Die Angehörigen der Opfer des rassistischen Terroranschlags von Hanau ziehen zum fünften Jahrestag Bilanz. Über die Trauer. Über den Versuch, Fehler aufzuarbeiten. Und über verpasste Chancen
„Sag ihre Namen“, und mache die Erinnerung sichtbar in der Stadt: Es waren die Angehörigen selbst, die das erreicht haben
Foto: Cigdem Ucuncu/Nar Photos/laif
Said Etris Hashemi sitzt an einem weißen Konferenztisch aus Holz. In den Räumen der Initiative 19. Februar, direkt am Heumarkt in Hanau, dem ersten Anschlagsort, geht er seit fast fünf Jahren aus und ein. Am 19. Februar 2020 ermordete ein 43-Jähriger seinen Bruder Said Nesar Hashemi und acht andere Menschen aus rassistischen Motiven. Der Täter tötete dann seine eigene Mutter und sich selbst. Said Etris überlebte schwer verletzt mit einer Kugel im Hals.
Von den Räumen der Initiative 19. Februar aus nahm die beispiellose Selbstorganisierung von Unterstützern sowie von Freunden und Angehörigen der Ermordeten ihren Anfang. Unzählige Fernsehteams waren vor Ort, Pressekonferenzen fanden statt, es wurden Kampagnen entwickelt und es wurde mitei
Angehörigen der Ermordeten ihren Anfang. Unzählige Fernsehteams waren vor Ort, Pressekonferenzen fanden statt, es wurden Kampagnen entwickelt und es wurde miteinander getrauert. Immer waren es die Angehörigen selbst, die die Erinnerungskultur prägten, Aufklärung forderten und die Politik zum Handeln drängten.Said Etris Hashemi, eine der prägenden Stimmen der Selbstorganisierung, trifft sich regelmäßig mit Politkern und Akteuren der Zivilgesellschaft, wird in Talkshows und auf Podien eingeladen, hat ein viel beachtetes Buch veröffentlicht.„Wir haben viel geschafft“, sagt er. Doch er spricht auch von seelischen Narben – nicht nur von denen, die der Anschlag hinterließ, sondern auch von denen, die der Umgang der Behörden und der Politik mit der Tat verursachte. „Das Vertrauen ist zerbrochen. Die wenigsten Menschen hier in Hanau haben eigentlich noch Vertrauen in die Politik.“ Sätze, die nachhallen.Erinnern, von untenDas bundesweite Interesse an Hanau war vor allem im Jahr nach dem Anschlag groß. Besonders die Art des Gedenkens, wie sie die Initiative prägte, fand Aufmerksamkeit. Der Leitspruch der Hanauer Erinnerungspolitik prangt in großen Leuchtbuchstaben über dem Schaufenster des Ladenlokals am Heumarkt: „#SayTheirNames“ – ein Hashtag, der aus der antirassistischen Bewegung in den USA stammt. Bilder und Namen der Ermordeten sind in Hanau und bundesweit seit dem Anschlag allgegenwärtig – auf Aufklebern, Hauswänden, Stromkästen und U-Bahn-Eingängen. „Es ist das erste Mal, dass die Menschen, die gestorben sind, im Vordergrund stehen. Ihre Namen und Geschichten werden erzählt – nicht die des Täters“, sagt Hashemi nicht ohne Stolz.Nicht nur die Erinnerungsarbeit ging von unten aus, auch die Rufe nach Aufklärung, wie es zu der Tat kommen konnte und welche Fehler die Behörden während und nach der Tatnacht machten, wurden weit über Hanau hinaus hörbar. Immer wieder deckten Angehörige, Überlebende und Unterstützer Widersprüche und Ungereimtheiten auf. Drei Beispiele von vielen: Als Vili Viorel Păun den Täter mit seinem Auto vom ersten Anschlagsort zum zweiten verfolgte, versuchte er mehrmals vergeblich, den Notruf der Polizei zu erreichen. Ohne je mit einem Polizisten sprechen zu können, verfolgte er den Täter weiter – und wurde schließlich von ihm ermordet. Zweitens: Angehörige und Überlebende wiesen schon kurz nach der Tat auf den verschlossenen Notausgang der Arena Bar hin. Die Behörden bestritten dies lange. Und drittens: Warum durfte der Täter überhaupt eine Waffe besitzen, obwohl er schon vor der Tat mehrfach auffällig geworden war? Auch diese Frage wurde von der Initiative schon früh gestellt.Eine Zeit lang setzten die Angehörigen einige Hoffnungen in den Generalbundesanwalt, der noch in der Tatnacht die Ermittlungen übernahm, berichtet Hashemi. „Doch schnell wurde uns klar, dass es nicht so lief, wie wir uns das erhofft hatten.