Nikolaus Blome hat ein Buch über linke Lebenslügen geschrieben. Das rief Jakob Augstein auf den Plan, der diese Thesen nicht unwidersprochen stehen lassen wollte. Hier streiten beide über die Zukunft des Landes – und wer sie verspielt
Nikolaus Blome und Jakob Augstein (rechts)
Collage: der Freitag, Material: Imago
Normalerweise streiten Jakob Augstein und Nikolaus Blome wöchentlich in ihrem RTL-Podcast über die großen Themen der Politik. Doch am 24. März 2025 war alles anders. An diesem Tag haben sich die beiden auf die Bühne des Berliner Renaissance-Theaters gesetzt und vor einem amüsierten Publikum ein Thema diskutiert, das Blome sehr am Herzen liegt: Wie die (angeblichen!) Lebenslügen der Linken unser Land vor die Wand fahren. Zwölf Falsche Wahrheiten der linken Blase hat er in seinem gleichnamigen Buch aufgeschrieben. Ganz überzeugen konnte er Augstein nicht.
Jakob Augstein: Herr Blome, was ist eine „falsche Wahrheit“ – außer ein Widerspruch in sich?
Nikolaus Blome: Eine falsche Wahrheit im Sinne dieses Buchtitels ist eine nicht r
“ – außer ein Widerspruch in sich?Nikolaus Blome: Eine falsche Wahrheit im Sinne dieses Buchtitels ist eine nicht richtig ausgerichtete politische Kompassnadel. Es sind Sätze, die wir alle Hunderte Male von Experten gehört haben und die uns deswegen in Fleisch und Blut übergegangen sind – obwohl sie nicht zutreffen. Doch weil auf Basis dieser Sätze Politik gemacht wird, geht es mit dem Land in die falsche Richtung: Geld wird verschwendet, falsch eingesetzt …Nennen Sie mal ein Beispiel.Wir können das Wort „Rentner“ nicht mehr hören, ohne an Armut und Flaschensammeln zu denken. Es gibt arme Rentner, und das soll überhaupt nicht kleingequatscht werden. Aber ganz überwiegend ist die ältere Generation sehr auskömmlich ausgestattet. Mehr als 60 Prozent der Leute haben andere Einkünfte als nur die gesetzliche Rente. Das hat ein 300 Seiten starker Regierungsbericht ergeben, der im November durchs Kabinett gegangen ist und den Bundesarbeitsminister Hubertus Heil nicht mit einer Silbe öffentlich erwähnt hat. Das muss man sich mal vorstellen: Ein Sozialdemokrat hat die Gelegenheit verstreichen lassen, zu sagen, dass seine Rentenpolitik funktioniert! Es passte halt nicht in sein Weltbild, dass es den Rentnern hierzulande eigentlich ganz gut geht.Sie tun in Ihrem Buch so, als würden die „falschen Wahrheiten“ der Linken dieses Land in den Abgrund stürzen. Ihnen ist aber schon klar, dass seit dem Zweiten Weltkrieg eigentlich immer die CDU regiert hat, oder?Sie vergessen, dass seit 1998 die SPD durchgehend mitregiert hat, mit Ausnahme von vier Jahren.Der ‚Spiegel‘ hat gezählt, dass es 173 verschiedene Sozialleistungen gibt, verteilt auf 29 Behörden, verwaltet durch 16 Bundesländer und beaufsichtigt von sieben Bundesministerien. Das, lieber Augstein, ist das Ergebnis Ihrer linken PolitikHeißt das, die SPD ist die erfolgreichere Partei? Das müsste mal jemand den Genossen sagen!Was den Sozialstaat angeht, würde ich sagen: Ja, da war die SPD deutlich wirkmächtiger. Natürlich gehört ein funktionierender Sozialstaat zur Stabilität einer Demokratie dazu. Aber an manchen Stellen führt er sich schlicht ad absurdum. Der Spiegel hat mal gezählt, dass es 173 verschiedene Sozialleistungen gibt, verteilt auf 29 Behörden, verwaltet durch 16 Bundesländer und beaufsichtigt von sieben einander in tiefer Feindschaft zugetanen Bundesministerien. Das, lieber Augstein, ist das Ergebnis Ihrer linken Politik.Was ist Ihrer Meinung nach falsch an dem Satz, dass Frauen in Deutschland schlechter bezahlt werden als Männer? 