Die Schriftstellerin Natalka Sniadanko lebt seit Russlands Überfall auf die Ukraine in Deutschland. Hier erzählt sie, was Überdauern im Exil für sie als Autorin bedeutet und was sie für die Zukunft ihres Landes befürchtet


Das magische Denken, diese Verhandlungen führten zum Frieden, macht mich neidisch

Illustration: Sergiy Maidukov


Es war früher so, dass am 31. Dezember das Jahr endete und eine Woche später Weihnachten war. Zum zweiten Mal allerdings. Das erste Weihnachen war immer schon am 25. Dezember. Alles gab es doppelt damals, dazwischen die 13 Tage, die der julianische und der gregorianische Kalender auseinanderliegen. So konnte man nicht nur ein „Neues Jahr“ am 1. Januar, sondern auch noch ein „altes Neues Jahr“ am 13. Januar feiern.

Manchmal hatte ich das Gefühl, damit wurde das Jahr um 13 Tage länger, die nirgendwohin gehörten. Und in diesem Nirgendwo gab es ganz viele Festanlässe, sowohl nach dem alten als auch nach dem aktuellen Kalender.

Feiertage gibt es in der Ukraine kaum noch, stattdessen immer mehr Todestage

Seit 2023 gibt es kein Weihnachtsfest meh

es kein Weihnachtsfest mehr am 7. Januar in der Ukraine. Eigentlich gibt es dort seit 2022 kaum noch offizielle Feiertage. Und manchmal habe ich das Gefühl, dass der Jahresbeginn seitdem noch weiter verschoben wurde. Jetzt fühlt sich der 24. Februar wie der inoffizielle Jahresbeginn in der Ukraine an. Auch außerhalb des Landes ist es ein Tag, an dem man (immer noch? wie lange noch? nicht mehr?) an die Ukraine denkt.Die Liste dessen, was im vorigen Jahr passiert ist, wird immer düsterer, mit immer mehr Todestagen, immer weniger Anlässen zur Freude. Freude ist generell zu etwas Überflüssigem erklärt worden. Ähnlich wie Glück klingt sie zurzeit viel zu abstrakt, um wahrgenommen zu werden. Anstelle der Freude und des Glücks geht es nur ums Überdauern.Ich versuche trotzdem, das vergangene Jahr zusammenzufassen und eine To-do-Liste für das kommende zu erstellen. Selbst wenn vieles auf dieser Liste seit Jahren konstant bleibt.Einige wichtige Projekte kamen im vergangenen Jahr zustande. Eine der ältesten und renommiertesten Literaturzeitschriften Deutschlands, die horen, hat ein ukrainisches Heft publiziert. Die meisten Autoren sind zuvor noch nicht oder kaum ins Deutsche übersetzt worden, manche schaffen das wohl auch nicht mehr, da sie im Krieg gefallen sind. Viktoria Amelina, Maksym Krywtschow, Jewhen Hulewytsch. Es gab bereits mehrere Lesungen aus dem Heft, einige stehen noch bevor. Eine andere wichtige Literaturzeitschrift erlebte 2024 ihre Wiedergeburt. Die Edition RADAR von Willa Decius aus Krakau erscheint auf Polnisch, Ukrainisch und Deutsch und war eine wichtige Adresse für die neuesten Texte aus den drei Sprachgebieten. Jahrelang hat RADAR pausiert, jetzt kann man die neue Ausgabe wieder in die Hand nehmen. Es besteht Hoffnung, dass sie weiterlebt.Ukrainische Literatur ist auf Deutsch erschienen. Aber ist es wirklich viel?Einige Übersetzungen ukrainischer Literatur ins Deutsche sind als Bücher oder Anthologien erschienen. Neben den bereits bekannten Namen, wie Sofia Andruchowytsch mit ihrem dreibändigen Epos Amadoka und Oksana Sabuschko mit Die längste Buchtour, sind darunter auch Bücher weniger bekannter Autorinnen wie Olena Zachartschenkos Kämpferinnen, Hinter dem Rücken von Haska Shyyan, Tamara Dudas Donezk Girl oder Jewhenija Kuznetsowas Fragen sie Mija. Auch wichtige Sammelbände wie Alles ist teurer als ukrainisches Leben, herausgegeben von Aleksandra Konarzewska, Schamma Schahadat und Nina Weller, oder Die Zukunft, die wir uns wünschen vom PEN Ukraine sind erschienen. Besonders wichtig sind Übersetzungen klassischer Texte wie die Neuausgabe von Werken Taras Schewtschenkos oder Sofia Yablonskas Band Der Charme von Marokko.Andere, darunter auch Übersetzungen von Klassikern, sind geplant. Es war sehr erfreulich, die Neuerscheinungen am ukrainischen Stand in Frankfurt und Leipzig zu sehen. Die Präsenz ukrainischer Verlage und Schriftsteller auf diesen beiden Buchmessen ist jetzt keine Überraschung mehr. Hoffentlich wird sie zum Standard.Aber ist das Dutzend Namen und Titel, das es in die Regale der deutschen Buchhandlungen geschafft hat, nun viel oder wenig? Klar ist es viel im Vergleich zu, sagen wir, 1990, als es kaum Übersetzungen aus dem Ukrainischen gab. Aber es ist natürlich verschwindend wenig, wenn man die Zahlen mit den Neuerscheinungen aus anderen Sprachen vergleicht. Es gibt zwar inzwischen professionelle, wunderbare und sehr engagierte Übersetzer aus dem Ukrainischen ins Deutsche, es gibt Verlage, die interessiert wären, es gibt Bücher, die wichtig sind. Woran liegt es dann?Eine Geschichte der ukrainischen Literatur auf Deutsch gibt es nichtWenn man ein Buch aus dem Serbischen oder einer anderen Sprache im Balkanraum ins Deutsche übersetzen will und einen interessierten Verlag hat, kann man außer staatlichen serbischen Förderungen auch bei Traduki den Antrag stellen, einem Übersetzungsnetzwerk, das von mehreren europäischen Ländern und Institutionen finanziert wird. