Heidi Reichinnek ist im Stress: Wahlkampftermine, Presseanfragen, TikTok-Hype und eine Linke, die tausende neue Mitglieder zählt und sich neu aufstellt. Ein Gespräch über den Mietendeckel, die NATO und Wege, einen Burn-out zu verhindern


Heidi Reichinnek: „Wir brauchen dringend sachlichere Debatten mit mehr Substanz darüber, wie wir eine bessere Sicherheitspolitik für unser Land gestalten können“

Foto: Julia Steinigeweg/Agentur Focus


Als Heidi Reichinnek im Februar 2024 zusammen mit Sören Pellmann zum Führungsduo der Linken-Gruppe im Bundestag gewählt wurde, gab es Kritik, Streit, Grabenkämpfe – wieder einmal, und das nach der BSW-Abspaltung. Doch genau ein Jahr später liegen die Dinge anders: Die Linke hat laut Umfragen gute Chancen auf den Einzug in den Bundestag in Fraktionsstärke, feiert einen Zustrom an neuen Mitgliedern und ist bester Laune. Was nicht zuletzt an Heidi Reichinnek liegt, neben Jan van Aken Spitzenkandidatin der Linken bei der Bundestagswahl, und Magnet für tausende Menschen, die zu Wahlkampfveranstaltungen der Partei kommen.

der Freitag: Frau Reichinnek, Sie sind gerade auf dem Weg von einer Wahlkampfveranstaltung in Hamburg zur nächsten in Schwerin. Bem

i Reichinnek liegt, neben Jan van Aken Spitzenkandidatin der Linken bei der Bundestagswahl, und Magnet für tausende Menschen, die zu Wahlkampfveranstaltungen der Partei kommen.der Freitag: Frau Reichinnek, Sie sind gerade auf dem Weg von einer Wahlkampfveranstaltung in Hamburg zur nächsten in Schwerin. Bemerken Sie eigentlich einen Unterschied zwischen den vielen Menschen in West- und in Ostdeutschland, die da kommen?Heidi Reichinnek: In der Tat nicht, egal wo ich war – etwa auch in Bayern Anfang des Jahres. Jetzt sind wir gerade in Mecklenburg-Vorpommern, Hamburg und Niedersachsen unterwegs. Wir haben eigentlich überall begeisterte und vor allen Dingen junge Menschen bei den Veranstaltungen, die sich organisieren, die linke Themen in den Mittelpunkt stellen wollen, mit uns gemeinsam. Ich bemerke keinen großen Unterschied, nein.Auch nicht, wenn Sie westdeutschen Spätgeborenen erzählen, dass mit Paragraf 218, der Schwangerschaftsabbrüche kriminalisiert, nach dem Ende der DDR Millionen ostdeutschen Frauen Rechte genommen wurden, die für sie bis dahin selbstverständlich waren?Es gibt natürlich Menschen, vor allem Frauen, die seit Jahr und Tag dafür kämpfen, dass dieser Paragraf gestrichen wird. Die wissen das, die haben sich mit der Geschichte beschäftigt, in Ost und West. Und es gibt die, die in ihrem Leben noch nicht mit dem Thema zu tun hatten und diesen zutiefst patriarchalen Paragrafen überhaupt nicht kennen. Und wenn sie dann um dessen Existenz wissen, sich meist nicht vorstellen können, dass es zumindest in einem Teil von Deutschland schon ganz anders war. Auch deswegen finde ich es so wichtig, auf die Geschichte von ostdeutschen Frauen hinzuweisen, weil das im gesamtdeutschen Diskurs zu wenig vorkommt und ihre Geschichte zeigt, dass Paragraf 218 kein Naturgesetz ist.Placeholder image-1Sie erleben einen immensen Mitgliederzustrom, auch in Westdeutschland. Befreit der die Linke nun vom „Stigma“, von den Vorurteilen, die viele im Westen lange mit der „SED-Nachfolgepartei“ verbunden haben?Diese Perspektive auf die Linke war nie meine eigene. Natürlich habe ich solche Vorurteile immer mal wieder gehört und antworte dann: Ich komme aus dem Osten, bin Jahrgang 1988, habe also mit dem allem nichts zu tun. Ich bin in die Linke eingetreten, weil sie wirklich an der Seite der Menschen steht. Das heißt, dass diese Partei Menschen im Alltag hilft, sei es mit den Sozialberatungen, dem Mietwucherrechner, dem Heizkostenrechner, dem Mindestlohnbetrugs-Meldeportal, mit unseren Haustürgesprächen. Dass wir die Leute organisieren, bei Mieter*innen-Stammtisch und im Nachbarschaftskaffee, das hat für mich immer die