Stefanie Reinsperger als demagogische Fleischkönigin, Kathleen Morgeneyer als naive Märtyrerin. In Dušan David Pařízeks Inszenierung von Brechts „Heiliger Johanna der Schlachthöfe“ hat am Berliner Ensemble nur das Publikum etwas zu lachen


Mauler (Stefanie Reinsperger) lässt die missverstandene Philanthropin Johanna blass aussehen

Foto: Birgit Hupfeld


„Und jetzt siehst du’s ganz deutlich, ’s ist ein Schaukelbrett, dieses ganze System, ist eine Schaukel mit zwei Enden, die voneinander abhängen“, heißt es in Brechts Text. Unter der Regie von Dušan David Pařízek wird das Wiegen nicht explizit visualisiert. Man kann und sollte es sich aber bildlich vorstellen, denn es stützt das Verständnis für diese beißend aktuelle Inszenierung der Heiligen Johanna der Schlachthöfe: Wenn auf einer Wippe sehr viele Menschen unten sitzen und ein paar wenige oben, bleiben letztere oben.

Ein paar wenige von unten würden es nicht meistern, den steilen Weg nach oben zu erklimmen, sie würden abrutschen, sich dabei vielleicht sogar verletzen. Es braucht schon eine Menge Menschen – am besten alle – um das Gleichgewicht der Wippe ins Schwanken zu bringen. Es braucht sehr viel Kraft und, ja, letztlich auch Gewalt.

Das versteht Johanna Dark (Kathleen Morgeneyer), in ihrer Frommheit und Moral etwas zu gutgläubig, allerdings erst, als es zu spät ist. In ihrem religiösen Pazifismus verpasst sie es, rechtzeitig auf den Zug der Revolution aufzusteigen, und verliert ihre mühsam mobilisierte Gruppe von Pfadfindern („die schwarzen Strohhüte“ genannt) an das Charisma der Antiheldin Mauler (Stefanie Reinsperger).

Bitte ohne Finger-Verlust: Würste für die Arbeiter

Der Zug bremst, die Revolution bleibt aus, denn „Fleischkönigin“ Mauler weiß zu überzeugen. Im roten Abendkleid und mit viel Tüll strahlt sie im Geldregen, und lässt Johanna blass aussehen. Inmitten der Weltwirtschaftskrise 1930 erpresst Mauler die Arbeiter zum Bleiben, besser als jeder Marketing-Experte. Der glamouröse Auftritt übertüncht die Demagogie ihrer Worte. Johanna, die missverstandene Philanthropin, stirbt als bedeutungslose Märtyrerin. Sie hatte nicht bedacht, dass nicht jeder bereit ist, in den Hunger- oder Kältestreik zu ziehen, nicht jeder bereit ist, auf eine mögliche Errungenschaft zu warten, sondern lieber die bequemere Wahl trifft, sich mit gönnerhaften Kompromissen (Wasser, Brot, ein Dach über dem Kopf und eine laut Mauler überhaupt nicht anstrengende Arbeit in der Wurstfabrik, in der kaum einer seine Finger an die Maschine verliert) zufrieden zu geben. Johanna ist die Berufene, aber es gibt eben auch noch den Beruf, an den es sich klammern lässt.

Und es gibt Slogans, die so gut klingen, dass sie die meisten Armen davon überzeugen können, weiter zu prekärsten Konditionen Würste zu verarbeiten. Vor allem, wenn sie von den wenigen Reichen, fast wie im Musical, in einem leider sehr mitreißenden Singsang vorgetragen werden. Die Figuren agieren vor riesigen Bildschirmen, auf denen das Geschehen von Schlagzeilen begleitet wird. Der Untertitel der ChicagoTribune sticht ins Auge: „World’s Greatest Newspaper“, steht da. Überzeugend, so ähnlich hört man das zurzeit öfter.

Warmes Licht und mit viel Tüll: Mauler treibt Johanna in die Tiefe

Das Stück lebt überhaupt von liebevollen Details, die teilweise eine gewisse Offenheit für Interpretationen lassen, in jedem Fall aber unterhalten. So switcht die Fleischkönigin Mauler aus unerfindlichen Gründen manchmal plötzlich ins breiteste Wienerisch und erntet dafür Lacher – allerdings nur aus dem Publikum. Kurz vor Schluss rezitiert sie in einem imponierend langen Solo einen Text, der augenscheinlich nicht von Brecht stammt. Die Autorin der Zeilen ist Ayn Rand, die Vordenkerin des Neoliberalismus. Großartig sind neben Reinspergers Performance auch die Schattenspiele, die Johannas „Gang in die Tiefe“ durchweg begleiten. Allemal interessant: die Wahl von roten Farben und warmem Licht – sollen doch die Schlachthöfe eigentlich so viel Kälte ausstrahlen, Misere und Schnee.

Eines steht fest: Johanna Dark muss eine dieser „linksgrünen Spinner“ sein, vor denen wir dieser Tage wieder penetrant gewarnt werden. Damals wie heute hätte sie vielleicht mehr Erfolg, wenn sie die Finger von Gott ließe.

Die heilige Johanna der Schlachthöfe Regie: Dušan David Pařízek Berliner Ensemble



Source link

Von Veritatis

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert