Wahlkarten sind neutrale Darstellungen? Mitnichten, wie das Beispiel der AfD zeigt


So könnte die Wahlkarte auch aussehen

Illustration: der Freitag


Wer sich in den Tagen nach der Bundestagswahl ein Bild von den Wahlergebnissen machen wollte, fand in den zahlreich produzierten Wahlkarten eine klare Sichtung: ein tiefschwarzer Westen und ein blauer Osten. Der erwartbare Farbanstrich der ostdeutschen Bundesländer wurde ein zentrales Motiv der Berichterstattung.

So erkannte etwa die New York Times in der Karte eine Wiederkehr des Eisernen Vorhangs. Berlin, bevölkert nicht von Zaubertrank-Galliern, sondern von links wählenden Bürger:innen, umgeben vom „blauen Widersacher“, wurde vom Berliner Tagesspiegel auf der Titelseite inszeniert. Auch die Zweitverwertung dieser Karten auf den üblichen Social-Media-Plattformen wurde in ähnlicher Weise polemisch aufgegriffen. So boten die Wahlkarten für manc

n Widersacher“, wurde vom Berliner Tagesspiegel auf der Titelseite inszeniert. Auch die Zweitverwertung dieser Karten auf den üblichen Social-Media-Plattformen wurde in ähnlicher Weise polemisch aufgegriffen. So boten die Wahlkarten für manche User:innen Anlass, das Ende des Solidaritätszuschlags oder den Wiederaufbau des antifaschistischen Schutzwalls – diesmal mit umgekehrtem Vorzeichen – zu proklamieren.Sichtbar wird, dass Wahlkarten eine besondere Funktion in der politischen Kommunikation einnehmen. Sie stellen keineswegs neutrale Darstellungen von Wahlergebnissen dar, sondern dienen als Projektionsflächen für die entstehenden Hoffnungen, Ängste und Aggressionen. Durch sie gibt es scheinbare Antworten auf die vielen Unklarheiten und Verwirrungen einer Wahl: Wer hat wo und was gewählt? Prägnanter: Wer ist schuld am Wahlergebnis?Durch die Färbungslogik der Karten wird die Verantwortlichkeit auf einen Blick entblößt. Auf einmal stehen Wahlkreise stellvertretend für eine Parteizugehörigkeit und werden damit für gesellschaftspolitische Vorwürfe adressierbar. Der blaue Osten vertritt dann scheinbar geschlossen die rechte bis rechtsextreme Weltanschauung der AfD. So festigen Wahlkarten Gegensätze und fördern Stigmatisierung – links gegen rechts, West gegen Ost, wir gegen die.AfD-Unterstützung aus dem WestenDoch wer sich nicht nur für relative Wahlkreisgewinne interessiert, sondern dafür, wer die AfD tatsächlich gewählt hat, muss in beide Richtungen schauen. Die absoluten Zahlen verraten, dass von den rund zehn Millionen Stimmen für die AfD etwa sieben Millionen aus Westdeutschland kommen. Sicherlich haben die Gewinne der ostdeutschen Wahlkreise eine besondere Gewichtung für die künftige Oppositionspolitik und weiteren Erfolg der AfD. Doch auch in westdeutschen Wahlkreisen sind klare Tendenzen erkennbar.In den südwestdeutschen Ländern Bayern und Baden-Württemberg ist die AfD mit Abstand die zweitstärkste Partei und in den nordwestdeutschen Ländern Niedersachsen und Schleswig-Holstein verzeichnete die AfD mit mehr als verdoppelten Stimmenanteilen ihre größten Gewinne. Wer sich also auf wahlpolitische Szenarien im Jahr 2029 vorbereitet, sollte auch auf die überwiegende AfD-Unterstützung aus dem Westen und auf die Mehrheit der Ostdeutschen schauen, die nicht die AfD gewählt haben.Wie wir auf die Bundestagswahl blicken, prägt entscheidend unser Verständnis der Gesellschaft. Wahlkarten als thematische Karten haben das konzeptionelle Problem der Verschränkung räumlicher und inhaltlicher Aspekte: Es wird so getan, als ob eine Region stellvertretend für die Bürger:innen wählen könnte.Dieser zugunsten der Sichtbarkeit eingegangene Kompromiss hat Konsequenzen. Die Komplexität des realen Wahlprozesses wird enorm vereinfacht und verzerrt. Wahlen sind demokratische Aushandlungsprozesse, aber bei Wahlkarten geht es einzig um Gewinne. Analog zum Brettspiel „Risiko“ werden hier in einer Art Feldzug Gebiete erobert und je nach dominierender Spielpartei eingefärbt.Zur Wahrheit dieser „The winner takes it all“-Logik gehört, dass die Mehrheit der Wähler:innen, die nicht für die stärkste Partei gestimmt haben, in diesen Bildern verloren gehen. Letztlich sind Wahlkarten Bilder, in denen die Mehrheit der Bevölkerung nicht abgebildet wird. Angesichts eines sich etablierenden Rechtspopulismus bleibt die Frage, ob wir uns solche Bilder des Ausschlusses noch leisten können – oder ob wir nicht vielmehr neue Bilder der Solidarität gestalten sollten.



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Von Veritatis

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