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Antrag genehmigt wird, ist relativ hoch. Für eine Übersetzung aus dem Ukrainischen gibt es ein vergleichbares Netzwerk nicht (immer noch nicht? wird es nie geben?). Eine Folge ist zum Beispiel, dass es noch immer keine Geschichte der ukrainischen Literatur auf Deutsch gibt.Nun könnte man fragen, ob es eine Geschichte der ukrainischen Literatur auf Deutsch braucht. Wird diese Literatur in Deutschland überhaupt unterrichtet? Da kommen wir zu einem weiteren Problem, das erst mal als solches erkannt werden muss. Es gibt zwar an vielen deutschen Universitäten die Möglichkeit, Slavistik zu studieren. Auch kann man zwischen west-, ost- und südslavischen Sprachen und Literaturen wählen. Aber während man sich innerhalb der Westslavistik zwischen der polnischen und tschechischen Sprache und Literatur entscheiden darf, gibt es die entsprechende Wahl in der Ostslavistik nicht. Man studiert Russistik und kann im besten Fall im Wahlbereich einige (falls angeboten) Kurse der ukrainischen und belarussischen (meistens auch als „ostslavische“ gemischt) Literatur oder Sprachen besuchen. In Leipzig ist das jetzt anders, im vergangenen Semester wurde ein separates Seminar für ukrainische Literatur angeboten. Vielleicht gab es ähnliche Versuche an den anderen Unis, aber grundlegend hat sich die Lage seit 2022 nicht geändert.Als Problem wird das nicht angesehen. Es führt aber dazu, dass Studierende nur punktuell unterrichtet werden und damit nur oberflächliche Kenntnisse aus vielen, aber keine spezialisierten auf einem konkreten Gebiet bekommen.Auch dass ukrainische Kinder aus geflüchteten Familien, die seit drei Jahren in deutschen Schulen lernen, kein Ukrainisch als zweite Fremdsprache belegen können, wird nicht als Problem angesehen. Stattdessen wird diesen Kindern Russisch als zweite Fremdsprache angeboten. Anders kann es wohl auch nicht sein, da man an den Universitäten kein Ukrainisch auf Lehramt studieren kann. Somit ist keine Verbesserung in Sicht. Die Unis klagen über zu wenige Studierende der Slavistik, die Schulen klagen über Lehrermangel. Es gibt zu wenige Übersetzer und Dolmetscher. Davon, wie sich die mangelhafte Expertise in ukrainischer Politik und Geschichte auf die Berichterstattung in den deutschen Medien auswirkt, will ich erst gar nicht anfangen. Es gibt mehrere Studien dazu, etwa Die Qualität der Medienberichterstattung über die Ukraine der Otto Brenner Stiftung.Das magische Denken, diese Verhandlungen brächten Frieden, macht mich neidischDas alles sind Punkte auf der To-do-Liste, die ich seit mehreren Jahren verfolge. Es gab eine Zeit lang leise Hoffnung, der Krieg könne die Notwendigkeit der Veränderungen zumindest sichtbar machen. Ob das tatsächlich so ist, bleibt die große Frage.Generell bleiben viele große Fragen offen. Vor allem jetzt, wo ich diesen Artikel schreibe und insgeheim zweifle, ob in wenigen Monaten das, was hier steht, überhaupt noch relevant sein wird angesichts der drohenden Zukunft und der zuletzt geäußerten „Friedenslösungen“ für die Ukraine. Das magische Denken, das jemanden glauben lässt, sie könnten tatsächlich zum Frieden führen, macht mich neidisch. Ich würde auch gerne lernen, so zu denken und mich über diese Zukunft zu freuen. Eine Zukunft, in der die Ukraine Tausende von Menschenleben verloren hat, riesige Flächen zerstört bekam und im Endeffekt genauso ungeschützt vor den nächsten Kriegsphasen sein wird wie davor. Soll der 24. Februar tatsächlich zu einem Datum werden, an dem man sich in einigen Jahren nur dunkel daran erinnern wird, dass die Ukraine mal unabhängig war und für ihre Freiheit kämpfte? Als Beweise dafür werden die schmal bestückten Regale mit den oben genannten Bücher stehen. Vielleicht kommen noch einige dazu.Natalka Sniadanko ist 1973 in Lwiw geboren, wo sie bis Februar 2022 mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern lebte und arbeitete. 2021 erschien ihr Roman Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Großvater wurde (Haymon) auf Deutsch



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Von Veritatis

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