Für Gaza arbeitet er Pläne zur „Ausreise“ aus, im Inneren bekämpft er mit der Generalstaatsanwältin und der Geheimdienst-Spitze letzte Gegner der Autokratie. Kann die Opposition den Feldzug Benjamin Netanjahus noch aufhalten?


Tumulte in den Straßen: Die Anti-Bibisten verteidigen den Rest der israelischen Demokratie

Foto: Menahem Kahana/AFP/Getty Images


Wieder Tumulte auf Israels Straßen: Tausende von Demonstranten versammelten sich in Tel Aviv und Jerusalem, um gegen Benjamin Netanjahus Doppelstrategie zu protestieren, einerseits den Krieg im Gazastreifen neu zu entfachen und dabei das Leben israelischer Geiseln zu riskieren – und andererseits hochrangige Staatsdiener zu entlassen, die sich bemühen, Israels Abgleiten in die Autokratie aufzuhalten. Bereits am Dienstag vergangener Woche hatte der israelische Premierminister die Bombardierung des Gazastreifens angeordnet. Damit wurde, mitten im Ramadan, ein zweimonatiger Waffenstillstand mit der Hamas beendet. Hunderte von Palästinensern wurden seitdem getötet.

Der Angriff kam nicht unerwartet. Netanjahu und seine neu ernannten Militärchefs hatten deutlich gema