“ Etwa ein halbes Jahr nach der Tat kam ein Gremium des Generalbundesanwalts nach Hanau – um zu ermitteln, aber auch, um die Fragen der Angehörigen zu beantworten. Antworten habe es keine gegeben, sagt Hashemi. „Ganz im Gegenteil: Wir konnten zum Teil deren Fragen beantworten.“ Spätestens da war klar: Es brauchte eine politische Aufarbeitung der Geschehnisse. Es brauchte einen Untersuchungsausschuss.Placeholder image-1Durch öffentliche Aktionen und eine gezielte Medien- und Öffentlichkeitsarbeit machten die Angehörigen Druck. Am 1. Juli 2021 war ein Zwischenziel erreicht: Der Untersuchungsausschuss kam. Er dauerte mehr als zwei Jahre. Viele Fragen blieben offen, etwa zur Rolle des Vaters des Täters. Einige Fragen aber wurden beantwortet: Für den Untersuchungsausschuss steht fest, so ist es im Abschlussbericht zu lesen, „dass der Notausgang in der Tatnacht verschlossen war“. Auch bestätigte der Untersuchungsausschuss, dass die Polizeistation in Hanau unterbesetzt und das Notrufsystem technisch veraltet war, es mangelte an einer Weiterleitung an eine Leitstelle. Doch Konsequenzen? Blieben aus. Keiner wollte die Verantwortung für die Fehler übernehmen.Für Said Etris Hashemi war die letzte öffentliche Sitzung das Highlight des Untersuchungsausschusses. Es war der Tag, als der hessische Innenminister Peter Beuth (CDU) aussagte. Anders als viele seiner Freunde und Mitstreiter hatte er ein wenig Hoffnung, dass Beuth alle überrascht, sagt Hashemi: „Dass er sich vielleicht doch entschuldigt, zugibt, dass etwas falschgelaufen ist, dass er die Verantwortung übernimmt.“ Beuth räumte zwar einige Defizite ein, etwa in der Kommunikation mit den Opferfamilien, verteidigte aber trotzdem und grundsätzlich die Arbeit der Sicherheitsbehörden. Beuth habe in der Anhörung gar von guter Polizeiarbeit gesprochen. Eine Entschuldigung gab es nicht. Die kam dann erst im Januar 2024 – von der neuen Regierung, nun ohne Beuth. „Es ist einfach, dass irgendjemand Neues kommt, der nichts damit zu tun hatte, und sich entschuldigt“, sagt Hashemi. Und setzt hinzu: „So einfach ist es nicht.“Antje Heigl kann den Frust gut nachvollziehen. Sie arbeitet seit mehr als 30 Jahren im Jugendzentrum von Hanau-Kesselstadt, dem Stadtteil, aus dem viele der am 19. Februar Ermordeten kamen und in dem der Täter nach der Innenstadt sechs Menschen erschoss und anschließend seine Mutter und sich selbst. Heigl kannte viele der Ermordeten, hat einige ihr halbes Leben begleitet. Aus ihrer Praxis weiß sie, wie wichtig es ist, dass Fehler eingestanden werden. Nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für die, die Fehler gemacht haben, sagt die Sozialarbeiterin. Das eine seien die Fehler selbst, das andere, wie es dann weitergeht. „Über die Art und Weise des Umgangs entsteht nämlich auch wieder Vertrauen.“ Gibt es aber keine echte Aufarbeitung des Behördenversagens, kann das langfristige negative Folgen für alle haben. „Wenn wir wollen, dass die Menschen hier Vertrauen in die Polizei und in die Justiz haben, dann müssen wir einen Umgang mit solchen Fehlern finden, ansonsten wenden die Leute sich ab.“Ich sag dir ehrlich: Ich habe kein Vertrauen. Es ist, wie es ist.Jaweid Gholam Im Jugendzentrum versuchen Antje Heigl und ihre Mitarbeiter, mit der Ambivalenz zwischen Trauer- und Gedenkarbeit auf der einen Seite und Normalität auf der anderen umzugehen. Inzwischen gebe es eine neue Generation von Jugendlichen, die weniger direkte Bezüge zu dem Anschlag haben. Doch das Thema bleibe präsent, sagt Heigl – auch durch den Vater des Täters, der noch immer in der Nachbarschaft lebt.Nur wenige Meter Luftlinie entfernt vom Jugendzentrum befindet sich das Haus, in dem der Täter gelebt hat und in dem noch immer der Vater wohnt. Sein Verhalten beschäftigt seit Jahren nicht nur die Anwohner. Er forderte, die rassistische Website seines Sohnes wieder freizuschalten, wollte die Tatwaffe seines Sohnes zurück, beschwerte sich über die Gedenkstätten in