktionäre Kraftmeierei, aber zumindest legt er den Finger in die Wunde: Die Parteien sind angesichts der Weltlage ziemlich ratlos.Es wird sich weiter durchgewursteltWährend die Programme (insbesondere der SPD) früher aus zwei klar voneinander getrennten, aber stets aufeinander bezogenen Abschnitten bestanden, nämlich a) einer fundierten Analyse der Gegenwart und b) einem daraus abgeleiteten politischen Handlungskonzept, begnügen sich die Parteien heute mit wortreichen, aber inhaltsarmen Sprechblasen, endlosen Spiegelstrich-Listen und zusammenhanglos erscheinenden Wunschzetteln. Es sind Fahrpläne von Durchwurstelparteien. Die Analyse der Gegenwart fehlt. Und deshalb reagieren sie auch nicht, wenn ihnen die Wähler das Vertrauen entziehen. Sie retten sich lieber in neue Koalitionsspielchen.Die erstaunlichsten Signale senden dabei die Liberalen. Mit breiter Unterstützung der Springer-Medien („Please Stärke die FDP!“ schrieb ja schon Konzernchef Mathias Döpfner zwei Tage vor der letzten Bundestagswahl an den damaligen Bild-Chefredakteur Julian Reichelt) glauben sie, erneut in den Bundestag einziehen zu können, um anschließend die guten alten Zeiten des schwarz-gelben Bürgerblocks unter Helmut Kohl wiederaufleben zu lassen.Obwohl die Liberalen inzwischen so geschwächt sind, dass sie nur noch über drei unbedeutende Ministerpöstchen in zwei kleineren Bundesländern verfügen (Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt), hält Ex-Justizminister Marco Buschmann eine schwarz-gelbe Mandatsmehrheit im Bundestag für möglich. Er stützt sich dabei auf vage Andeutungen der Geschäftsführerin des CDU-nahen Meinungsforschungsinstituts Allensbach und eine mögliche mediale Leihstimmen-Kampagne zugunsten der FDP. Doch ob jemals wieder ein Regierungschef einen unsicheren Kantonisten wie Christian Lindner in sein Kabinett beruft, ist höchst fraglich. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder schließt jedenfalls aus, dass auch nur ein einziger Minister der gescheiterten Ampel-Koalition unter Friedrich Merz zum Zuge kommt, mit Ausnahme vielleicht von Boris Pistorius.Der sozialdemokratische Verteidigungsminister strotzt geradezu vor Optimismus. Ohne jedes Augenzwinkern hält er es für möglich, dass die SPD, wie 2021, als strahlender Sieger aus den Neuwahlen hervorgeht. Auch damals, sagt er, habe die SPD bis kurz vor dem Wahltermin in Umfragen bei 15 Prozent gelegen und schließlich phänomenale 25,7 Prozent erzielt. Pistorius, der von konservativen Medien hartnäckig als Ersatzkandidat für Olaf Scholz gehandelt wird, hat leicht reden. Er muss nur warten. Kommt es zu einer Neuauflage der schwarz-roten Großen Koalition, würde er aller Voraussicht nach Vizekanzler. Die Sozialdemokraten müssten dafür lediglich vor den Grünen liegen. CSU-Chef Markus Söder, der seinen Intimfeind und Angstgegner Robert Habeck auf keinen Fall mitregieren lassen will (Habecks Kanzlerkandidatur nennt er eine „Verhöhnung“ der Bürger), setzt auf Schwarz-Rot „ohne Scholz“.Man darf angesichts solcher Aussichten gespannt sein, wie sehr die Berliner „Wahlsieg-Konferenz“ der SPD Ende November auf den „BlackRock-Kanzler“ Friedrich Merz einprügeln wird. Wie bei anderen Wrestling-Shows könnte dort auch nur zum Schein geprügelt werden.Auch die Grünen sind optimistisch. Am kommenden Wochenende