Die neue Staffel von „Let’s dance“ hat angefangen. Zum Glück, denkt man da, wurde der eigene 6er-Grundschritt auf Partys nicht bewertet
Tanzschritte müssen geübt werden
Foto: Joerg Brueggemann/Ostkreuz
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wie Ausdruckstanz
Die Beine wurden nur spärlich bewegt, dafür schüttelte man die oberen Körperpartien umso heftiger. Tanzschritte gab es nicht. Dafür hätte sich die Musik mit ihren wechselnden Rhythmen auch nicht geeignet. Ausschlaggebend war das Gefühl, und das Gefühl hieß Freiheit. Langes ungebändigtes Haupthaar und lange komplizierte Stücke von „progressiven“ Bands wie Jethro Tull oder Caravan ergänzten einander. Die frühen 1970er Jahre in Westdeutschland waren eine schlechte Zeit für Friseure und Tanzschulen. Und vielleicht auch für die Annäherung der Geschlechter. Balladen, die Gelegenheit zum Klammerblues gegeben hätten, legten die meist männlichen DJs nur selten auf. Lieber verunsic
auf. Lieber verunsicherten sie ihr Publikum mit Songs, die wie Led Zeppelins Stairway to Heaven gemächlich begannen und temporeich endeten. Dann kamen Punk und Disko, und die progressive Rockmusik wurde zum Nischenprogramm. Aus dem ungebärdigen Ausdruckstanz wurde der choreographierte Free Style. Joachim FeldmannBwie BoogalooWas für eine unglaubliche Geschichte: Aus Düsseldorf wandert Kraftwerks „industrielle Volksmusik“ zu Beginn der 1980er über den großen Teich, wo in den Ghettos von New York daraus der Electro als Vorform des HipHop entsteht, während afroamerikanische Jugendliche in Los Angeles das Stilrepertoire des Breakdance ausbauen. Mit roboterhaften Bewegungen namens Breakin, Lockin oder Popping (→ Moonwalk) tanzen sie den Electric Boogaloo, wie eindrucksvoll zu sehen im Film Breakdance (1984). Michael Chambers a.k.a. Boogaloo Shrimp führt darin samt Besenstil in der Hand zu den pumpenden Beats von Kraftwerks Tour de France einen so eleganten wie abgehackten Robotertanz auf . Mensch-Maschinen-Tanzmusik. Transatlantische Hybridisierung. Ich saß damals als Jugendlicher in einem bayerischen Provinzkino und staunte und staunte. Uwe SchütteCwie CharlestonStraßenkämpfe, Inflation, taumelnde Demokratie – mittendrin der Charleston. Die wilden 20er waren ein Rausch, der nicht nur mit Champagner, sondern auch mit Tränengas endete. Während Kommunisten und Faschisten aufeinander losgingen, wirbelten Bubiköpfe über die Tanzflächen. Wer es sich leisten konnte, verdrängte die Krise mit Jazz und Cognac. Die Serie Babylon Berlin zeigt Glanz und Gewalt, Exzess und Abgrund. Im Moka Efti tanzt man sich in Trance (→ Hakken), während draußen die Republik zerbröckelt. Mittendrin Liv Lisa Fries als Charlotte Ritter, die das nächtelang durchhält. Josephine Baker machte den Charleston weltberühmt – einen Tanz, bei dem es darauf ankommt, den schnellen Rhythmus zu halten, mit 50 bis 75 Takten pro Minute. Schritt nach rechts, Kick, Schritt nach links und Kick. X- und O-Beine nicht vergessen! Wir erleben gerade wieder Krisenjahre, Weimarer Zeiten, wenn man so will, aber was man (bei Politikern) so an Tanzschritten sieht, erinnert eher an Tapsen. Jens SiebersDwie Dirty DancingIn der DDR löste der Film, der im Juni 1989 in die Kinos kam, über Monate eine Euphorie aus – selbst bei uns 12-Jährigen im Kinderferienlager. 