Im „Appell der 38“ warnen Personen des öffentlichen Lebens vor einer Ausweitung des Ukrainekriegs. Einer der Unterzeichner: Oskar Lafontaine. Im Gespräch erklärt das BSW-Gründungsmitglied, warum der Handlungsdruck jetzt besonders hoch ist
Oskar Lafontaine: „Wir brauchen einen neuen Abrüstungsvertrag zur Abschaffung der Mittelstreckenraketen und der Kurzstreckenraketen“
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Am 4. Dezember erschien in der feministischen Zeitschrift Emma ein Friedensappell. Die 38 unterzeichnenden Personen, darunter Politiker wie Otto Schily, Sahra Wagenknecht oder Peter Gauweiler, aber auch andere Personen des öffentlichen Lebens wie die Philosophin Svenja Flasspöhler, die Publizistin Alice Schwarzer und der Sänger Peter Maffay warnen vor den Gefahren einer Ausweitung des Ukrainekriegs. Es sei „eine Minute vor 12“, heißt es bereits in der Überschrift. Wir befänden uns „in der vielleicht gefährlichsten Phase dieses Krieges“, hiesige Politiker müssten „eine Katastrophe für unser Land und alle Menschen in Europa“ vermeiden, statt den Konflikt weiter anzuheizen. Einer der Unterzeichner ist Oskar Lafon
le Menschen in Europa“ vermeiden, statt den Konflikt weiter anzuheizen. Einer der Unterzeichner ist Oskar Lafontaine.der Freitag: Herr Lafontaine, wieso haben Sie den „Appell der 38“ unterschrieben?Oskar Lafontaine: Wir sehen, dass im Ukrainekrieg die Lage immer gefährlicher wird. Ausschlaggebend für uns war die Entscheidung des US-Präsidenten Joe Biden, der Ukraine zu erlauben, mit ATACMS-Raketen auch Ziele in Russland anzugreifen. Immerhin haben diese Raketen eine Reichweite von 300 Kilometern! Bisher hatte Biden das mit dem Verweis, er wolle nicht den Dritten Weltkrieg auslösen, abgelehnt. Wieso er jetzt den Dritten Weltkrieg riskiert, hat er nicht erklärt. Wir fühlten uns einfach verpflichtet, die Deutschen auf die großen Gefahren hinzuweisen, die von solchen Entscheidungen ausgehen.Hatte Joe Biden eigentlich noch die Legitimation, diese Entscheidung zu treffen?Im juristischen Sinne ja, im politischen Sinne ganz sicher nicht. Es ist üblich, dass man seinen Nachfolger nicht mit Entscheidungen konfrontiert, deren Folgen man nicht abschätzen kann. Insofern war das nicht verantwortungsvoll.Der Appell beginnt mit der obligatorischen Formel, dass es sich um einen „völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine“ handele. Gab es Streit über einzelne Formulierungen unter den Unterzeichnern?Streit gab es nicht. Es gab die eine oder andere Anregung. Der Einstieg ist natürlich ein Kompromiss oder ein Angebot an diejenigen, die die Entstehungsgeschichte des Ukrainekriegs nicht so kritisch sehen wie ich. Für mich ist es ein von den USA provozierter Krieg. Die Vorbereitungen dazu laufen seit 30 Jahren, mit dem Ziel, US-Raketen und Militärstationen direkt an der russischen Grenze einzurichten. Und seit 30 Jahren warnen die Russen wie auch prominente US-Politiker wie George Kennan oder Henry Kissinger, das nicht zu tun. Kein Zweifel, der Einmarsch der russischen Armee war völkerrechtswidrig. Aber letztendlich ist es ein Stellvertreterkrieg der USA gegen Russland. Das hat auch der ehemalige Premierminister Großbritanniens, Boris Johnson, kürzlich eingeräumt.Die Vorgeschichte des Krieges spielt in Ihrem Appell aber gar keine Rolle.Das ist richtig. Aber wir wollten eben nicht nur unsere Sicht der Dinge wiedergeben, sondern ein breites Bündnis auf die Beine stellen. Dafür war es wichtig, dass prominente Sozialdemokraten wie Otto Schily oder Günter Verheugen den Text genauso mittragen wie Peter Gauweiler von der CSU. Auch viele Künstler haben unterzeichnet, die leider viel zu oft gecancelt werden, sobald sie Friedensappelle unterschreiben. Wie kam es zu dem Appell, wie war seine Entstehungsgeschichte?Es gab einige Telefonate der Beteiligten, insbesondere