tlich gemacht, dass sie den Krieg wieder aufnehmen wollen, um „die Hamas ein für alle Mal zu zerschlagen“ und „jede künftige Bedrohung aus dem Gazastreifen zu verhindern“. Sie lehnten das Abkommen vom Januar ab, das die Beendigung des Kampfes als Voraussetzung für die Rückkehr der restlichen 59 israelischen und ausländischen Geiseln vorsah, die seit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 im Gazastreifen festgehalten werden.Bislang kein Befehl zur ethnischen Säuberung GazasDie Trump-Regierung hat Israel freie Hand gelassen. Donald Trump hat sogar das Ziel formuliert, die mehr als zwei Millionen Einwohner des Gazastreifens umzusiedeln und die Trümmer in Beach-Resorts zu verwandeln. Seine Idee kam der israelischen extremen Rechten, die sich seit Jahrzehnten für den „Transfer“ von Arabern aus den besetzten Gebieten einsetzt, fast wie eine göttliche Intervention vor. Was traditionell als extremistische Idee angesehen wurde, ist nun US-Politik geworden, maskiert als „humane Lösung“ und nicht als das, was es wäre: ein eindeutiges Kriegsverbrechen. Nachdem Trump diese Idee geäußert hatte, fand sie unter der jüdischen Mehrheit Israels breite Unterstützung als angemessene Strafe für das Massaker vom 7. Oktober.Bislang haben die israelischen Streitkräfte keinen ausdrücklichen Befehl zur ethnischen Säuberung des Gazastreifens erteilt. Auch haben die IDF ihre Bodentruppenreserven nicht auf eine Besatzungsoffensive ausgerichtet. Der Angriff vom Dienstag wurde als Angriff auf die Aufrüstungsbemühungen der Hamas und ihre Regierungsorgane dargestellt, wobei mehrere ihrer zivilen Führungskräfte und deren Familienangehörige ins Visier genommen wurden. Gleichwohl haben Trump, Netanjahu und hochrangige israelische Beamte der Hamas mit der „Hölle“ gedroht. Und das israelische Verteidigungsministerium verkündete, es habe eine Behörde eingerichtet, die die „freiwillige Ausreise“ aus dem Gazastreifen über israelische Luft- und Seehäfen erleichtern soll.Konkrete Pläne zum „Transfer“ von PalästinensernFinanzminister Bezalel Smotrich, ein rechtsextremer Politiker, plant einen Transfer von 10.000 Palästinensern pro Tag, wodurch der gesamte Gazastreifen innerhalb weniger Monate entvölkert würde. Verteidigungsminister Israel Katz, dessen Büro das Auswanderungsprojekt leitet, gibt an, dass 2.500 Evakuierte pro Tag ausreichen würden. Israel und die USA haben bereits den Sudan, Somaliland und andere Regierungen gebeten, die Palästinenser aufzunehmen.Die meisten Israelis halten das Reden von einem Transfer oder einer zweiten Nakba – die an die „Katastrophe“ von 1948 erinnert, den Exodus der meisten Araber aus dem Gebiet, das zu Israel wurde – immer noch für politisches Geschwätz der Rechten. Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit richtet sich auf die 59 Geiseln, die im Gazastreifen festgehalten werden und von denen 22 oder 24 offenbar noch am Leben sind. Für Netanjahu und seine Verbündeten ist das Schicksal der gefolterten, ausgehungerten Geiseln ein Ärgernis, eine Störung auf dem Weg zum „endgültigen Sieg“.Die Gegner der Regierung, die sich auf den alten israelischen Mainstream stützen, sehen die Rückkehr der Geiseln als vorrangig an. Sie haben in Trump einen unwahrscheinlichen Verbündeten gefunden, der die freigelassenen Geiseln im Oval Office empfing – eine Geste, die Netanjahu noch nicht vollzogen hat. Nachdem er die Verantwortung für die Katastrophe vom 7. Oktober von sich gewiesen hat, kann er den Opfern nicht in die Augen sehen.Netanjahu bombt sich seine Regierung zurückDer Bombenangriff vom Dienstag hat die Debatte entschieden. Netanjahu ignorierte die Bitten der Familien der Geiseln und der Überlebenden der Hamas-Gefangenschaft und schickte Bomber in den Himmel über Gaza, wohl wissend, dass die Hamas, mit dem Rücken zur Wand, die verbleibenden Gefangenen töten könnte. Der tödliche Angriff zahlte sich in Jerusalem sofort politisch aus. Israels kahanistische Partei Otzma Yehudit („Jüdische Kraft“), die aus Protest gegen den Waffenstillstand aus der Koalition ausgetreten war, kehrte am Vorabend einer entscheidenden Haushaltsabstimmung zurück. Die Verabschiedung des Haushalts sollte der Regierung Zeit verschaffen, um den begehrten Sieg in einer zweiten, aber keineswegs zweitrangigen Schlacht im eigenen Land zu erringen.Seit seiner Rückkehr ins Amt des Premiers 2022 ist es Netanjahus Ziel, Israel von einer quasi-liberalen, wenn auch angeschlagenen Demokratie – zumindest diesseits der grünen Linie, die Israel von den besetzten Gebieten trennt – in eine jüdische Autokratie zu verwandeln. Nachdem er die Regierungspartei Likud bereits in einen Personenkult verwandelt und sich mit den einstigen Parias der Kahanisten zusammengetan hatte, versuchte Netanjahu, die alte Elite von ihren Machtbasen im Verteidigungs- und Geheimdienstkomplex und in der Justiz zu vertreiben und sie durch seine Allianz aus „bibeltreuen“ Loyalisten, religiösen Nationalisten und ultraorthodoxen Rabbinern zu ersetzen. Die säkularen, westlich orientierten ehemaligen Eliten wehrten sich mit Massenprotesten, die den Umbruch in der Justiz verlangsamten. Dann kam der 7. Oktober, und die innenpolitischen Auseinandersetzungen wurden auf Eis gelegt.Politische Säuberung: Shin Bet und die GeneralstaatsanwaltschaftDoch Netanjahu verlor seine nationale Erneuerung nie aus den Augen. Als der Krieg langsam zu Ende zu gehen schien und sein ideologischer Bruder im Geiste Trump in den USA die Macht übernahm, startete die israelische Koalition einen neuen Coup. Gesetze, die die Unabhängigkeit der Justiz abschaffen würden, wurden im Eiltempo in die Knesset eingebracht. Da die Polizei und der Strafvollzug bereits gleichgeschaltet sind und der Generalstabschef der IDF ersetzt wurde, nimmt Netanjahu die sensibelsten und mächtigsten Ziele ins Visier: den Shin Bet, Israels Geheimdienst, und den Generalstaatsanwalt, der als oberster Gesetzeshüter des Landes fungiert.Netanjahus Motive sind sowohl persönlicher als auch politischer Natur. Gali Baharav-Miara, die Generalstaatsanwältin, leitet die Anklage in Netanjahus Korruptionsprozess. Wird sie durch einen Gefolgsmann ersetzt, könnte der Fall aus dem Blickfeld geraten. Ronen Bar, der Chef des Shin Bet, den Netanjahu entlassen will, untersucht Behauptungen über zwielichtige finanzielle Verbindungen zwischen den Spindoktoren des Premiers und Katar, dem Hauptsponsor der Hamas.Netanjahu argumentiert erwartungsgemäß, dass die „Katar-Affäre“ ein letzter Versuch seiner Widersacher Bar und Baharav-Miara sei, ihre Entlassung zu verhindern. Die beiden loyalen Bürokraten, die sich in unwahrscheinliche Dissidenten verwandelt haben, führten einen juristischen Kampf, um ihre Jobs zu behalten und die verbleibende Unabhängigkeit ihrer Behörden zu bewahren.Die Proteste der Anti-Bibisten bleiben visionslosDamit sind die Fronten innerhalb und außerhalb Israels für den Showdown abgesteckt. Netanjahu will die Hamas bis hin zur ethnischen Säuberung bekämpfen und ist bereit, auf diesem Weg die Geiseln zu opfern. Und er will das Establishment des Landes von seinen traditionellen Rivalen, den Mitgliedern der militärischen, akademischen und juristischen Eliten, säubern, damit der rechte Flügel für immer an der Macht bleibt.Diese Gegner Netanjahus, die um die Rettung der Geiseln und den Schutz der Demokratie kämpften, wurden durch das Versagen der IDF und des Shin Bet geschwächt, das Massaker vom 7. Oktober vorauszusehen und die Grenz-Kibbuzim zu schützen. Das historische Debakel hat das Ansehen des Militärs und des Geheimdienstes, deren ehemalige Führer den Protest gegen die Regierung anführten, irreparabel geschädigt. Die politische Opposition ist schwach, führungslos und hat keine Vision für die Nachkriegszeit. Doch sind sich die „Anti-Bibisten“ bewusst, dass sie, wenn sie jetzt verlieren, vielleicht nicht mehr protestieren können und zusehen müssen, wie ihr Land den autokratischen Weg einschlägt, der bereits in Ungarn, der Türkei und Trumps Amerika vorgezeichnet ist.In den kommenden Wochen wird sich zeigen, ob Israel dem Abgrund der Kriegsverbrechen im entvölkerten Gazastreifen und der De-facto-Diktatur in Jerusalem und Tel Aviv immer näher kommt oder ob der Vorstoß Netanjahus abgewehrt werden kann. Für die Zukunft Israels stand noch nie so viel auf dem Spiel. Die Demonstranten versuchen einmal mehr, die immer höher steigende Flut zu drehen.



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Von Veritatis

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