Linke ausgemacht.Die PDS als Nachfolgerin der SED hat ihre Geschichte wenigstens vernünftig aufgearbeitet. Das würde ich mir von CDU oder FDP auch mal wünschenUnd dennoch bleibt die Linke die Nachfolger-Partei der PDS, die die Nachfolger-Partei der SED war. Oder spielt diese Geschichte für Ihre Generation wirklich keine Rolle mehr?Jede Partei hat eine Vergangenheit, auch meine, die sich aus PDS und WASG zusammengeschlossen hat. Die PDS als Nachfolgerin der SED hat ihre Geschichte wenigstens vernünftig aufgearbeitet, und das war mir auch wichtig. Aber das würde ich mir von CDU oder FDP auch mal wünschen – die haben ja die ganzen Kader aus den Blockparteien im Osten übernommen. Darüber spricht niemand. Von daher: Ja, man wird noch darauf angesprochen, aber ich kann die Geschichte meiner Partei gut erklären. Meine Eltern waren ja keine großen Fans dieses Systems, sie waren selber in der Kirche und die PDS hatte bei uns in der Familie nicht den besten Ruf. Das kam erst mit der Zeit, als ich mich mit der Linken beschäftigt habe und meine Eltern irgendwann sagten, wir sehen, das ist eine neue und andere Partei, und es ist gut, dass diese Entwicklung so abgelaufen ist.Sie kommen aus Sachsen-Anhalt, wie sind Sie denn aufgewachsen?Ich bin in Merseburg geboren, da kommen meine Großeltern her, und bin mit meiner Familie in Obhausen aufgewachsen. Das ist ein ganz kleines Dorf, jetzt im Saale-Kreis, hat etwa 1.800 Einwohner mit verschiedenen Ortsteilen. Damals gab es noch eine Grundschule im Dorf, die gibt es jetzt nicht mehr. Es gab auch einen Bahnhof im Dorf, den gibt es, seit ich 12, 13 war, auch nicht mehr. Die ganzen kleinen Geschäfte haben zugemacht. Wenn ich in der alten Heimat bin, erlebe ich, wie es ist, wenn der ländliche Raum ausblutet: Immer weniger Infrastruktur, öffentliche Daseinsvorsorge, weniger Geschäfte und Möglichkeiten, sich zu treffen und zu vernetzen, das ist ein Riesenproblem. Wir brauchen dringend einen Staat, der wirklich wieder für die Leute da ist, nicht nur in der Stadt, sondern eben auch im ländlichen Raum. Damit der Bus regelmäßig fährt, damit es eine ärztliche Versorgung gibt und auch Angebote für junge Menschen.Naiv und gefährlich ist es, AfD-Logiken zu übernehmen und Scheinlösungen zu präsentieren, die im Kern nichts an der Sicherheitslage ändern, sondern vor allem Ängste schürenSie haben dann in Halle (Saale) studiert. Warum sind Sie dann später nach Marburg in Hessen gezogen, und warum sind Sie dort nicht geblieben?Um dort meinen Master zu machen, Politik und Wirtschaft des Nahen und Mittleren Ostens – den fand ich unfassbar spannend, vor allem nach einem Auslandsaufenthalt in Kairo. Nach dem Master habe ich an der Uni als wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem Projekt gearbeitet. Und dann ging es nach Osnabrück – aus privaten Gründen. Ich habe dort angefangen, in der Jugendhilfe zu arbeiten, in einer Clearingstelle für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, und später in der ambulanten Jugendhilfe, und fand eine neue Heimat, in der ich mich sehr wohlfühle.Den Wahlkampf prägt die Serie an Tötungsdelikten wie in Aschaffenburg. Die mutmaßlichen Täter sind mitunter Männer, deren Asylgesuch eigentlich abgelehnt wurde. Die Linke hat mittlerweile fast ein Alleinstellungsmerkmal darin, dass Sie sagen, die Herkunft des Täters sei nicht entscheidend und das Asylrecht solle nicht restriktiver werden. Ist das nicht naiv?Naiv und gefährlich ist es, AfD-Logiken und -Argumente zu übernehmen und Scheinlösungen zu präsentieren, die im Kern nichts an der Sicherheitslage ändern, sondern vor allem Ängste schüren. Nationalität ist keine Ursache für furchtbare Gewalttaten. Kriminologen mahnen völlig zurecht an, dass man die Sicherheits- und die Migrationsdebatte nicht vermengen dürfe. Die Grenzen dauerhaft zu schließen, wäre praktisch