findet in Wiesbaden die „Krönungsmesse“ für ihren Kanzlerkandidaten Robert Habeck statt. „Der Robert“ wird dort unter dem Motto „Machen, was zählt“ jene kämpferische Rede halten, die er zuvor des Nachts im Schein einer Schreibtischlampe aufopferungsvoll für sein Social-Media-Publikum redigiert hat. Die Video-Inszenierung seiner Kandidatur wird werbetechnisch so perfekt erscheinen wie seine Demut, sich den Bürgern da draußen als nachdenklich-zupackender Kanzler zu präsentieren. Den Grünen ist freilich bewusst, dass sie eine Chance auf Regierungsämter nur in einer schwarz-grünen Koalition haben werden, und das heißt, sie müssen die Sozialdemokraten so deutlich hinter sich lassen, dass der bayerische „Grünen-Fresser“ Söder gegen das geballte Votum der Schwarz-Grün-Befürworter Hendrik Wüst (NRW), Thomas Strobl (Baden-Württemberg) und Daniel Günther (Schleswig-Holstein) kein Veto einlegen kann.Selbst Wadlbeißer Linnemann ist auf einmal zahmDie CDU selbst sieht sich bereits im Vorhof des Kanzleramts. Sie trieb den „Kanzler auf Abruf“ nicht nur bei Vertrauensfrage und Neuwahltermin vor sich her, sie übt sich auch schon in staatsmännischer Attitüde. Generös bietet sie der übrig gebliebenen rot-grünen Minderheitsregierung ihre Zusammenarbeit an, aber nur dort, wo es ihr sinnvoll erscheint. Selbst CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann, sonst der angriffslustige Wadlbeißer seines Herrn, mahnt unter dem Eindruck der Niederlage von Kamala Harris in den USA zu mehr Zurückhaltung und warnt seine Parteifreunde davor, sich allzu arrogant an der gescheiterten Ampel-Koalition abzuarbeiten. Die Menschen wollten jetzt kein Nachtreten mehr, sie wollten wissen, was Friedrich Merz als Kanzler anpacken werde.Denn eigentlich wollen ja alle gut miteinander auskommen. Vor allem wegen der befürchteten „Zumutungen“, die man von einem unberechenbaren US-Präsidenten erwartet. Und so betonen deutsche Politiker über alle Parteigrenzen hinweg, dass ihnen „das Wohl des Landes“ mehr am Herzen liege als das Wohl der eigenen Partei. „Das Wohl des Landes“ ist die deutsche Soft-Version der rabiaten US-Parolen „Make America Great Again“ und „America First“.Denn obwohl alle deutschen Mitte-Parteien Donald Trump schrecklich finden und sich vor Gruseln schütteln möchten, haben sie doch registriert, wie erfolgreich dessen nationalistische Wahlkampagne war. Und so klingt ein leises „Deutschland First“ inzwischen auch durch viele Äußerungen von Union, FDP, SPD und Grünen, nicht zuletzt deshalb, weil die heimischen Protestparteien AfD und BSW deutsche Interessen (in Abgrenzung zu US-amerikanischen Interessen) besonders lautstark betonen und der ständige Vorwurf von BSW und Linken, sich als rückgratloser „US-Vasall“ zu gebärden, abgeschmettert werden muss. Die weltweit zu beobachtenden Renationalisierungstendenzen machen auch vor Deutschland nicht Halt. Sie schweißen die Mitte-Parteien enger zusammen.So wird den Bürgern der einsetzende Wahlkampf zwar als ultimative „Richtungsentscheidung“ verkauft, doch in Wahrheit läuft es nach der Wahl auf eine möglichst breite Zusammenarbeit „zum Wohle unseres Landes“ hinaus. Das passende rückwärtsgewandte Sinnbild dafür wäre eine schwarz-rot-gelbe Deutschland-Koalition aus CDU/CSU, SPD und FDP – ohne Lindner, ohne Scholz und ohne Habeck.