nachdem Friedrich Merz angekündigt hatte, er wolle im Falle seiner Kanzlerschaft Putin ein „Ultimatum“ stellen und Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine liefern.Die Erklärung eines eventuellen Kanzlers der CDU, er wolle Russland, wenn Putin die Bombardierungen nicht einstellt, mit deutschen Raketen angreifen, war ein Grund, den Appell zu formulierenMittlerweile sagt Merz, er sei da missverstanden worden.Ja, er hat das relativiert. Das ist bei ihm ja inzwischen Methode. Trotzdem: Im Bundestag hat er gesagt, Putin müsse seine Bombardierung innerhalb von 24 Stunden einstellen, sonst würde er – im Falle seiner Kanzlerschaft – die Reichweitenbegrenzungen der gelieferten Waffen aufheben und Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine liefern. Diese Erklärung eines eventuellen Kanzlers der CDU, er wolle Russland, wenn Putin die Bombardierungen nicht einstellt, mit deutschen Raketen angreifen, war ein weiterer Grund, den Appell zu formulieren. An den endgültigen Formulierungen waren mehrere Personen beteiligt.Annalena Baerbock hat die Debatte gerade noch einmal verschärft und einen Bundeswehr-Einsatz in der Ukraine nach Kriegsende ins Spiel gebracht. Zur „Friedenssicherung“ … Die Bundesaußenministerin ist ihrem Amt nicht gewachsen. Sie hat schon viele gedankenlose Sätze gesagt. Etwa, dass sie dazu beitragen wolle, Russland zu „ruinieren“. Oder dass wir uns „im Krieg mit Russland“ befänden. Das kann man doch alles nicht mehr ernst nehmen. Baerbock traf bei einem OSZE-Treffen auf Malta auf den russischen Außenminister Sergej Lawrow. Es ist dessen erster Besuch in der EU seit Kriegsbeginn. Hoffen Sie darauf, dass die beiden am Rande über Frieden in der Ukraine gesprochen haben?Ja, selbstverständlich. Es gibt ja insbesondere aus den baltischen Staaten und aus Polen Kritik daran, dass Lawrow an dieser Konferenz teilnimmt. Das zeigt, dass die Politiker in diesen Staaten wenig geeignet sind, zum Frieden beizutragen. Wenn man Frieden will, muss man mit der Gegenseite verhandeln. Anders gibt es keinen Frieden. Und insofern wäre es natürlich zu begrüßen, wenn auch die deutsche Außenministerin das Gespräch mit ihrem russischen Kollegen sucht. Leider nehmen die meisten internationalen Politiker Frau Baerbock nicht mehr besonders ernst.Eine der Unterzeichnerinnen Ihres Appells ist Daniela Dahn. In ihrem neuen Buch „Der Schlaf der Vernunft“ bezeichnet Dahn die Politik des ukrainischen Präsidenten Selenskyj als „Verteidigungsbellizismus“. Gefällt Ihnen die Wortneuschöpfung?Ich verurteile die Politik von Selenskyj grundsätzlich. Der Präsident der Ukraine hat eine Verantwortung für das Leben seiner Bürgerinnen und Bürger. Der kommt er nicht nach. Dabei ist er mit dem Versprechen angetreten, diesen Krieg, der ja schon 2014 begann, zu beenden. Stattdessen drängt er seit über 1.000 Tagen darauf, dass neue Waffen geliefert werden. Er hat auf Drängen der USA und Großbritanniens das Istanbuler Abkommen nicht unterschrieben, das Hunderttausende Menschenleben gerettet hätte. Er ist mitverantwortlich dafür, dass junge Männer zwangsweise von der Straße wegverhaftet werden, um sie an die Front zu schicken. Selenskyjs Politik orientiert sich nicht am Leben der Menschen, er orientiert sich an der inzwischen völlig irrealen Vorstellung, die Ukraine müsse diesen Krieg gewinnen. Das internationale Magazin „The Economist“ schrieb vor kurzem, 52 Prozent der Ukrainer wollten den Krieg beenden. Wie schätzen Sie die Friedenssehnsucht der ukrainischen Bevölkerung ein?Die Bevölkerung sieht, dass die bisherige Strategie total gescheitert ist. Alles, auch was die Kriegsbefürworter in Deutschland erzählt haben, ist widerlegt. Es hieß, die Sanktionen würden die russische Wirtschaft in die Knie zwingen. Wenn diese Annahme richtig gewesen wäre, dann wäre tatsächlich der Krieg schnell beendet