2024 lag der durchschnittliche Bruttoverdienst von Männern bei 26,34 Euro die Stunde. Frauen verdienten im Durchschnitt hingegen nur 22,24 Euro …Der Satz suggeriert, dass Frauen und Männer für dieselbe Arbeit unterschiedlich bezahlt werden. Das ist falsch. In jedem Betrieb, der einen Haustarifvertrag hat, wird drinstehen: Bürokraft A, weiblich, und Bürokraft B, männlich, kriegen dasselbe. Oder Schlosser und Schlosserin kriegen dasselbe. Da verdient niemand vier Euro weniger die Stunde wegen des Geschlechts. Was stimmt: Frauen arbeiten öfter in weniger gut bezahlten Berufen wie der Pflege und nicht in gut bezahlten technischen Berufen. So kommen die unterschiedlichen Durchschnittswerte bei den Stundenverdiensten zustande. Das nennt man den „unbereinigten Lohnunterschied“, lieber Augstein.Ja, aber …Ne, kein Aber! Mich bringt das auf die Palme! Jedes Jahr begehen wir am 7. März den „Equal Pay Day“. Die Bundesregierung hat diesen Kampftag seit 2009 mit insgesamt fünf Millionen Euro gefördert. Und das, obwohl sie weiß, dass der reale Lohnunterschied zwischen Frauen und Männern gerade mal bei zwei bis sechs Prozent liegt. Aber das interessiert natürlich niemanden. Da sagt man, das ist halt so ein Kampftag, da spielen Fakten keine Rolle. Dabei fließen da Millionen Steuergelder rein!Sie könnten sich auch fragen, warum Frauen in den schlecht bezahlten sozialen Berufen arbeiten und Männer in DAX-Vorständen sitzen. Das wäre dann eine Gerechtigkeitsdebatte.Falsch. Das wäre eine Gleichheitsdebatte. Aber den Unterschied haben Sie nach all den Jahren wohl immer noch nicht begriffen. Tja.Sie zitieren ein Buch, das den Titel „Wann sind Frauen endlich zufrieden?“ trägt. Im Ernst?Sie Schlingel! Jetzt wollen Sie das ganze Buch diskreditieren, weil es einen – zugegeben – etwas komischen Titel hat. Der Autor, Martin Schröder, arbeitet mit Zahlen aus dem Sozioökonomischen Panel. Das ist eine Befragung von 700.000 Menschen und meines Wissens nach die größte soziologische Basisstudie, die es auf diesem Planeten gibt.Als guter Gewerkschafter könnten Sie sich dafür einsetzen, dass die Tarifverträge in unserem Land geändert werden. Sie haben doch schon mal am 1. Mai vor Tausenden begeisterten Menschen gesprochen, die Ihnen zugejubelt haben – oder?Da lernt man: 20 Prozent der Frauen sind an Karriere interessiert, 20 Prozent an einer Familie und 60 Prozent ist es egal, was sie machen. Sonderbares Frauenbild.Mein Punkt in dem Buch ist: Die Politik geht davon aus, dass Frauen und Männer ungerechtfertigterweise sehr unterschiedlich verdienen. Doch das Gesetz, das sie geschaffen hat, um diesen angeblichen Missstand zu ändern, war wirkungslos. Ich spreche vom „Entgelttransparenzgesetz“, das 2017 unter Angela Merkel in Kraft trat. Es wurde bereits zweimal evaluiert und zweimal für „wirkungslos“ befunden. Trotzdem wird an dem Rezept festgehalten. Die Dosis wird sogar erhöht: 2026 kommt eine EU-Richtlinie, die den Geltungsbereich des Gesetzes ausweitet und die Berichtspflichten für Unternehmen verschärft. Deutschland hat natürlich artig genickt, als das in Brüssel beschlossen wurde.Okay, ein Gesetz war wirkungslos. Aber der Staat kann trotzdem versuchen, Frauen in gut bezahlte Jobs zu bringen. Das nennt man Social Engineering.Ich glaube, dass die staatliche Einflussmöglichkeit, was die Verteilung der Geschlechter auf die verschiedenen Branchen angeht, echt beschränkt ist. Haben Sie schon mal was von Berufsfreiheit gehört? Übrigens hätte ich eine schöne Aufgabe für Sie: Sie haben doch schon mal am 1. Mai vor Tausenden begeisterten Menschen in Düsseldorf gesprochen, die Ihnen alle zugejubelt haben – oder? Also, als guter Gewerkschafter könnten Sie sich dafür einsetzen, dass die Tarifverträge in unserem Land geändert werden. Derzeit ist es noch oft so, dass eine Frau nach einer mehrjährigen Familienpause 200 oder 300 Euro weniger verdient als jemand, der durchgehend denselben Job macht. Wegen der größeren Zahl von Dienstjahren. Das steht so in den Tarifverträgen. Nehmen Sie sich dieses Problems doch mal an, Augstein!Placeholder image-1Vorher reden wir noch über das Thema Migration. Sie