Reinhard Stähling war Leiter einer inklusiven und reformpädagogischen Schule in Münster. Im Interview blickt er zurück auf zähe politische Kämpfe und erzählt, weshalb die Trennung nach der vierten Klasse unsinnig ist
Verständnis und Menschlichkeit: Szene aus dem Dokumentarfilm „Berg Fidel – Eine Schule für alle“ (2012)
Foto: W-Film/dpa
Reinhard Stähling leitete 20 Jahre lang die heutige Primus-Schule Berg Fidel/Geist in Münster. Sie liegt in einem von Hochhäusern geprägten Ortsteil im Süden der ansonsten sehr bürgerlich geprägten westfälischen Großstadt. Ein in den Kinos erfolgreicher Dokumentarfilm stellte vor gut zehn Jahren das wegweisende inklusive Schulkonzept vor. Den Begriff „Inklusion“ interpretiert das reformpädagogisch orientierte Team sehr weitreichend: Neben Kindern mit körperlichen oder geistigen Einschränkungen schließt es durch Krieg, Flucht und Armut Traumatisierte explizit mit ein. Zudem stammen viele Schüler:innen aus Roma-Familien und leben in den Unterkünften in der Nachbarschaft.
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der Freitag: Herr Stähling, im Untertitel Ihres frisch erschienenen Buches „Entwicklungsschritte einer Schule im Brennpunkt. Der praktische Weg zu Solidarität und Inklusion“ benutzen Sie offensiv den Begriff „Brennpunkt“. Ist der in Fachkreisen umstrittene Begriff nicht stigmatisierend?Reinhard Stähling: Stigmatisierung findet nur statt, wenn wir nicht alle im Stadtteil gleich behandeln. Wenn etliche Kinder wie noch in den 1990er Jahren aus dem Quartier zu Sonderschulen gefahren und deshalb nicht mit ihren Nachbarn, Freunden und Geschwistern gemeinsam beschult werden, dann kommt es zu Stigmatisierung und schließlich auch zu Mobbing und Gewalt. Seitdem wir eigenmächtig die von Behörden empfohlene Aussonderung nicht mehr mitgemacht haben, ist der ganze Stadtteil friedlicher geworden. Unsere Schule nimmt alle Kinder auf, ohne Ausnahme.Beschreiben Sie bitte etwas genauer das Umfeld, in dem Sie 30 Jahre lang tätig waren.Viele Hochhäuser, 5.500 Einwohner. Unsere Schule besuchen Familien aus etwa 40 verschiedenen Nationen, viele Eltern von ihnen sind arbeitslos, alleinerziehend und auf staatliche Unterstützung angewiesen. Irgendwann habe ich mit Erschrecken festgestellt, dass nicht wenige unserer Kinder in der Nazi-Zeit ermordet worden wären. Sinti und Roma wären als „kriminelle Rasse“, Behinderte als „Ballastexistenzen“, Ausländer als von Natur aus „minderwertige“ Menschen, Empfänger staatlicher Hilfen als „Sozialschmarotzer“ und „überflüssige Esser“ vernichtet worden. Solchen Denkweisen müssen wir entgegentreten. Wir haben als Schule die Aufgabe, jedem einzelnen Kind Halt und einen geschützten Raum zu geben.Ihr pädagogischer Ansatz beruht wesentlich darauf, dass Sie den Begriff „Inklusion“ nicht auf körperliche oder geistige Handicaps beschränken, sondern viel weiter fassen, den Blick auch auf von Armut, Flucht oder Kriegstraumata betroffene Kinder richten.In Armutsverhältnissen findet man mehr Menschen mit geistigen Behinderungen und psychischen Störungen als in einem typischen Mittelschichtviertel. Die Behindertenfrage ist eine Klassenfrage. In Deutschland ist institutioneller Rassismus in Hunderten von Fällen nachweisbar. Die vom Bundesinnenministerium eingerichtete „Unabhängige Kommission Antiziganismus“ nennt das 2021 in ihrem Bericht „organisierte und systematische Unterminierung rechtsstaatlich verfasster Strukturen und freiheitlich-demokratischer Normen“. Infektionskrankheiten, Mangelernährung, Gewalterfahrungen, jahrelange Drohung mit Abschiebung: Das behindert. Ein Kind, das hier aufwächst und dessen Familie seit zwei Jahrzehnten offiziell nur „geduldet“ ist, braucht Anerkennung und Problemlösungen.Kinder aus Roma-Familien sind Ihnen ein besonderes Anliegen, warum?Als wir vor vielen Jahren bei einer unserer Schülerinnen in einer Roma-Familie einen Besuch machten, fanden wir dort ihren mehrfach behinderten jugendlichen Bruder vor, der von den Angehörigen selbst gepflegt wurde. Berge schmutziger Wäsche stapelten sich, alle Beteiligten waren in den beengten Wohnverhältnissen überfordert. Wir meldeten uns beim Amt, beim nächsten Besuch hatte die Familie immerhin eine Waschmaschine. Also ein am Ende ermutigendes Ergebnis – die Kommission Antiziganismus berichtet aber auch darüber, wie Roma-Familien systematisch einer „Unbequemlichkeitskultur“ ausgeliefert werden. Dieses Unwort kursiert in den zuständigen