worden. Ein Land, das wirtschaftlich ruiniert ist und keine Hilfe von außen bekommt, kann keinen Krieg weiterführen. Außerdem wurde uns gesagt, die russische Armee sei zu schwach. Es kursierten Gerüchte, wonach die Russen ihre Flugzeuge mit Elektronik aus Kühlschränken und Waschmaschinen reparieren würden. Was da alles für dummes Zeug erzählt worden ist! Es dominierte die totale Fehleinschätzung der militärischen Lage. In der Realität wird die Position der Ukraine jeden Tag schwächer, obwohl ständig Waffen geliefert werden und immer wieder der Sieg beschworen wird. Jeden Tag sterben viele Menschen. Ich bin sicher, dass die große Mehrheit der Ukrainer sich nichts sehnlicher wünscht als ein Ende des Krieges.Die USA, Frankreich und Großbritannien erlauben der ukrainischen Regierung mittlerweile, mit weitreichenden Raketen auf Russland zu zielen. Olaf Scholz hält dagegen, er genehmigt auch keine Taurus-Lieferungen. Ist er der Friedenskanzler, den dieses Land braucht?Um Himmels willen, Scholz ist kein Friedenskanzler! Er hat wohl erkannt, dass mit der Lieferung von deutschen Taurus-Raketen eine rote Linie überschritten würde. Weil den Russen in diesem Falle nichts anderes übrig bliebe, als zurückzuschießen. Das kürzlich abgehörte Gespräch der Bundeswehroffiziere hat gezeigt, dass die Taurus-Raketen nur einsetzbar sind, wenn sie von deutschen Soldaten programmiert werden. Man muss nicht sehr intelligent sein, um zu erkennen: Wenn deutsche Soldaten ihre Raketen nach Russland schießen, dann schießen russische Soldaten ihre Raketen auf Deutschland. Insofern ist diese Entscheidung von Scholz richtig. Aber man darf nicht übersehen, dass der Kanzler den Krieg in vollem Umfang mitträgt.Die amerikanischen Hyperschallraketen lassen den Russen keinerlei Vorwarnzeit mehr. Sie sind das Messer am Hals der RussenUnd man darf auch nicht übersehen, dass er ohne jede demokratische Diskussion entschieden hat, dass die USA in zwei Jahren ihre Mittelstreckenraketen in Deutschland aufstellen können. Dabei lassen diese Raketen, zu denen auch Hyperschallraketen gehören sollen, den Russen keinerlei Vorwarnzeit mehr. Sie sind, um es bildlich auszudrücken, das Messer am Hals oder die Pistole an der Schläfe der Russen. Wer solche Entscheidungen trifft, dem kann man vielleicht zubilligen, dass er von Raketentechnik nichts versteht. Wenn er sie aber versteht, dann handelte Scholz völlig verantwortungslos. Wir brauchen einen neuen Abrüstungsvertrag zur Abschaffung der Mittelstreckenraketen und der Kurzstreckenraketen.Es heißt oft, Putin habe Ambitionen, den ganzen Kontinent zu erobern. Haben Sie keine Angst vor einem russischen Angriff auf Deutschland oder die NATO?Wenn Putin die NATO angreifen würde, wäre das der Dritte Weltkrieg und somit der Untergang der Menschheit. Es ist ein reines Hirngespinst der westlichen Kriegspropaganda, so zu tun, als würden die Russen einen Krieg vorbereiten, um Europa zu erobern. Man muss nur auf die Landkarte gucken, dann kann man diesbezüglich zur Besinnung kommen: Dieses riesige Land ist so groß, dass der Kreml Schwierigkeiten hat, es überhaupt zu verwalten und sicherheitspolitisch abzusichern. Vereinfacht gesagt: Die Russen haben gar nicht genug Soldaten, um andere Länder zu erobern und langfristig zu kontrollieren.Kürzlich ließ Selenskyj verlautbaren: Wenn der unbesetzte Teil der Ukraine unter den Schutzschirm der NATO kommt, sei er zu einem Waffenstillstand bereit. Ist das ein Friedensangebot nach Ihrem Geschmack?Es ist jetzt erkennbar, dass der Krieg ein Stadium erreicht hat, wo auch der ukrainische Präsident überlegen muss, ob es nicht an der Zeit ist, zu einem Ende zu kommen. Sein Vorstoß zeigt aber, dass er das Kernanliegen der Russen nicht versteht. Die Russen wollen keine Raketen an ihrer Grenze haben! In seinem Szenario wäre es hingegen möglich, dass US-Raketen