der Stadt. Und er belästigte immer wieder Anwohner und Hinterbliebene – so etwa Serpil Temiz Unvar, die Mutter des am 19. Februar ermordeten Ferhat Unvar.Trotz Annäherungsverbots tauchte der Vater des Täters immer wieder vor dem Haus der Familie Unvar auf, das ebenfalls nur wenige Gehminuten vom Jugendzentrum, dem Anschlagsort und dem Haus des Täters entfernt ist. „Als er zum ersten Mal vor meinem Fenster stand, dachte ich, er sei ein älterer Mann, der uns unterstützen möchte“, sagt Serpil Temiz Unvar. Sie weiß zu diesem Zeitpunkt nicht, wie der Vater des Täters aussieht. Sie wollte das bewusst nicht, um nicht zu erschrecken, wenn sie ihm mal zufällig in der Nachbarschaft begegnet. Als der ältere Mann im Herbst 2022 vor ihrem Küchenfenster steht und anfängt, komische und beleidigende Fragen zu stellen, merkt sie aber schnell, dass vor ihr kein Unterstützer steht.Wegziehen? Das geht nichtNachdem sie Nachforschungen angestellt hat, ob es sich bei dem Mann wirklich um den Vater des Täters handelt, wendet sie sich an die Polizei und die Stadt. Und sie bekommt Unterstützung. Hanaus Oberbürgermeister Claus Kaminsky spricht öffentlich von subtilem Terror, den der Vater ausübe, sagt aber auch, dass alle rechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft seien. Serpil Temiz Unvar hat dafür Verständnis, versucht aber, sich nicht unterkriegen zu lassen. Ähnlich wie Said Etris Hashemi steht Serpil Temiz Unvar in der Öffentlichkeit, um über Hanau aufzuklären und für eine andere Gesellschaft zu streiten. Bereits ein halbes Jahr nach dem Anschlag gründet sie die Bildungsinitiative Ferhat Unvar, benannt nach ihrem Sohn, über die der Freitag bereits mehrmals berichtet hat.Doch sie kann unzählige Situationen aufzählen, die das Vertrauen in die Behörden in Mitleidenschaft gezogen haben. Als es etwa wieder einmal Stress mit dem Vater des Täters gab und Polizisten in ihr Haus kamen, habe ein Beamter gesagt, sie solle doch einfach wegziehen, dann hätte sie die Probleme nicht mehr. „Ich war geschockt, wie er mir so etwas sagen konnte.“ Unsensibel sei das gewesen, zumal das das vermutete Ziel des Vaters sei. Kesselstadt möchte sie nicht verlassen – den Ort, an dem ihr Sohn aufgewachsen ist – und an dem er gestorben ist. „Kesselstadt verlassen? Das geht nicht.“Geblieben ist auch Jaweid Gholam, wiederum nur wenige Hundert Meter entfernt vom Haus der Familie Unvar. Auch er kannte viele der Ermordeten, engagiert sich heute noch im Jugendzentrum, wo er selbst als Jugendlicher ein und aus ging. Um ein Haar wäre er am Abend des 19. Februars auch in der Arena Bar gewesen. Nachdem er mit seinem Freund Ferhat Unvar vom Jugendzentrum aufgebrochen war, entschied er sich spontan, nach Hause zu gehen. Aus seinen Sätzen spricht Resignation, wenn er von der fehlenden Aufklärung spricht. Als Hanau im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit stand, hatte er gehofft, dass endlich Licht ins Dunkel gebracht würde. „Was uns traurig macht, ist, dass in der Zeit, wo diese Aufmerksamkeit präsent war, nichts wirklich aufgeklärt wurde – Notausgang nicht, Polizeieinsatz nicht, Umgang mit Angehörigen nicht.“ Inzwischen sei das Interesse gesunken, die Öffentlichkeit abgestumpft, sagt Gholam. „Dann kannst du schreien auf der Straße, wie du möchtest. Wenn du die Leute nicht mehr hast, weil das Thema nicht mehr relevant genug ist, dann haben die, die das zu verantworten haben, das ja im Endeffekt gekonnt ignoriert.“Bei der Frage, wie sich sein Vertrauen in Staat und Behörden in den vergangenen fünf Jahren entwickelt habe, zögert er kurz. Dann sagt er: „Ich sag dir ehrlich: Ich habe kein Vertrauen. Es ist, wie es ist.“Dieser Text ist im Rahmen der Recherchen für das Radiofeature Angst, Wut, Hoffnung: Hanau und die Folgen des rassistischen Attentats entstanden, das von Deutschlandfunk Kultur und dem NDR produziert wurde. Die Ursendung lief am 15. Februar bei Deutschlandfunk Kultur. Sie ist online in der ARD Audiothek abrufbar.