Verwaltungen, das Ziel ist, den sogenannten „Zustrom von Armutsmigranten“ aus Südosteuropa zu begrenzen. Wir als Lehrer sind auf das Grundgesetz vereidigt worden, die Würde aller Menschen nicht anzutasten. Das ist meine Maxime, wir haben zu helfen. Wenn ein Kind unangekündigt aus dem laufenden Unterricht herausgeholt wird, weil es mit seiner Familie abgeschoben werden soll, sind wir als Pädagogen zum Ungehorsam verpflichtet, weil ein solches Vorgehen gegen die Kinderrechte verstößt.Warum hat sich Ihr Ansatz bisher nicht flächendeckend durchgesetzt?Kernpunkte unseres Konzepts sind Menschlichkeit, Achtung, Verständnis und Dazugehörigkeit: Dass Kinder diese Werte von Beginn an lernen sollten, dem dürften die meisten Eltern und Lehrkräfte zustimmen. Aber es gehört eben viel Mut dazu, sich unsinnigen Vorschriften in den Weg zu stellen und es anders zu machen – gerade wenn man im Beamtenverhältnis tätig ist.Zu Beginn leiteten Sie eine Grundschule. Warum war es wichtig, diese bis zur zehnten Klasse zu erweitern?Es ist völlig ineffizient, die Kinder schon nach der vierten Klasse voneinander zu trennen. Nehmen wir einen Fall, der in Deutschland tausendfach passiert: Ein geflüchtetes Kind ohne Sprachkenntnisse kommt nach langer Flucht in ein drittes Schuljahr. Schon ein Jahr später wird entschieden, in welche weiterführende Schule das Kind gehen soll. Besonders behinderte Kinder trifft eine solche Trennung stark. Wir sind eines der wenigen Länder, die so etwas Unpädagogisches vorschreiben. Die wissenschaftliche Forschung bestätigt unsere Erfahrung, dass die Schule aus einem Guss allen am besten gerecht wird. Dafür haben wir jahrelang gekämpft, bis wir die Genehmigung der Stadt und des zuständigen Landesministeriums bekamen. Inzwischen verweist man stolz auf unser Leuchtturmprojekt, nicht nur in Münster.Welche Erfahrungen haben Sie mit jenen Kindern gemacht, die nach der zehnten Klasse auf ein klassisches Gymnasium wechselten?Viele von ihnen haben das Abitur erfolgreich bestanden. Wären sie im gegliederten Schulsystem geblieben, hätten etliche dies nicht geschafft, sie wären vorzeitig abgeschult worden.Sie betonen vor allem die intrinsischen Potenziale der benachteiligten Kinder an Ihrer Schule, die in einem traditionellen Umfeld nicht abgerufen würden. Solidarität müsse man den Kindern nicht erst beibringen, infolge einschneidender oder gar traumatischer Erlebnisse wie der Flucht aus Krisenregionen „halten sie in der Regel zusammen“, so Ihre These.Das herkömmliche Schulystem reißt die Klassen früh auseinander, die Kinder müssen ihre Freunde verlassen. Ihre solidarische Ader, die sie aus ihren Familien mitbekommen haben, weil sie immer teilen mussten, das ist unser Potenzial. Wir dürfen diese positive Entwicklung nicht durch Sitzenbleiben oder Schulwechsel unterbrechen.Sie versuchen, persönliche Erfahrungen und kulturelle Hintergründe als Ressource zu nutzen. Wie zeigt sich das im Unterricht?Die Kinder und Jugendlichen in unsrer Schule helfen sich ständig gegenseitig. Sie sorgen füreinander und unterstützen sich auch bei den schulischen Aufgaben. Um das zu erleichtern, haben wir die Jahrgangsstufen zusammengelegt. So helfen die älteren Schülerinnen und Schüler den jüngeren und entlasten so auch die Lehrerinnen und Lehrer.Ihre Arbeit ist, vor allem durch einen Dokumentarfilm, mittlerweile bundesweit bekannt geworden. Werden Ihre Ideen aufgegriffen?Wir können den vielen Hospitationsanfragen aus anderen Schulen kaum gerecht werden. Viele Kolleg:innen sind begeistert und machen sich ebenfalls auf den Weg. Aber es ist eben ein zäher Prozess, viel Widerstand ist zu überwinden.Wenn Sie die Utopie eines künftigen Bildungssystems entwerfen müssten, das benachteiligte Kinder und Jugendliche nicht mehr ausgrenzt: Welche Forderungen würden Sie an die Politik richten?Schule vom Kindergarten bis zum Abschluss ohne Brüche unter einer Leitung. Mit ins Boot gehören der Gesundheitsdienst, die Jugendhilfe, die Familienberatung und kulturelle Träger. Das ist keine Utopie, es wäre leicht zu machen. Entscheidend finde ich, dass mehr Modellschulen gegründet werden, die es probieren und zeigen.Placeholder image-1Reinhard Stähling (geboren 1956) studierte Lehramt und Theaterpädagogik und ist seit 1982 Lehrer. Von 1992 bis zu seiner Pensionierung 2022 arbeitete er in der inklusiven Schule in Berg Fidel, die unter seiner Leitung als Schulversuch bis zur zehnten Klasse erweitert wurde