Für viele Gefangene kann das literarische Schreiben ein Rettungsanker sein. Der Ingeborg-Drewitz-Literaturpreis würdigt ihre Arbeiten. Zu Besuch bei der Verleihung
Oft ist von der Würde die Rede, die im Gefängnis verloren geht
Illustration: der Freitag
Die Stadt ist bewehrt mit unzähligen Türmen, im Zentrum so nahe, dass die Spitzen sich grüßen. Unter St. Lamberti stemmen sich Adventsbläser gegen das Gesamtrauschen, Unterwasserkirche und St. Ludgeri empfangen mit einem beängstigend überfüllten Weihnachtsmarkt, halb Nordrhein-Westfalen scheint an diesem Wochenende in Münster einzufallen. Jeder Regionalzug spuckt eine weitere Menschenprozession in die Stadt, weniger heilig gestimmt als glühweinselig. Die Festung des Katholizismus muss bangen, bei der Adventsvesper im Dom sind die Reihen lichter als die der neugierigen Touristen hinten in der Basilika.
Dennoch ist Münster ein angemessener Ort, um über Schuld nachzudenken. Nicht in St. Lamberti, sondern nebenan im Festsaal des histor
des historischen Rathauses, an dessen Seitenfassade eine „preussische halbe Ruthe“ von 1816 eingelassen ist, ein altes Längenmaß, knapp 1,80 Meter. Eine Quadratrute groß sind ungefähr die Zellen der Strafgefangenen, die heute hier „ausgeführt“ werden, um den Ingeborg-Drewitz-Literaturpreis für Strafgefangene entgegenzunehmen. Es ist auch das erste Wiedersehen mit einem Mann, den ich vor fast einem Jahr zum ersten Mal in der Justizvollzugsanstalt Werl besucht habe. Seither sind unzählige freundschaftliche Briefe hin und her gegangen, Berichte von gesundheitlichen Problemen und den allgegenwärtigen Widrigkeiten im Knast, aber auch von Hoffnung und Plänen für „danach“.Mario Wolf, dessen Name nun offiziell ist und genannt werden darf, ist einer der 19 Preisträger:innen. Nur sieben können persönlich vor Ort sein, denn es ist eher die Ausnahme, dass die JVA den Ausgang erlaubt. „Sie haben mir, bevor wir hier reinkamen, die Hand- und Fußfessel entfernt“, begrüßt mich Mario gutgelaunt, das Schloss hängt noch in einer Gürtelschlaufe seiner löchrigen Jeans. Sie, das sind die beiden freundlichen Beamten, die ihn begleiten. Auch zwei Lehrer, bei denen Wolf das Abi nachholt, sind gekommen.Störgefühle der SchuldSchuld. Tinnitus der Seele ist das Motto der zwölften Ausschreibung des undotierten Preises, der seit 1988 alle paar Jahre verliehen wird. Am Eingang hat Rainer Wick vom Veranstalter Chance e. V. kleine Glassteine verteilt, auf denen zu sitzen die Gäste das „dauerhafte Störgefühl der Schuld“ empfinden lassen soll. Über ihre Gedanken und Gefühle zu schreiben, begrüßt Münsters Bürgermeisterin Maria Winkel, könne für die Gefangenen „zum Rettungsanker“ werden und „zu einer Brücke“ nach draußen. Münsters mediale Öffentlichkeit hat offenbar wenig Interesse, diese Brücke zu überqueren: Die lokale Presse glänzt durch Abwesenheit.Die Namensgeberin des Preises, die 1986 verstorbene Berliner Schriftstellerin Ingeborg Drewitz, war eine ungewöhnlich engagierte Frau, die sich für „die Vorgänge in der Welt“ interessierte, die Frankfurter Auschwitz-Prozesse verfolgte, Hausbesetzer unterstützte und Frauenrechte einklagte. Ihr besonderes Augenmerk galt den Gefangenen in ihren Zellen, die sie ermunterte, zu schreiben.Das war in einer Zeit, erzählt der Doyen der Randgruppenliteratur, der Münsteraner Germanist Helmut Koch, als die Reform des Strafvollzugs in Deutschland dringend erschien, in den Knästen Gefangenenzeitungen entstanden und er mit seinen Studierenden die ersten Seminare über Literatur von Inhaftierten entwickelte. „Wir wussten noch gar nichts darüber“, sei sich mit Drewitz aber einig gewesen, dass man das irgendwie institutionalisieren müsste, denn Kanzler Kohls „geistig-moralische Wende“ verdunkelte ab Anfang der 1980er-Jahre den Reformhorizont. Von der einmal angedachten Strafrechtsreform sei kaum etwas übrig geblieben, klagt er, der auch Vorsitzender des Arbeitskreises kritischer Strafvollzug ist, später im Gespräch, die Zustände in den Gefängnissen seien katastrophal. Der Justizskandal von Augsburg, wo Häftlinge in einer JVA mutmaßlich gefoltert wurden, ist nur die Spitze des Eisbergs.Dass das Schreiben für ihn tatsächlich zum Rettungsanker geworden ist, bestätigt der einstige Intensivstraftäter und ehemalige Preisträger Maximilian Pollux, Schirmherr der diesjährigen Veranstaltung. Dramatisch ausgreifend berichtet er, wie er zufällig am Schwarzen Brett die Ausschreibung sah, da saß er gerade drei Monate in Absonderung und hatte insgesamt 19 Haftjahre abzusitzen. „Ich war Mitte 20 und überzeugt, nichts anderes zu können, als Straftaten zu begehen. An einem einzigen Abend habe ich dann einen Text geschrieben.