„Rechtlich gesehen ist ein Verbrechen individuell. Aber emotional fühlt es sich an, als müsste ich mich für alles entschuldigen. Es hinterlässt ein tiefes Gefühl des Ekels“, sagt Fidaullah (26). Der Student lebt seit zwei Jahren in Berlin und möchte seinen vollen Namen für sich behalten.
Als Afghane empfinde er die Taten als doppelt schmerzhaft. Nach den Attentaten in Mannheim, Aschaffenburg und zuletzt München wird die afghanische Staatsangehörigkeit der Täter – gerade jetzt im Wahlkampf – stark hervorgehoben. Es soll wieder im großen Stil in das von den Taliban beherrschte Land abgeschoben werden.
Vor allem im Vorfeld der Wahlen sind die Debatten um ausreisepflichtige Straftäter entbrannt. So forderte CSU-Markus Söder unlängst einen „Afghanistan-Sonderplan“ und „jede Woche einen Flug“, der Ausreisepflichtige außer Landes bringe. Bundeskanzler Olaf Scholz hingegen gab grünes Licht für weitere Abschiebungen nach Afghanistan, ohne genaue Termine zu nennen.
Währenddessen trauert die afghanische Community in Deutschland um die Opfer, auch in Form eines offenen Briefes mit Hunderten von Unterschriften (Anm. d. Red.: Am Ende des Artikels im Wortlaut zu lesen. Er bezieht sich auf den tödlichen Angriff in Aschaffenburg am 22. Januar). In Kooperation mit der Informationsplattform Handbook Germany hat der Freitag mit jungen Afghan*innen in Deutschland über Reaktion, Umgang und persönliche Bedeutung der extremistisch motivierten Ereignisse gesprochen.
Angst und Trauer bei Afghaninnen und Afghanen
„Ich entschuldige mich bei der Mutter des Kindes“, weinte die zwölfjährige Fatima bei der Gedenkveranstaltung in Aschaffenburg auf der Bühne. Ihre spontane Rede, in der sie erzählte, dass sie Angst habe, dass nun die Menschen „böse“ auf sie sein könnten, weil auch sie Afghanin sei, ging im Netz viral. In späteren Medienberichten des Bayerischen Rundfunks erzählt sie, dass sie mit ihrer Familie erst vor drei Jahren nach Deutschland geflohen sei und dass sie in die fünfte Klasse einer bayerischen Mittelschule gehe. Seit der Tat hätten sie einige Mitschüler ignoriert oder „komisch“ mit ihr geredet. Auch wenn man sich fragen könnte: Warum sollte sich ein Kind wie Fatima für die Ermordung eines anderen Kindes entschuldigen, weil es wie der Täter aus Afghanistan kommt?
„Oft vermeide ich es, Nachrichten zu sehen“, sagt der Fotograf Imran Storay, der seit vier Jahren in Deutschland lebt. Die Bilder der Anschläge lösten „eine Traumareaktion“ in ihm aus. Neben der Fassungslosigkeit macht sich mitunter auch das Gefühl einer gewissen Verantwortung breit.
Der 31-jährige Qarib Rahman Shahab, Leiter einer Flüchtlingseinrichtung, zeigt sich bestürzt und wütend: „Ich frage mich, warum eine Person, die nach Deutschland kommt, um Schutz zu suchen, so etwas tun kann“. Gleichzeitig mache er sich Sorgen, dass Taten wie diese den Hass gegenüber Ausländern und Menschen mit Flucht- und Migrationsgeschichte, insbesondere Afghanen, weiter nähren und für politische Zwecke instrumentalisiert werden könnten.
Schutz und Sicherheit für alle
Denn der Rassismus hat für viele Afghan*innen in Deutschland zugenommen. Nasir Ahmad Andial (30, Verwaltungsmitarbeiter) fühlt sich „nicht wirklich willkommen in Deutschland“. Seit den Attentaten nehme er zunehmend „Angst und Ablehnung in den Augen der Menschen“ wahr. Sein Zweifel: „Werden wir je wirklich dazugehören?“.