unmöglich, wie selbst die Gewerkschaft der Polizei betont. Richtig wäre, endlich massiv und effektiv die Fluchtursachen in den Ursprungsländern zu bekämpfen und bei uns die Zahl von Therapieplätzen für Traumatisierte massiv zu erhöhen. Das Thema Prävention spielt in der aktuellen Debatte eine viel zu geringe Rolle. Auf der anderen Seite braucht es endlich eine bessere Vernetzung von Behörden und mehr Ressourcen in der Justiz und in den Sicherheitsbehörden. Was wir aber auch dringend benötigen – das zeigen viele der politischen Reaktionen der letzten Wochen: Wir brauchen dringend sachlichere Debatten mit mehr Substanz darüber, wie wir eine bessere Sicherheitspolitik für unser Land gestalten können. Das sollte die Verpflichtung aller sein – auch im Wahlkampf.Migration wurde spätestens nach 2015 zu einem zentralen Konfliktthema auch innerhalb der Linkspartei. Sie sind 2015 eingetreten – was war das für eine Partei damals?Ich bin einfach zu einem Treffen des Kreisverbands Osnabrück-Stadt gegangen. Das war eine recht kleine Runde, zwischen zehn und 15 Leuten, größtenteils über 60. Eine Frau war dabei, die sich ganz doll gefreut hat, dass da eine andere Frau kaum, und noch dazu eine junge. Wir saßen später beide im Stadtrat und ich bin ihr noch heute eng verbunden. Es war schon alles sehr männlich und eher älter, aber alle haben mich willkommen geheißen und eingebunden, haben gesagt: „Hey, wir machen eine Veranstaltung, hast du Lust, sie mit zu organisieren?“Die große Herausforderung wird sein, diese ganzen neuen engagierten Mitglieder auch einzubindenAber wie haben Sie über all die Jahre seit 2015 hinweg die internen Streits, die ja nicht nur medial, sondern auch tatsächlich die Partei geprägt haben, miterlebt?Zunächst einmal wegen der Inhalte, an denen alle in der Partei ja trotzdem weitergearbeitet haben und die mir wichtig waren. Und es waren ja immer viele Menschen dabei, die sich an diesen Streits nicht beteiligt haben und die einfach nur vor Ort aktiv sein wollten und es auch erfolgreich waren. Ich selbst war ja in der Kommunalpolitik tätig. Aber Fakt ist auch: Ich bin froh, dass diese Zeit des Partei-Streits endlich vorbei ist und ich meine ganze Energie jetzt auf konstruktive Arbeit lenken kann.Placeholder image-2Und jetzt haben sie einen sehr großen Zustrom auf mehr als 81.000 Mitglieder.Die große Herausforderung wird sein, diese ganzen neuen engagierten Mitglieder auch einzubinden, Schulungen anzubieten: Wie läuft die Organisation im Kreisverband? Was ist die Geschichte der Linken, also nicht nur der Partei, sondern auch der Linken insgesamt in Deutschland? Was sind eigentlich linke Konzepte von sozialer Gerechtigkeit, von Klimaschutz, von Außenpolitik? Da gibt es eine ganze Menge zu tun, nach der Wahl wartet immens viel Arbeit auf uns – aber ich habe richtig Lust darauf. Und unsere Genossinnen, die schon seit langem dabei sind und die Partei auch durch schwere Phasen getragen haben, freuen sich, dass da jetzt neue Unterstützung kommt und das auch noch so zahlreich.Wann war der Punkt, an dem sie zum ersten Mal realisiert haben, dass da ein richtiger Hype entsteht um die Linke und es in den Umfragen aufwärts geht?Ich kann es immer noch nicht so ganz glauben, was gerade läuft. Natürlich steckt da jahrelange Arbeit drin und es ist nicht so, wie manche schreiben, dass ich als Shootingstar mit meiner Rede im Bundestag zum Bruch der Brandmauer diesen Erfolg ausgelöst habe. Ich bin seit dem Jahr 2021 im Bundestag, auch in den sozialen Medien bin ich schon länger sehr aktiv. Aber ich glaube, diese eine Rede hat vielen aus dem Herzen gesprochen. Das freut mich total. Sie war ja auch für mich sehr, sehr spontan und ich habe meinen ganzen Frust, meine Wut damit rausgebracht. Es kommt viel zusammen. Ich weiß noch, als wir bei drei Prozent standen und viele politische Beobachter sagten, das