Weiß, Hausfrau, Mutter, Opfer: Die Geschichte von Viola Liuzzo aus den 1960er-Jahren wird häufig auf diese Worte reduziert. Die 39-Jährige passte nicht so recht ins damals gängige Profil von Aktivisten gegen Rassismus. Liuzzo wurde am 25. März 1965 in Alabama von einem Mann der Terrororganisation Ku-Klux-Klan erschossen. Mit im Fahrzeug des Klans saß ein Informant der Ermittlungsbehörde FBI. Liuzzo hatte an einem Marsch von Selma, einer Stadt in Dallas County, in das 85 Kilometer entfernte Montgomery teilgenommen. Es ging um das Wahlrecht für Farbige, und Liuzzo war als Helferin eingeteilt, die Aktivisten nach der Demonstration in ihrem Oldsmobile transportieren sollte.

Es war gegen 20 Uhr und dunkel. Liuzzo fuhr den 19-jährigen Afroamerikaner Leroy Moton nach Montgomery. Im Buch The Informant von Gary May über den Mord, den Klan und das FBI wird erzählt, es sei um diese Zeit wenig Verkehr gewesen. Liuzzo saß am Steuer. Moton war besorgt, als ein Wagen hinter ihnen auftauchte und sie verfolgte. Es war der Ku-Klux-Klan, stellte sich heraus.

Die vier mit Revolvern bewaffneten Insassen hatten es auf Schwarze abgesehen und auf von den Kapuzenmännern verachtete weiße Unterstützer. Der Chevy Impala des Klans holte auf und fuhr schließlich neben dem Oldsmobile. Die KKK-Männer hatten die Seitenfenster heruntergelassen. „All right, Männer“, rief der Fahrer, „schießt sie zur Hölle!“ Eine Kugel traf Viola Liuzzo in den Kopf. Ihr Fahrzeug rollte in ein Feld und blieb an einem Zaun stehen. Moton wurde nicht getroffen, er rannte weg, konnte einen Wagen mit Bürgerrechtlern stoppen und schrie. „Alle in Deckung! Wir müssen weg! Eine Frau ist tot!“

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Viola Liuzzo war nur für gut eine Woche nach Alabama gekommen. Mehrere ihrer Kommilitonen – die „Hausfrau“ ging aufs College, um Soziologie und Politikwissenschaft zu studieren – hatten abgesagt. Zu Hause in Detroit blieben fünf Kinder und Ehemann Anthony Liuzzo, ein Mitarbeiter der Teamsters-Gewerkschaft. Knapp zwei Jahre waren nach der „I have a dream“-Ansprache von Bürgerrechtsführer Martin Luther King vergangen, als viele Weiße im Fernsehen verfolgt hatten, wie sich eine mehr als 200.000 Menschen zusammenführende, friedliche Kundgebung durch Washington bewegte.

Der demokratische Präsident Lyndon B. Johnson war wie sein 1963 ermordeter Vorgänger John F. Kennedy wohl zu dem Schluss gekommen, dass unter dem Druck der Bürgerrechtsbewegung und wegen des internationalen Imageschadens eine Apartheid amerikanischen Stils keinen Bestand haben sollte. Es könne nicht sein, dass jemand in Südvietnam für die Vereinigten Staaten kämpfe, aber nicht wählen dürfe, so Johnson.

Viola Liuzzos Haltung war keineswegs die einer Mehrheit im weißen Amerika. Eine Umfrage nach dem Mord im Ladies’ Home Journal, einem Ratgebermagazin der amerikanischen Frau, ließ erkennen: Die Mehrheit der Leserinnen meinte, Liuzzo hätte besser zu Hause bleiben sollen. Betty Friedans The Feminine Mystique war knapp zwei Jahre zuvor mit seiner Bestandsaufnahme des dominierenden Weiblichkeitswahns in den Vereinigten Staaten erschienen, wonach es der einzige Traum einer Frau sei, „eine vollkommene Ehefrau und Mutter zu werden“.

„Selma nach Montgomery“ nannte sich eine riesige Kampagne der Bürgerrechtsorganisation Southern Christian Leadership Conference, die vom 21. bis 25. März 1965 dauerte. In Alabamas Hauptstadt Montgomery waltete Gouverneur George Wallace, in dessen Welt es undenkbar war, dass Weiße einmal nicht herrschen würden. Wallace tat so, als meine er es gut mit den Schwarzen. In einem Interview erklärte er, ein Rassist sei jemand, der jemanden auf Grund seiner Hautfarbe verachte.

Ein Befürworter der Rassentrennung in Alabama hingegen sei überzeugt, dass eine „separate soziale Ordnung im Interesse der Schwarzen“ sei. In Wallace’ Weltbild war die Bürgerrechtsbewegung das Ergebnis einer Agitation von außen oder gar von Kommunisten. Manche der Protestierenden würden mit zehn Dollar am Tag bezahlt. Sie erhielten freie Unterkunft und so viel Sex, wie sie nur wollten, erklärte der Kongressabgeordnete William Dickinson, zu dessen Wahlkreis Montgomery gehörte. Dabei war Martin Luther King – in den Medien das Gesicht der Bewegung – jahrelang sittenstrenger Baptistenpastor in Montgomery gewesen.

Wallace’ vermeintliche Ordnung wurde mit Terror und Gewalt durchgesetzt. „Selma nach Montgomery“ hatte seinen Ursprung Wochen zuvor, als Polizisten am 18. Februar 1965 Teilnehmer eines Meetings für das Wahlrecht im Ort Marion verprügelten. Ein Polizist erschoss den 26-jährigen Jimmie Lee Jackson, Holzarbeiter und Diakon seiner Kirche. Der mutmaßliche Todesschütze wurde festgenommen. Emma Jean Jackson – Lee Jacksons Schwester – sagte später in einem Interview, aus Sicht der Familie sei das keine Genugtuung gewesen, weil viele Fragen offenblieben. Zum Beispiel: Warum habe der Staat Leute zu der Versammlung geschickt, um Menschen zu schlagen? Der Polizist bekam später eine sechsmonatige Gefängnisstrafe.

„Selma nach Montgomery“ wollte Mut machen und Stärke zeigen. Doch als es am 7. März losgehen sollte, kamen die rund 600 Marschierenden nur bis zu Selmas Edmund-Pettus-Brücke über den Alabama-Fluss. Was folgte, ist bis heute als „blutiger Sonntag“ überliefert. Berittene Polizei ging gegen die Bürgerrechtler mit Schlagstöcken, Tränengas und Hunden vor. Amerika konnte das Ganze im Fernsehen verfolgen. Zwei Wochen später unternahmen die Bürgerrechtler einen erneuten Versuch.

Die Autorin Mary Stanton hat 1998 ein an Episoden reiches Buch über Viola Liuzzo geschrieben: From Selma to Sorrow: The Life and Death of Viola Liuzzo, basierend auf Interviews mit Angehörigen und Mitkämpfern wie auf der Kenntnis von Regierungsdokumenten. Viola hatte sich nach dem „blutigen Sonntag“ zur Reise nach Alabama entschlossen. Nach ihrem Tod wurde in ihrem Auto ein Brief gefunden, gerichtet an einen ihrer Professoren, dem sie schrieb, sie könne nicht länger zusehen. Ihrer Freundin Sarah Evans habe sie gesagt, sie wolle etwas anfangen mit ihrem Leben, heißt es im Buch von Mary Stanton. Die Bürgerrechtsbewegung sei bedeutend: „Ich will ein Teil davon sein.“ Zugleich habe sie Schuldgefühle gehabt wegen ihrer Familie.

Violas Sohn Anthony Liuzzo erzählte Jahre später im Fernsehsender MSNBC, die Entscheidung seiner Mutter habe ihn nicht überrascht. Sie wollte immer Menschen helfen, habe manchmal Obdachlose mit nach Hause gebracht und den Kindern eingeschärft, dass Hass nichts Gutes sei. Hass tue vor allem dem Hassenden weh. Die Tochter Mary Lilleboe meinte 2017 gegenüber der Washington Post in Erinnerung an ihre Mutter: „Sie hat wirklich an das geglaubt, was die Botschaft Christi war: Die Leidenden und Hilfsbedürftigen sind eure Mitmenschen.“

Bomben in einer Kirche

Präsident Johnson trat am Tag nach dem Mord im Weißen Haus vor die Kameras, neben ihm FBI-Direktor J. Edgar Hoover. Dank der „sehr zügigen Arbeit“ der Behörde seien vier Ku-Klux-Klan-Mitglieder festgenommen worden: Eugene Thomas (43), William Orville Eaton (41), Gary Thomas Rowe (31) und Collie Leroy Wilkins (21). „Viola Liuzzo ging nach Alabama, um dem Kampf für Gerechtigkeit zu dienen“, sagte Johnson. „Sie wurde von den Feinden der Gerechtigkeit ermordet.“ Die Liuzzos erfuhren zu Hause erst einmal wenig von Gerechtigkeit. Seine kleine Schwester sei auf dem Heimweg vor der Schule von Erwachsenen mit Steinen beworfen worden, berichtete Anthony Liuzzo. Ihre Mutter sei eine Hure gewesen, hieß es. Unbekannte schossen auf das Haus der Familie.

Drei KKK-Männer wurden in Alabama freigesprochen, aber dann in einem nationalstaatlichen Verfahren zu zehn Jahren Haft verurteilt wegen Verletzung von Liuzzos Bürgerrechten. Der Täter Gary Rowe nicht. Er war FBI-Informant und ging in Zeugenschutz. FBI-Chef Hoover fütterte die Medien mit diskreditierenden Informationen über Liuzzo. Sie sei als Person „instabil gewesen“. Rowe sagte 1975 in Washington vor einem investigativen Senatsausschuss aus. Er sprach über seine langjährige Tätigkeit als FBI-Informant. Er war offenkundig bei mehreren Terroranschlägen dabei, darunter bei einem Bombenattentat auf eine Kirche in Birmingham (Alabama) im September 1963, bei dem vier Mädchen starben.

Präsident Johnson unterzeichnete am 6. August 1965 das Wahlrechtsgesetz, für das die Kampagne „Selma nach Montgomery“ gekämpft hatte.



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Von Veritatis

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