Während die boomenden Themen Migration und innere Sicherheit mittlerweile von den meisten Parteien bedenkenlos in Zusammenhang gesetzt werden, teilt die afghanische Community in Deutschland den Wunsch nach Schutz. Vor dem Terror, aber auch vor Diskriminierung und Hass.
Der offene Brief der afghanischen Community
Beileidsbekundung der afghanischen Diaspora anlässlich des jüngsten tragischen Vorfalls im Bundesland Bayern, Deutschland
Wir, die Mitglieder der afghanischen Diaspora in Deutschland, verurteilen den jüngsten tragischen Vorfall in der Stadt Aschaffenburg auf das Schärfste, bei dem zwei Menschen, darunter ein Kind, ihr Leben verloren und weitere Menschen verletzt wurden. Mit tiefster Trauer und Bestürzung sprechen wir den Familien der Opfer unser aufrichtiges Beileid aus und wünschen den Verletzten eine schnelle und vollständige Genesung. Solche gewalttätigen Handlungen sind, unabhängig von Nationalität, Herkunft oder Glauben, unmenschlich und unverzeihlich. Wir betonen die Notwendigkeit, die Täter solcher Verbrechen nach den Gesetzen der Bundesrepublik Deutschland vor Gericht zu stellen.
Dieses tragische Ereignis hat tiefgreifende Auswirkungen auf die afghanische Gemeinschaft in Deutschland. Wir stehen dieser Tat hilflos und fassungslos gegenüber und möchten ausdrücklich darauf hinweisen, dass solche Ereignisse in keinerlei Verbindung zur kollektiven Identität afghanischer Flüchtlinge stehen. Die Mehrheit der afghanischen Migrant:innen in Deutschland versucht, sich an die Gesetze zu halten und unterstützt die Demokratie in Deutschland. Sie sind fleißige, gesetzestreue und ehrliche Menschen, die maßgeblich zur Schaffung und Stärkung der multikulturellen Gesellschaft in Deutschland beitragen.
Wir hoffen, dass die Bemühungen und Errungenschaften der afghanischen Migrantengemeinschaft in Deutschland nicht durch das kriminelle Verhalten eines Einzelnen oder einiger weniger Personen in den Hintergrund gedrängt werden. Wir, die afghanische Diaspora in Deutschland, schätzen die Rechtsstaatlichkeit des Gastlandes und sind dankbar für die humanitäre Unterstützung der deutschen Regierung, die in schwierigen Zeiten einen sicheren Zufluchtsort für Menschenrechtsaktivist:innen, Journalist:innen sowie andere gefährdete Personen geschaffen hat.
Wir möchten der deutschen Regierung, sozialen Organisationen sowie zivilgesellschaftlichen Institutionen unsere Unterstützung anbieten. Diese Zusammenarbeit könnte zum Ziel haben, Programme zur psychischen Gesundheit zu etablieren, soziale Integration zu fördern und andere Initiativen zu stärken. Auf diese Weise könnte die Lebensqualität von Geflüchteten verbessert und dazu beigetragen werden, solche tragischen Vorfälle in Zukunft zu verhindern. Abschließend stehen wir an der Seite der Familien der Opfer, der Regierung und der Gesellschaft in Deutschland.
Wir sind überzeugt, dass Einheit, Solidarität und gemeinsames Engagement der Schlüssel zum Schutz der Demokratie und einer möglichst sicheren und friedlichen Zukunft ist. In Solidarität mit den Opfern, Verletzten und ihren Angehörigen.
Die Mitglieder der afghanischen Diaspora in Deutschland
In Kooperation mit Handbook Germany. Die Informationsplattform für Geflüchtete und Zugewanderte bietet in neun verschiedenen Sprachen Informationen zum Ankommen in Deutschland an.