4,5 Millionen Zuschauer sahen Dirty Dancing – im Verhältnis zur Bevölkerungszahl weit mehr als in der Bundesrepublik. Wollten wir nicht alle so Mambo tanzen können wie Johnny und Frances? Die wenigsten schafften es. „Nicht auf der 1 anfangen, Du musst auf der 2 anfangen!“ Wichtig: Fußarbeit, gerader Rücken, ausgerichteter Kopf, Spaghetti-Arme angespannt, Tanzbereiche abstecken. Aber, auch das erklärte Johnny sehr glaubwürdig: „Die Technik alleine macht’s nicht. Es ist ein Gefühl, es muss von Herzen kommen.“ Wer hatte schon Tanzlehrer wie Johnny? Baby hatte den Mambo dann drauf. Bei den Kandidat:innen von Let’s Dance war das in der Jubiläumsshow durchwachsen. Gogong. Tobias Prüwer Hwie HakkenHakken, niederländisch für Hacken, meint nicht die Ferse, sondern einen bestimmten Tanzstil. Zumindest in der Welt des Gabbers, einer Hardcore-Variante des Technos. Der Name kommt nicht von ungefähr. Wer Hakken beherrscht, tanzt auf dem Schuhabsatz seiner Nike Classics. Im Kern geht es um ein schnelles, rhythmisches Herumhampeln auf der Stelle, ein bisschen wie → Moonwalk auf Speed. Dazu werden die Arme wild umher geschleudert. Die dazugehörige Musik? Schnell, verzerrt und für den Durchschnittsmenschen einfach nur Lärm. Erträglicher wird das Ganze im Rausch, weshalb Partydrogen für viele Tänzer dazugehören. Eigentlich ist Hakken ein Relikt der 90er. Es wurde durch die niederländische Comedyserie New Kids und Künstler wie DJ Paul Elstak popularisiert. Aber in einer Welt, in der Techno im jugendlichen Mainstream angekommen ist, erlebt hakken ein Revival – als Tanz einer wieder wachsenden Subkultur. Und da ist klar: Sie sind cooler als TikTok-Raver. MathisSieblist Mwie MoonwalkMichael Jacksons Moonwalk: ikonischer Moment der Pop-Kultur. Dieser Look, die weißen Socken, der Glitzer-Sakko und der schwarze Hut, all das hat sich eingeschrieben in das kollektive Gedächtnis. Vor allen Dingen die Schritte. Der Tanz rekurriert im Namen auf einen bedeutsamen Moment der amerikanischen Geschichte, die Mondlandung, die auch Andy Warhol mit seinen Moonwalk-Drucken künstlerisch bearbeitet hat. Jackson bezog sich dabei nicht nur auf die jungen Breakdancer (→ Boogaloo) jener Jahre, die den Moonwalk natürlich auch drauf hatten, sondern auf jene, die ihn erfunden hatten. Die schwarzen Sänger und Jazzmusiker Cab Calloway und Fats Waller, die bereits in den 1940ern diesen Tanzschritt beherrschten, da hieß er noch Backslide. Jackson zeigte ihn erstmals 1983 zu Billie Jean, klar, auf → Zehenspitzen. Marc PeschkePwie PogoDer Pogo ist die Antithese zum Gesellschaftstanz. Eine bewusste Verweigerung von Harmonie zugunsten lustvoller Energieabfuhr innerhalb einer gleichgesinnten Horde (→ Ausdruckstanz). Auf und ab, auf und ab, immer wieder – wie Kinder auf dem namensgebenden Springstock, dem Pogo-Stick. Nur aggressiver und schweißtreibender. Als Erfinder gilt Sid Vicious, Bassist der Sex Pistols, der in den überfüllten Punk-Kellern der Siebziger oft berauscht auf der Stelle hüpfte und Umstehende dabei regelmäßig anrempelte. Das passt perfekt zur neoprimitiven Musik, urteilte die britische Musikpresse und taufte den Hüpftanz auf den Namen