wird nichts mehr mit der Linken, da entschieden wir: Wir geben nicht auf, wir versuchen es mit aller Kraft, wir stehen mit unseren Namen und Gesichtern für diese Partei, ihre Inhalte und Ziele. Alle haben voll mitgemacht. Das hat sich ausgezahlt.Was wir beim Mindestlohn geschafft haben, werden wir auch beim Mietendeckel schaffenSie haben im Wahlkampf stark auf das Thema bezahlbare Miete gesetzt. Wohnen Sie eigentlich in Osnabrück selbst zur Miete?Ja, natürlich.Und Sie glauben wirklich daran, einen wirksamen bundesweiten Mietendeckel durchsetzen zu können?Na ja, wir haben es ja beim Mindestlohn auch geschafft: Dort waren wir auch die ersten, die darüber geredet haben. Alle haben uns ausgelacht! Aber dann haben wir so einen Druck erzeugt zusammen mit den Gewerkschaften, der Gesellschaft, dass er gekommen ist. Warum sollte das nicht auch bei einem Mietendeckel klappen? Vor allem, weil es ja ein großes deutschlandweites Bündnis gibt, das dahintersteht: zahlreiche Initiativen, Gewerkschaften, Kirchen. Diese gesellschaftliche Botschaft muss nun ins Parlament getragen werden. Wie lange das dauert, werden wir sehen. Aber ich bin der festen Überzeugung, wir bekommen das hin.Das Thema Mieten ist ja eines, das seit vielen Jahren virulent ist. Was machen Sie jetzt anders als die anderen oder auch als Ihre Partei zuvor, dass das Thema nun ankommt?Wir haben Mieten als eines unserer Kernthemen im Wahlkampf gesetzt. Das war für die Partei keine leichte Entscheidung, ich persönlich hätte gern viel mehr zu Kindern und Familienpolitik gemacht, andere lieber mehr zu Außenpolitik oder zu Klimapolitik – alles sehr virulente Themen. Aber weil unsere Kapazitäten begrenzt sind, wollten und mussten wir uns fokussieren. Wir haben einen Mietwucher-Rechner programmiert, mit dem die Menschen gegen überhöhte Mieten vorgehen können. Zudem helfen wir mit einem Nebenkostenrechner, gegen falsche Heizkostenabrechnungen vorzugehen und sich bares Geld zurückzuholen. Das spricht sich rum. Die Leute sehen, wir reden nicht nur und versprechen wie andere Parteien oder selbsternannte Mietenkanzler das Blaue vom Himmel, sondern machen. Außerdem sind wir an hunderttausenden Haustüren unterwegs und sprechen direkt mit den Leuten vor Ort über Wohnungsnot und Mietpreisexplosion. Wir sind wirklich dran am Mieten-Thema, nicht nur auf Wahlplakaten.Für welche Außen- und Verteidigungspolitik würde denn eine Linksfraktion im Bundestag stehen?Es wird eine Fraktion sein, die sich klar gegen diese Zeitenwende der Hochrüstung und gegen die Militarisierung der Gesellschaft stellt, gegen dieses gegenseitige Überbieten, wie viel vom Bruttoinlandsprodukt man für Aufrüstung ausgibt. Das nimmt ja mittlerweile Ausmaße an, die jenseits von Gut und Böse sind – plötzlich wird von 3,5 oder gar über fünf Prozent geredet. Dagegen werden wir uns stemmen, weil es ja nicht darum gehen kann, noch mehr aufzurüsten, während gleichzeitig sonst an allen Enden und Ecken das Geld fehlt für Bildung, Gesundheit, Kindergrundsicherung und eine funktionierende Infrastruktur. Ich meine, wir leben in einer Zeit, da schwadronierte unlängst eine Bildungsministerin davon, man müsse die Schülerinnen und Schüler auf den Kriegsfall vorbereiten mit Übungen. Gegen diesen Zeitgeist der Militarisierung stehen wir auf – auch im Parlament.Putin hat mit diesem Angriffskrieg ganz klar gezeigt, wo er steht. Natürlich muss es mit einem Russland – bestenfalls ohne Wladimir Putin – auch irgendwann wieder bessere Beziehungen gebenWollen Sie aus der NATO raus oder in ihr bleiben? Wie halten Sie es mit deren Rolle im Ukraine-Krieg?Schon aus unserer Geschichte als linke Partei heraus sagen wir, die NATO ist kein Garant für den Frieden, sondern hat zu Konflikten beigetragen, indem sie die Konfliktlinien des Kalten Krieges fortgeführt hat. Dazu kommt, dass NATO-Mitglieder wie die Türkei regelmäßig die kurdischen Gebiete in Rojava bombardieren und gegen internationales Recht verstoßen. Das ist doch nichts, was man einfach so ignorieren und hinnehmen kann, sondern wir müssen Sicherheitsbündnisse suchen und eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik in den Fokus setzen, die über die NATO hinausgeht. Es geht nicht darum, Verträge zu zerreißen, aber wir brauchen neue Bündnisse auch mit anderen politischen Akteuren, die wirklich global Frieden schaffen können.Verfolgt die Linke das langfristige Ziel eines friedlichen Verhältnisses zu Russland?Zunächst muss man sich klar werden: Es ist ein Unterschied, ob ich über Putin spreche, über Russland oder über die Menschen in Russland. Putin hat mit diesem Angriffskrieg ganz klar gezeigt, wo er steht. Er ist ein Aggressor. Natürlich muss es mit einem Russland – bestenfalls ohne Wladimir Putin – auch irgendwann wieder bessere Beziehungen geben. Es gibt aber noch eine Menge anderer Politiken, die man verfolgen kann: Die innere Opposition in Russland stärken und Putin schwächen, indem man russischen Deserteuren hier endlich Schutz gewährt. Das hat Olaf Scholz ja auch zugesagt, aber dann nicht getan. Was für ein Versagen und auch was für eine Enttäuschung für die vielen mutigen Menschen in Russland. Wir haben doch gesehen, nachdem dieser Angriffskrieg gestartet wurde, dass sehr viele Menschen in Russland demonstriert haben gegen Putin, mit dem Wissen, dass Gefängnis und Schlimmeres drohen. Wichtig wäre auch, mehr Druck auf die russische Oligarchenkaste auszuüben und ihr weltweit verstreutes Vermögen endlich umfassend zu konfiszieren – auch hierzulande. Deren Immobilien beispielsweise – das wäre doch was. Aber dafür fehlt nicht nur ein Immobilienregister, sondern leider auch der politische Wille. Ein solches Register haben wir nach Kriegsbeginn beantragt – leider ohne Erfolg. Sicherlich auch deswegen, weil einige der von der Immobilienlobby gut bespendeten Parteien niemals wollen, dass bekannt wird, wer alles im deutschen Betongold investiert ist. Das würde die Macht der Immobilienlobby empfindlich beschneiden.Ein Russland ohne Putin ist weit unwahrscheinlicher als ein Ende des Krieges in der Ukraine. Begrüßen Sie, dass Donald Trump nun radikal dafür sorgt, dass es Verhandlungen gibt?Natürlich ist zu begrüßen, dass es endlich mehr Druck in Richtung Verhandlungen gibt. Das haben wir die ganze Zeit gefordert und es ist ein großes Versagen von Europa und insbesondere der Bundesregierung, nicht ernsthaft europäische Friedensinitiativen oder diplomatische Vorstöße mit China, Indien oder Brasilien angestoßen zu haben. Deutschland hätte Vorreiter in Sachen Diplomatie sein sollen, stattdessen drehte sich fast alles um die Lieferung von Waffen. Dass man als Europäische Union auf Trumps Vorstoß nun nur reagieren kann, ohne offenbar eigene Konzepte in der Tasche zu haben, ist ein ernsthaftes Problem. Denn dass man sich außenpolitisch gerade auf die USA verlassen kann, ist relativ unwahrscheinlich.Ich will diese Corona-Politik nicht verurteilen. Aber was da beschlossen wurde, hatte Folgen, die nicht abgemildert worden sindBei Ihren Wahlkampfveranstaltungen sprechen Sie kaum über den Krieg – aber zuletzt viel über psychische Gesundheit und die psychotherapeutische Versorgungslage in Deutschland. Das findet großen Anklang …Ja, das tut es! Weil die psychotherapeutische Versorgungslage in Deutschland schlecht ist und gleichzeitig all die Krisen vielen Menschen extrem zusetzen und einige auch krank machen und es so schwer ist, Hilfe zu finden, oder es zumindest mitunter viel zu lange dauert. Wir sehen doch: Die Klimakrise, auch wenn sie fast nicht thematisiert wird im Wahlkampf, die Kriege, und dazu der ganze Druck, der durch die ökonomische Unsicherheit entsteht – all das ist real und das macht etwas mit den Menschen. Früher