an der russisch-ukrainischen Grenze platziert werden. Das wird Russland niemals akzeptieren. So wenig wie die USA es akzeptieren würden, dass Russen oder Chinesen an der mexikanischen oder kanadischen Grenze zu den USA ihre Raketen aufstellen. Aber mit diesem einfachen Gedankenexperiment überfordert man die Kriegstreiber in Deutschland.Wie kämen wir Ihrer Meinung nach zu einem effektiven Frieden in der Ukraine?Indem man verhandelt und eine Lösung findet, die beiden Seiten gerecht wird. Diese Lösung kann nur darin bestehen, die Neutralität der Ukraine zu gewährleisten, keine amerikanischen Raketen und Militärstationen an die russische Grenze zu stellen und über Gebietsfragen die Bevölkerung abstimmen zu lassen – und nicht deutsche Kommentatoren oder Politiker.Es ist ein reines Hirngespinst der westlichen Kriegspropaganda, so zu tun, als würden die Russen einen Krieg vorbereiten, um Europa zu erobernWelche Rolle wird das Thema Krieg und Frieden im Bundestagswahlkampf des BSW spielen?Eine zentrale. Wir sind die einzige Partei, die konsequent gegen Krieg, gegen Waffenlieferungen und gegen Aufrüstung ist.Der neue Chef der Linkspartei, Jan van Aken, ist auch gegen die Lieferung von Taurus-Raketen.Das ist zu begrüßen. Aber wir können nicht übersehen, dass die Spitzenkandidatin der Linkspartei für die EU-Wahl, Carola Rackete, im Europaparlament für diese Entschließung gestimmt hat, in der die Taurus-Lieferung gefordert wird. Oder dass der ehemalige Vorsitzende Martin Schirdewan sich der Stimme enthalten hat. Insofern ist die Linkspartei, zumindest in der Taurus-Frage, gespalten.Hat der Sieg Donald Trumps in den USA nicht gerade gezeigt, dass es die Brot-und-Butter-Themen sind, die den Leuten am wichtigsten sind: Inflation, Rente, Löhne?Selbstverständlich. Deswegen muss man die Verbindung zu Brot und Butter herstellen: Die Kehrseite der Aufrüstung sind Sozialkürzungen. CDU, CSU, FDP, Grüne, SPD und auch die AfD, die ja ebenfalls in starkem Umfang aufrüsten will, müssen irgendwann die Frage beantworten, wie sie die ganze Aufrüstung bezahlen wollen. Das zeichnet sich ja jetzt bereits ab. Sie sind gegen Steuererhöhungen und gegen die Abschaffung der Schuldenbremse. Dann bleibt nur der Sozialstaat, um diesen Krieg und diese Aufrüstung zu finanzieren. Die Ampelparteien und die CDU/CSU sind, weil sie kein Gas und Öl aus Russland importieren wollen, unfähig, die Deindustrialisierung Deutschlands zu stoppen.Rolf Mützenich gehört zu denen, die noch an die erfolgreiche Friedenspolitik Willy Brandts anknüpfen. Aber das ist mittlerweile leider eine Minderheit in der SPDWelchen Unterschied macht es, wenn die Koalitionsverträge in Brandenburg und Thüringen auf Druck des BSW hin die geplante Stationierung von Mittelstrecken- und Hyperschallraketen „kritisch“ sehen? Es heißt ja immer: Außenpolitik wird nicht von den Ländern entschieden.Das lässt sich nur auf die weitverbreitete Unkenntnis unserer Verfassung zurückführen. Unsere Verfassung sieht vor, dass auch die Bundesländer an der außenpolitischen Willensbildung mitwirken. Deswegen hat der Bundesrat einen außenpolitischen sowie einen verteidigungspolitischen Ausschuss. Er trifft zwar keine Entscheidungen im Sinne von: Wo wird stationiert? Oder: Wie weit wird aufgerüstet? Aber dass ein föderaler Staat seine Bundesländer an der Willensbildung zur Außenpolitik beteiligt, sollte eigentlich bekannt sein.Wieso hat der Sozialdemokrat Rolf Mützenich Ihren Friedensappell nicht mitunterzeichnet?Wir haben ihn bewusst nicht gefragt. Rolf Mützenich gehört zu denen in der SPD, die noch an die erfolgreiche Friedenspolitik Willy Brandts anknüpfen. Aber das ist mittlerweile leider eine Minderheit in der SPD. Selbstverständlich hat Mützenich die Verpflichtung, den Kanzler zu stützen und die Fraktion zusammenzuhalten. Das schränkt seinen Handlungsspielraum ein.