Pogo. Im Lauf der Jahrzehnte diversifizierte sich der Stil in noch rüpelhaftere Varianten wie Slamdance, Moshing oder Violent Dancing, die sich oft vor Konzertbühnen abspielen – im sogenannten Moshpit. Die Anarchistische Pogo-Partei Deutschlands geht seit 1981 als „Partei des Pöbels und der Sozialschmarotzer“ auf Stimmenfang und erreichte 2023 bei der Landtagswahl in Hessen immerhin 0,1 Prozent der Zweitstimmen. Jürgen Ziemer Rwie Rock‘n‘ RollWie Akrobatik kann das sein. Uns reichte der 6er Grundschritt mit Hüpfen und Drehungen. Oder war es eher Boogie-Woogie, was wir begeistert tanzten? Eigentlich schon völlig aus der Mode damals, aber in den Thüringer Bergen hatte sich der scharfe Rhythmus gehalten. Die Schulglocke rief zum Aufstehen, zum Unterricht, zu den Mahlzeiten und am Wochenende zum „Ringelpietz“ im Club. Im Sommer unter freiem Himmel tanzte ich barfuß in weißen Schlaghosen. Rock around the Clock, Blue Suede Shoes – der Bandleader imitierte Bill Haley und Elvis Presley und spielte sich die Finger blutig auf seiner Gitarre. Das bewunderte ich und ging mit ihm im Mondschein spazieren. Ich war an der Internatsoberschule bis zum Abitur mit 13 Stunden Russisch pro Woche, Englisch kam hinzu. 1991 wurde die Schule geschlossen. Ausgetanzt. Irmtraud GutschkeSwie SalsaIn Calí, der selbsternannten Welthauptstadt des Salsa, sprießen sie überall aus dem Boden: kleine Tanzclubs und große Tanzschulen. Vor dieser Reise gehörte der lateinamerikanische Tanz (→ Dirty Dancing) nicht zu meinen Spezialitäten – doch weil wir schon mal dort waren, steuerten meine Reisebegleiterin und ich direkt auf eine dieser kolumbianischen escuelas zu. Der Anfängerkurs sollte eine halbe Stunde später starten: Ein großer Raum voller Menschen – und jede Menge Lärm. Ich konnte die Lehrerinnen kaum verstehen: vor, zurück, schneller, immer schneller (→ Charleston). „Es muy fácil!“ Es ist so einfach! Ich jedoch hinkte ständig hinterher. Keinesfalls wollte ich ein ungelenker Gringo sein – das verstärkte dummerweise meine Anspannung. Nach einer gefühlten Ewigkeit gab ich frustriert auf, mein Kopf schwirrte, die Beine waren schwer. Zum Glück lasse ich mich nicht so schnell unterkriegen. Abends wagten meine Begleiterin und ich uns in einen dieser Kellerclubs – und siehe da, mit viel Rum und wenig Druck tanzte auch ich zum Rhythmus. Ob es wohl Salsa war? Timo ReuterZwie ZehenspitzenDie wohl ikonischste Tanzszene der Filmhistorie ist der Twist von Uma Thurman und John Travolta in Pulp Fiction. Ziemlich breit gebügelt nehmen Vincent Vega und Mia Wallace bei „Jack Rabbit Slim’s Twist Contest“ teil. Sie ziehen cool ihre Schuhe aus, Chucky Berrys You Never Can Tell setzt ein, und das Paar dreht seine Zehenspitzen und Ballen in den Boden, als wollten sie eine Schachtel umliegender, qualmender Zigaretten mit geschmeidiger Hüfte austreten – die Show kann beginnen. Vorbilder und Referenzen für den Film gibt es einige. Tarantino wurde zum einen von Godards Außenseiterbande inspiriert, aber auch vom Disney-Film Aristocats. John Travolta erzählte, dass der Großteil improvisiert war. Er brachte neben dem Twist Tanzschritte wie Swim, Anhalter und Batman in die Choreografie. Der Rest ist bekanntlich Geschichte. Ji-Hun Kim