Plötzlich 4.300 Stimmen mehr, aber 9.500 fehlen: Was das Bündnis Sahra Wagenknecht nach Feststellung des amtlichen Endergebnisses der Bundestagswahl plant und wie Thüringen und Brandenburg sich zur Aufrüstung im Bundesrat verhalten wollen
„Das BSW ist mein Herzensprojekt und deswegen werde ich hier auch nicht einfach so verschwinden“, sagt Sahra Wagenknecht
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Ein Raunen ging durch das Plenum, und nicht nur in der SPD-Bundestagsfraktion blickten sie ungläubig drein. „Es geht hier nicht um Kleinkram“, rief vorn am Rednerinnen-Pult die BSW-Politikerin Jessica Tatti. „Es geht um Kriegskredite. Und die SPD macht wieder mit. Wie 1914.“
Beim Bündnis Sahra Wagenknecht wissen sie, dass dieser Donnerstag ihren mutmaßlich vorletzten Auftritt im Deutschen Bundestag markiert. Oder gar den letzten – wenn das Bundesverfassungsgericht wider Erwarten die dritte Lesung und die Abstimmung über die von Union und SPD eingebrachte Grundgesetzänderung am kommenden Dienstag noch unterbinden sollte.
Gegen die Einberufung des 20. Bundestages und das Durchpeitschen von Schuldenbremsen-Reform und Sondervermög
bstimmung über die von Union und SPD eingebrachte Grundgesetzänderung am kommenden Dienstag noch unterbinden sollte.Gegen die Einberufung des 20. Bundestages und das Durchpeitschen von Schuldenbremsen-Reform und Sondervermögen mit den alten Mehrheiten haben nicht nur Linkspartei und AfD in Karlsruhe geklagt, sondern auch die BSW-Noch-Bundestagsabgeordnete Sevim Dağdelen. „In der Kürze der Zeit lässt sich eine ordentliche Gesetzesberatung mit seriöser Folgenabschätzung nicht vornehmen“, begründete Dağdelen das gegenüber dem Freitag. „Dabei geht es faktisch um ein Schuldenpaket in Höhe von mindestens 1,3 Billionen Euro über zehn Jahre.“ Bundesverfassungsgericht lehnt Antrag auf Neuauszählung der Bundestagswahl abIn anderer Angelegenheit ist das BSW in Karlsruhe am Donnerstagabend vorerst gescheitert: „Mit Beschlüssen vom heutigen Tag hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts mehrere Anträge abgelehnt, die letztlich darauf zielen, eine Neuauszählung der abgegebenen Stimmen zum 21. Deutschen Bundestag wegen vermeintlicher Auszählungsfehler noch vor der Feststellung des endgültigen Wahlergebnisses zu erreichen“, so die Entscheidung gegen den Erlass einer einstweiligen Anordnung. Folglich konnte der Bundeswahlausschuss an diesem Freitag das amtliche Endergebnis der Bundestagswahl feststellen.Demnach kommt das BSW auf knapp 2,5 Millionen Zweitstimmen, genau 2.472.947. Das sind 4.277 Stimmen mehr als noch im vorläufigen Ergebnis. „Die bisherigen Überprüfungen waren extrem unvollständig, Neuauszählungen gab es nur in wenigen Wahllokalen“, kritisierte die BSW-Bundesvorsitzende Sahra Wagenknecht. „Dass selbst diese relativ wenigen Überprüfungen dazu geführt haben, dass über 4.000 Stimmen zusätzlich für das BSW gefunden wurden, ist ein Indikator dafür, dass das BSW die Fünf-Prozent-Hürde tatsächlich überschritten haben könnte.“Beschwerde beim Wahlprüfungsausschuss des BundestagsAuf alle Parteien bezogen erhöhte sich die Zahl der gültigen Zweitstimmen gegenüber dem vorläufigen Ergebnis um 7.425. Von diesen entfallen also rund 58 Prozent auf das BSW. Es landet am Ende bei 4,981 Prozent und verpasst die Fünf-Prozent-Hürde damit um 0,019 Prozent. Das entspricht 9.433 gültigen Zweitstimmen, die der Partei für den Einzug in den Bundestag fehlen. „Würde eine einzige BSW-Stimme in etwas mehr als jedem zehnten der insgesamt rund 90.000 Wahlbezirke gefunden werden, wäre das BSW im Bundestag“, so Wagenknecht. „Dienst nach Vorschrift reicht bei der Überprüfung dieses Wahlergebnisses nicht, Gewissheit kann es nur durch eine bundesweite Neuauszählung aller Stimmen geben.