“ Als der Brief mit der Preismitteilung kam, sei er fast geplatzt vor Stolz. Seine erste Veröffentlichung, das erste Mal, dass ihm etwas gelungen sei, „ein großartiges Gefühl“! 2008 wurde Pollux nach zehn Jahren aus der Haft entlassen, „nicht resozialisiert, sondern schwer traumatisiert“, wie er sagt. Inzwischen lebt er vom Schreiben und von Vorträgen im Knast und an Schulen. „Der Preis war für mich mit das folgenschwerste Ereignis meines Lebens.“Aus ihrer, vielleicht auch für sie folgenschweren Veröffentlichung haben sich drei der sieben anwesenden Preisträger bereit erklärt, zu lesen, darunter Drogenkriminelle, Betrüger wie Mario Wolf und auch der Mörder Rero W., „aus einem Land, das verschwunden“ ist, „aufgebrochen mit einem Volk, das nach Freiheit rief. Über illusorische Verheißungen gestolpert. Gestrauchelt. Gefallen“, wie er über sich schreibt. Er erhält den Preis zum vierten Mal, so lange saß er im Knast, nach 17 Jahren endlich in Freiheit. Ich habe Angst ist sein vergleichsweise langer Text überschrieben, der von einem gewalttätigen Vater handelt, von einer mäandernden Berufslaufbahn, einer gescheiterten Ehe, vom Mord an einer Prostituierten, chronologisch und sehr lakonisch. Anträge auf vorzeitige Haftentlassung, Vollzugs- und Wiedereingliederungspläne bestimmen seinen Zeithorizont, durchkreuzt von Tiefschlägen. Am ersten Weihnachtstag 2023 hat Rero W. erstmals seinen Enkel im Arm gehalten.Mario tritt selbstbewusst auf. Seine Texte kenne ich, habe im Freitag (Ausgabe 13/2024) daraus zitiert, über seine Situation als Jude in einem deutschen Gefängnis berichtet. Mehr noch als damals, als ich ihn kennenlernte, treiben ihn die Situation in Israel und in Gaza und der Rechtsradikalismus hierzulande um. Er schreibe an einem Buch, erzählt er und drückt mir vor der Lesung ein paar handschriftliche Seiten in die Hand. Später, beim Empfang bei Kaffee, Limonade und Häppchen – Sekt ist natürlich nicht erlaubt –, berichtet er vom Besuch des nordrhein-westfälischen Petitionsausschusses, der auf seine Beschwerden hin kürzlich in die JVA Werl kam. „Du glaubst es nicht, plötzlich genehmigen sie alles, was mir monatelang verweigert wurde. Ich darf israelisches Fernsehen schauen, plötzlich steht ein Seelsorger in meiner Zelle, und ich bekomme endlich meine Augentropfen.“ Auch die Weihnachtsvorbereitungsgruppe darf wieder zusammenkommen. Sie war nach dem Drogen-Amok eines Häftlings verboten worden. Kollektivstrafe.Literatur der AuthentizitätNicht alle gehen so offen mit ihrer Identität um wie Wolf. NixeBix Heumann verbirgt sich hinter einem Pseudonym und einem Tuch, aus Rücksicht auf ihre Familie. Ihr Gedicht Ich war es ist hoch verdichtet auf den Kern der Schuld und die Folgen. „Ich war es / Ich bin schuldig. Ewig / Bin ich nur noch es.“ Die Stimme schwankt, ein quälendes Selbstgespräch, obwohl, wie Heumann schreibt, sie sich nicht ganz „heimatlos, verloren und aufgegeben“ fühlt.Nicht alles, was in dem kleinen Buch nun gesammelt ist, ist große Literatur. Vieles lebt von der Authentizität des Erlebten und Erlittenen, sichtlich befördert vom Thema Schuld. Es geht nicht nur um die eigene Schuld, sondern auch um die Anderer, erlebte Gewalt, die erinnernde Erschütterungen wachruft. Überraschend ist neben der vielfältigen Art der Auseinandersetzung auch die Vielfalt der Formen, die von Erzählungen über Lyrik bis zum selbstvergewissernden Selbstgespräch und dialogischen Brief reichen. Darin manchmal auch Sätze wie diese von Maryhenn Fontaine: „Es ist, als wäre ich ein schwarzes Loch, als stünde ich im Zentrum eines Abgrundes, der dem, was ihm zu nahe kommt, Tod und Verderben beschert.“Oft ist in Marios Briefen von der Würde die Rede, die im Gefängnis verloren geht. Wenn er um ein Medikament kämpfen muss, um die Aushändigung eines Buches, um eine Besuchserlaubnis. Und gegen die allgegenwärtige Willkür. Eigene Klamotten zu tragen, mit anderen Menschen zusammen zu sein und zu reden, erklärt er mir, mache ihn glücklich. Man sieht es ihm an bei der Preisverleihung, genau wie die Schatten, als es ans Verabschieden geht. Zwischen den Beamten und seinen Lehrern verschwindet er im Trubel des Weihnachtsmarktes. Hafthalbzeit bei ihm, immerhin zählen die kommenden anderthalb Jahre abwärts. Seine Quadratrute Deutschland, in die er zurückkehrt, ist eine von vielen. Die draußen oft vergessen werden.Schuld. Tinnitus der SeeleIngeborg-Drewitz-Literaturpreis für Gefangene Rhein-Mosel-Verlag 2024, 160 S., 12 €