war man sich sicher: In der Zukunft wird es meinem Kind besser gehen als mir, und ich werde mir mal ein Haus bauen können. Dieser Glaube an eine bessere Zukunft ist bei vielen weg. Der Neoliberalismus der letzten Jahrzehnte hat diese Zuversicht aufgefressen, sorgt permanent für Druck. Mittlerweile ist der Traum vom Eigenheim selbst für die Mittelschicht geplatzt. Mehr noch: Viele Leute haben Angst, wie sie überhaupt über die Runden kommen, und wie ihre Zukunft aussieht – im Großen wie im Kleinen. Die Idee, eine neue Wohnung finden zu müssen, sorgt in vielen Metropolen selbst bei Durchschnittsverdienenden für massive Ängste. Und denken wir nur mal an junge Menschen: Der Druck in der Schule ist enorm, sie sorgen sich zurecht ums Klima und auch Corona ist in gewisser Hinsicht nicht aufgearbeitet – was da jungen Menschen genommen wurde an Freiheit, an Erfahrungen, das lässt sich nicht so einfach ausgleichen, da ist viel kaputtgegangen. Die aktuelle politische Situation sorgt permanent für Bedingungen, die vielen Leuten auch psychisch zusetzen, aber spricht kaum darüber, geschweige denn sorgt sie für Abhilfe.Wie haben Sie die Corona-Politik erlebt?Das waren schon krasse Zeiten, als man sich nur noch mit zwei Haushalten treffen, nicht mal zu dritt spazieren gehen konnte. Dann wurden die Spielplätze abgesperrt, die Kitas und Schulen geschlossen. Ich will diese Corona-Politik nicht verurteilen. Natürlich weiß man hinterher immer mehr. Aber was da beschlossen wurde, hatte Folgen, die nicht abgemildert worden sind. Ich habe das mitbekommen in der Jugendhilfe, es gibt da unfassbar viel Bedarf. Das System war damals schon kaputtgespart worden, gerade während Corona hätte man da massiv investieren müssen, jetzt muss es aufgebaut werden: Mehr Beratung, eine vernünftige Schulsozialarbeit, Bund und Länder, müssen gemeinsam agieren.Darüber wird im Wahlkampf nur wenig gesprochen.Diese Fragen werden überhaupt nicht thematisiert. Bei der psychotherapeutischen Unterstützung ist es so, dass wir mehr Kassenärztliche Psychotherapeuten brauchen: Wir haben durchaus noch einige hier, die mit jungen Menschen arbeiten könnten, die aber keinen Kassensitz haben, sondern privat bezahlt werden müssen. Dieses Zweiklassensystem ist ein Riesenproblem. Wir müssen auch überlegen, ob die Ausbildung zum Psychotherapeuten besser unterstützt und finanziert werden muss. Da werde ich auch ganz oft drauf angesprochen: Menschen, die gerne Psychotherapeuten werden wollen, aber sich fragen, wie sie sich die Ausbildung leisten sollen.Nach der Wahl sind auch ein paar Ruhephasen eingeplant. Mal sehen, ob ich sie wirklich einhalten kannWie steht es denn um Ihre eigene psychische Gesundheit? Bei einem derartigen Pensum, das Sie derzeit leisten müssen, um die öffentliche Aufmerksamkeit zu bedienen: Wie schützen Sie sich vor einem Burn-out?Es ist gerade sehr herausfordernd, das muss man ganz klar sagen. Was mich jetzt schützt, ist zum einen das Team, das hinter mir steht und das mir den Rücken freihält. Ohne sie würde das überhaupt nicht funktionieren. Das gilt für alle Abgeordneten: Wir wären nichts ohne die Leute, die bei uns sind. Zum anderen sehe ich, wie viel Unterstützung wir gerade von vielen Menschen bekommen, die auf uns vertrauen, die mit uns gemeinsam was bewegen wollen. Sie bedanken sich bei mir nach Veranstaltungen, schreiben mir. Das motiviert natürlich total, gibt mir viel Kraft, das alles durchzuhalten. Aber ich versuche natürlich auch, für mich Freiräume zu finden. Mich einfach mal einen Tag lang rauszunehmen, wie jetzt am Wochenende. Mal so ein bisschen runterfahren. Sozialen Akku aufladen. Nach der Wahl sind auch ein paar Ruhephasen eingeplant. Mal sehen, ob ich sie wirklich einhalten kann.



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Von Veritatis

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