sagen, Deutschland sei linken Einwanderungsland-Lügen verfallen.Mit dem Begriff Lüge sollte man vorsichtig sein. Mir ging es um den Satz „Deutschland ist ein Einwanderungsland“. Der wird mittlerweile auch von Konservativen unterschrieben. Dabei ist er falsch. Sind wir nicht. Wir sind ein Fluchtland. Wir haben pro Jahr nur einen Bruchteil der Fachkräfteeinwanderer, die wir wollen. Diese Menschen unterscheiden sich von Flüchtlingen dadurch, dass sie fast alle sofort anfangen zu arbeiten. Unsere Außenministerin oder unser Arbeitsminister gehen auf Auslandsreisen in Schulen und versuchen, fünf Leute zu gewinnen, die bitte, bitte eine Bäckerlehre in Deutschland machen. Das funktioniert so nicht, weil die Prämisse nicht stimmt: Wir sind kein Einwanderungsland.Sie zitieren in Ihrem Buch eine Studie, wonach Deutschland bei der Anziehungskraft für Fachkräfte Platz 49 von 53 belegt. Warum ist das so?Ich glaube, das hängt stark mit dem Wetter zusammen. (lacht) Spaß beiseite: Wer aus Indien kommt, ein klassisches Land, aus dem Fachkräfte in andere Länder auswandern, wandert eher in ein englischsprachiges Land ein und nicht nach Deutschland. Vielleicht ist die Willkommenskultur auch nicht besonders toll bei uns. Vielleicht möchte man im Moment eher nicht nach Ostdeutschland einwandern? Ich weiß es auch nicht. Wahrscheinlich gibt es viele Gründe. Der Punkt ist: Wir sind kein Einwanderungs-, sondern ein Fluchtland. Und bei Fluchtmigration brauchen wir eine Atempause. Was man aus den Koalitionsverhandlungen hört, versucht die CDU, das durchzusetzen.Deutschland ist kein Einwanderungsland – wir sind ein FluchtlandIm letzten Teil Ihres Buches schreiben Sie, Politik beginnt mit dem unverstellten Blick auf die Realität.Ja: Sagen, was ist. Der Satz stammt von Rudolf Augstein.Und von Herodot. Worauf ich hinauswill: Gibt es so was wie objektive Realität in der Politik überhaupt?Puh, was für eine Frage. Da würde ich jetzt gerne den Saaljoker ziehen. Ich denke, man wird sich nicht bis in den letzten Spiegelstrichen auf die Realität eines bestimmten Themas wie Sozialstaat oder Klimaschutz einigen können. Aber es gab lange große Schnittmengen über die weltanschaulichen Unterschiede hinweg. Das fasert gerade aus. Mit Donald Trump oder der AfD wird man sich auf diesen Minimalkonsens nicht mehr einigen können.Wo ist denn der Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge in der Politik? Man könnte ja sagen: Friedrich Merz und Donald Trump sind beide durch Lügen in ihre Ämter gekommen. Aber den einen bezeichnen Sie als Demokraten, den anderen als Gauner.Placeholder image-2Mit dem Unterschied, dass Merz noch nicht im Amt ist. Ich würde die beiden nicht gleichsetzen wollen. Ja, Friedrich Merz hat immer gesagt, er will die Schuldenbremse beibehalten – und sie noch vor Amtsantritt ausgehebelt. Das kann man Lüge nennen. Man kann es aber auch so formulieren: Er hat die erstbeste Gelegenheit genommen, die ihm die SPD geboten hat, um von irrealen Versprechungen Abstand zu nehmen. 2005 begann die Große Koalition übrigens auch mit einem Wortbruch: Merkel hatte im Wahlkampf zwei Prozent Mehrwertsteuererhöhung gefordert, die SPD hatte das als „Merkel-Steuer“ verhetzt – und beschlossen wurden am Ende drei Prozent. Dafür wurde aber auch die zweitgrößte Sozialstaatsreform des laufenden Jahrhunderts umgesetzt: die Rente mit 67. Ich bin gespannt, welche Reform sich die GroKo unter Merz ausdenkt. Als andere Seite der Wortbruch-Medaille …Was ist Ihnen lieber: linksliberale Dogmen oder Kettensägen-Politik à la Musk und Milei?Ich würde Trumps Politik nicht als rechts bezeichnen. Das ist Demokratieabbau. Wenn das Pendel weltweit wieder nach rechts schlägt, ist das nicht per se schlecht, es ist ja auch lange nach links ausgeschlagen. Und selbst wenn es Ihnen nicht gefällt, lieber Augstein: Auch Rechte haben manchmal recht.