“Dafür kann das BSW nun bis zwei Monate nach der Wahl beim Wahlprüfungsausschuss des Bundestages Beschwerde einreichen – und wird das tun. Mit deren Bearbeitung können sich die dort vertretenen Fraktionen aber Zeit lassen. „Es gibt noch nicht einmal Fristen, wann diese Beschwerde vom Bundestag behandelt wird“, sagt Wagenknecht. Erst, wenn die Beschwerde zurückgewiesen würde, kann sich das BSW dagegen wiederum vor dem Bundesverfassungsgericht wehren. Das ganze Prozedere kann sich über Monate oder gar Jahre hinziehen.„Ich werde nicht einfach so verschwinden“, sagt Sahra WagenknechtOb Wagenknecht selbst dann noch Parteivorsitzende ist? „Das BSW ist mein Herzensprojekt und deswegen werde ich hier auch nicht einfach so verschwinden“, sagte sie am Donnerstag. Dass sich die Partei in den nächsten Jahren breiter aufstellen wird, gelte aber auch für den Fall, dass sie noch in den Bundestag einziehen sollte.Dort brachten die BSW-Abgeordneten am Donnerstag ihren wohl vorerst letzten Antrag ein. Unter der Überschrift „Nein zur Kriegstüchtigkeit – Ja zur Diplomatie und Abrüstung“ forderten sie die Bundesregierung auf, „durch Schließung der Fähigkeitslücken im Auswärtigen Amt Diplomatie wieder ins Zentrum der deutschen Außenpolitik zu rücken statt Hunderte Milliarden Euro für die Aufrüstung zu verpulvern“, Waffenlieferungen an die Ukraine einzustellen, Russland ein Gesprächsangebot über gemeinsame Abrüstungsanstrengungen zu unterbreiten, die EU-Aufrüstungspläne Ursula von der Leyens zurückzuweisen, und „in der Tradition des Friedensnobelpreisträgers Carl von Ossietzky, der sich in der Weimarer Republik gegen eine Politik der Hochrüstung wandte im Bewusstsein, dass am Ende der neuen Aufrüstung ein deutscher Krieg im Osten drohen würde, in der EU auf eine Friedensinitiative zur Beendigung des Stellvertreterkrieges in der Ukraine zu orientieren“.Was Katja Wolf und Robert Crumbach für den Bundesrat ankündigenNun werden voraussichtlich die BSW-Mitglieder im Bundesrat im Fokus stehen. Nachdem sich Bündnis 90/Die Grünen am Freitag mit Union und SPD auf die Grundgesetzänderung zum Aussetzen der Schuldenbremse für Militärausgaben, deren Reform zugunsten der Bundesländer und ein Infrastruktur-Sondervermögen geeinigt haben, braucht dieses Vorhaben auch in der Länderkammer eine Zwei-Drittel-Mehrheit.In Thüringen hat BSW-Landesparteichefin Katja Wolf zur Ankündigung Wagenknechts, das BSW werde dort eine Zustimmung zu Gesetzentwürfen zur Aufrüstung verhindern, gesagt: „Das ist tatsächlich eine Grundsatzfrage“, so die stellvertretende Ministerpräsidentin in der MDR-Sendung Fakt ist!. „Es ist glasklar, wie die Partei sich positioniert: Wir sind die Friedenspartei und das bleiben wird.“ In Erfurt regiert das BSW mit CDU und SPD.Aus Potsdam sind ähnliche Töne zu vernehmen. „Deutschland will bei einem neuen Wettrüsten den Klassenstreber spielen und mit Kriegskrediten hunderte Milliarden für Aufrüstung verpulvern. Das BSW macht bei diesem Irrsinn nicht mit“, sagte Robert Crumbach, Landesvorsitzender des BSW in Brandenburg und stellvertretender Ministerpräsident in einer Koalition mit der SPD, dem Freitag: „Sollten die Aufrüstungspläne von CDU und SPD im Bundesrat zur Abstimmung gestellt werden, werden wir ganz sicher nicht zustimmen. Sinnvolle zusätzliche Investitionen in Infrastruktur oder für unsere Krankenhäuser würden wir begrüßen.“