Eine Studie von Soziologen der Berliner Humboldt-Uni hat untersucht, ob die Sozialisation in der DDR tatsächlich „lange Schatten“ auf politische Orientierungen wirft. Triggerwarnung: Klischees über Ostdeutsche bedient die Untersuchung nicht


Könnte es sein, dass die „schweigende Mitte“ der DDR einen höheren Arbeiteranteil hatte? Im Bild: Demonstration in Dresden am 19. Dezember 1989

Foto: Wolfgang Kumm/dpa/picture alliance


Als Ostdeutsche und Autorin einer Geschichte der DDR werde ich oft gefragt, warum im Osten so viele Menschen AfD wählen. Ich lebe in Großbritannien und hier kann man mit komplexen Antworten auf die Frage nach den Ursachen leben, nicht zuletzt, weil die rechte Partei Reform UK erstmalig in Umfragen vorn liegt. In Deutschland herrschte dagegen lange eine notorische Pathologisierung des Ostens. Man ruhte sich lange auf den „Diktaturerfahrungen“ der Ostdeutschen als Erklärungsmuster aus, getreu dem Motto: „Die Ossis werden nie Demokraten“.

Jetzt hat eine neue Studie mit dem Titel „Der lange Schatten der DDR-Sozialisation?“ der Soziologen Julian Heide, Thomas Lux und Steffen Mau von der Humboldt-Universität in Berlin untersucht, ob die Sozi

Demokraten“.Jetzt hat eine neue Studie mit dem Titel „Der lange Schatten der DDR-Sozialisation?“ der Soziologen Julian Heide, Thomas Lux und Steffen Mau von der Humboldt-Universität in Berlin untersucht, ob die Sozialisation in der DDR tatsächlich „lange Schatten“ auf politische Orientierungen wirft. Dazu nahmen die Forscher drei Gruppierungen vor, in „systemnah“, „schweigende Mehrheit“ und „Opposition“. Sie stellten – Überraschung! – fest, dass die Unterschiede zwischen den Gruppen „gradueller Natur“ sind, „ein großer Graben zwischen Diktatursozialisierten und anderen“ zeige sich nicht.Zu bedenken ist, dass mit Daten und Annahmen von 2018 bis 2020 gearbeitet wurde. Die AfD erreichte bei der Bundestagswahl 2021 etwas über zehn Prozent der Stimmen, während sie bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt im selben Jahr schon das Doppelte holte. Die Idee des Andersseins des Ostens war damals populär. Guckt man heute in die Zeitungen, so wird der Aufstieg der AfD endlich als das verstanden, was er ist – ein gesamtdeutsches Phänomen, das sich in westlichen Demokratien allerorten zeigt. Was zur Studie passt: Ostdeutsche sind demnach nicht demokratieverdrossener, sondern allenthalben demokratieempfindlicher als Westdeutsche. Sie reagieren schneller auf Krisen.Soziale Milieus ausgeblendetEinen interessanten Unterschied stellt die Studie jedoch heraus. Jeweils 40 Prozent der ehemaligen Staatsnahen und Dissidenten fühlten sich zum Untersuchungszeitpunkt bestimmten Parteien verbunden, die „Systemlinge“ meist der Linken, die Oppositionellen meist der CDU. Bei der „schweigenden Mitte“ hatten nur 30 Prozent ein parteipolitisches Zuhause. Dennoch lagen damit alle ostdeutschen Gruppen weit unter der traditionellen Parteibindung in Westdeutschland, die bei 50 Prozent verortet wurde. Das dürfte sich geändert haben, aktuell verzeichnet die SPD bei Umfragen mit circa 15 Prozent ihren niedrigsten Wert seit dem 19. Jahrhundert (die NS-Zeit, in der sie verboten war, ausgenommen) und die CDU/CSU mit 30 Prozent den zweitniedrigsten in ihrer Geschichte.Ein Kritikpunkt ist für mich aber das Ausblenden sozialer Milieus. So sollen Systemnahe als auch Dissidenten eine positivere Einstellung zur Migration aufweisen. Die Frage nach Herkunft ist jedoch hochrelevant. Dissidenten verkehrten oft in urbanen Intellektuellenkreisen, die SED hatte massive Probleme, Arbeiter für sich zu gewinnen – so sehr, dass man mitunter Funktionäre mitzählte und so die Statistik schönte. Könnte es sein, dass die „schweigende Mitte“ der DDR einen höheren Arbeiteranteil hatte?Letztes Jahr ging die AfD in der Europawahl unter den Arbeitern als beliebteste Partei hervor. Ob Reform UK, Rassemblement National oder FPÖ – migrationsfeindliche Strömungen punkten hier besonders. Diese wichtige Dimension fehlt in der Studie. Unbedingt zu begrüßen ist jedoch, dass sich Wissenschaftler in eine Debatte einklinken, die, wie die Autoren feststellen, bisher „weitgehend losgelöst vom Stand der Forschung“ stattfand und so vor allem Klischees über Ostdeutsche bediente.



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Von Veritatis

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