Einer der aussichtsreichsten Kandidaten für das Präsidialamt, Ekrem Imamoğlu, sitzt seit Tagen in Haft. Hunderttausende gehen aus Protest dagegen in der gesamten Türkei auf die Straße. Ein Porträt


Anhänger des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoğlu mit Masken seines Gesichts vor dem Çağlayan-Gerichtsgebäude in Istanbul

Foto: Yasin Akgul/AFP/Getty Images


Als im Frühjahr 2019 die größte Oppositionspartei CHP Ekrem İmamoğlu als Istanbuler Bürgermeisterkandidaten nominiert, ist das Echo auf seine Person in politischen Kreisen eher verhalten. Obwohl er seit 2014 den Istanbuler Bezirk Beylikdüzü auf der europäischen Seite verwaltet, ist er in der Politik ein Unbekannter. Aber nicht lange: Sein freundliches Auftreten und die ruhige Art passen kaum in das Profil der Politiker, an die sich die Türkei in dem stark polarisierten, politischen Klima gewöhnt hat.

Zu Beginn seiner Karriere scheint er nicht sonderlich charismatisch, eher gilt er als Macher und Anpacker. Kaum jemand kann damals vorhersehen, dass dieser Mann wenige Jahre später zum Hoffnungsträger der Opposition für eine

Hoffnungsträger der Opposition für eine demokratische Türkei avancieren wird. Möglicherweise glauben viele auch nicht daran, dass er in Istanbul gewinnen wird. Denn die Mega-Metropole ist seit 25 Jahren in den Händen der AKP, Recep Tayyip Erdoğans Regierungspartei. Erst ein Jahr zuvor, 2018, gewinnt Erdoğan die Präsidentschaftswahlen und kann sich somit fünf weitere Jahre an der Macht sichern. Durch eine Verfassungsänderung, die er ein Jahr zuvor durchgesetzt hat, kann er sich zudem eine umfassende Machtfülle sichern.Trotz der undemokratischen Bedingungen im Vorfeld der Wahlen gewinnt İmamoğlu überraschend die Wahl. Wenn auch nur mit einem hauchdünnen Vorsprung von 13.000 Stimmen. Die Istanbuler Bevölkerung verteidigt die Stimmen an den Wahlurnen bis spät in die Nacht, etliche helfen bei den Auszählungen. Kurz darauf annulliert jedoch der Hohe Wahlrat (YSK) die Wahl aufgrund von Betrugsvorwürfen, ohne Beweise dafür vorzulegen. Bei vielen Istanbulern machte sich in diesen Tagen Verzweiflung breit. Sie glauben, dass die AKP niemals einen demokratischen Übergang zulassen wird.Bekannt ist das Vorgehen bereits aus dem Osten des Landes. Dort werden kurdischstämmige Bürgermeister durch staatlich eingesetzte Zwangsverwalter ersetzt. Imamoğlus politischer Kampfeswille ist angefacht. Seine Reaktion auf das erlittene Unrecht und die Fähigkeit, Menschen zu mobilisieren und zu inspirieren, machen ihn plötzlich zu einem aufstrebenden Star der türkischen Politik. Unvergessen ist seine Rede nach der Annullierung der Wahlen. Während eine jubelnde Menge seinen Namen skandiert, zeigt er sich mit hochgekrempelten Hemdsärmeln und ruft er lachend in die Menge: „Wir haben noch einen weiten Weg vor uns, wir sind enthusiastisch, wir sind jung.“Als die Wahl am 23. Juni wiederholt wird, schlägt Imamoğlu seinen AKP-Rivalen Binali Yıldırım mit einem überwältigenden Vorsprung von 800.000 Stimmen und erobert das Istanbuler Rathaus. Damit wird er zum wichtigsten Gegenspieler Erdoğans und zur größten Hoffnung der Opposition. Einige politische Analysten ziehen bereits Parallelen zwischen İmamoğlu und Erdoğan. Schließlich ist auch Erdoğan in den 1990er Jahren Bürgermeister von Istanbul gewesen. Auch er hat früh in seiner Karriere mit politischen Verboten zu kämpfen. Und wie Erdoğan stammt auch Imamoğlu aus der Schwarzmeerregion.Geboren wurde Imamoğlu 1970 in Trabzon – einer Hochburg konservativer Wähler und einer der wichtigsten Wählerbasen Erdoğans – und schloss 1994 sein Studium der Betriebswirtschaft an der Universität Istanbul ab. Während dieser Zeit beginnt er für das Bauunternehmen seiner Familie zu arbeiten. Nach eigener Aussage entwickelt er trotz seines konservativen Hintergrunds während seines Studiums sozialdemokratische Werte. 2008 entschließt er sich, aktiv in die Politik einzusteigen.Dem linken Flügel der Opposition ist Imamoğlu zu konservativ. Dem konservativ-religiösen Flügel ist er zu elitär. Doch eines ist unbestritten: seine Fähigkeit, auf die Menschen zuzugehen. Selbst viele AKP-Anhänger finden ihn aufrichtig. Vielleicht ist es genau dieser Wesenszug, der ihn für seine Gegnerschaft gefährlich macht. Sein natürlicher Umgang mit den Menschen auf den Straßen und Marktplätzen der Stadt verstärkt den Eindruck, dass er ein nahbarer Politiker ist. Mit einer auf Freiheit und Gerechtigkeit ausgerichteten Rhetorik gewinnt er die Unterstützung kemalistischer und säkularer Wähler, während er gleichzeitig historische, nationale und religiöse Werte betont, die für konservative und nationalistische Wählerschichten wichtig sind.Genau aus diesem Grund wird Imamoğlu sofort nach seinem Amtsantritt zur Zielscheibe der AKP. Im Dezember 2022 wird Imamoğlu wegen angeblicher Beamtenbeleidigung zu mehr als zwei Jahren Haft verurteilt. Im Dezember 2021 leitet das Innenministerium Ermittlungen gegen ihn ein, da Mitarbeiter der Stadtverwaltung vorgeblich Verbindungen zu terroristischen Organisationen hätten. Währenddessen blockiert die Regierung in Ankara systematisch seine Projekte, wie etwa seine Bemühungen, die Taxiknappheit in Istanbul zu lösen. Ein zentraler Grund dafür ist sein Kampf gegen die Korruption in der Istanbuler Stadtverwaltung der AKP-Ära.Imamoğlus Diplom wird annulliertAuch 2023, im Jahr der Präsidentschaftswahlen, wäre Imamoğlu aufgrund seiner Popularität der Kandidat der Opposition schlechthin für die Präsidentschaftswahlen gewesen. Doch die Klagen gegen ihn lassen Zweifel aufkommen. Die Regierung signalisiert, dass sie seine Kandidatur verhindern wird. Trotz seiner guten Werte in den Umfragen nominiert ihn seine Partei nicht. Stattdessen tritt erneut CHP-Chef Kemal Kılıçdaroğlu an – und Erdoğan wird wiedergewählt. Nach dieser Niederlage führt İmamoğlu eine Reformbewegung innerhalb der eigenen Partei an, die mit der Ablösung Kılıçdaroğlus durch den jüngeren Kandidaten Özgür Özel endet. Bei den Kommunalwahlen im März 2024 wird Imamoğlu mit großem Vorsprung erneut zum Bürgermeister von Istanbul gewählt. Landesweit überholt die Oppositionspartei CHP die AKP und wird in den Provinzen die stärkste Partei.Ende Februar des vergangenen Jahres wird ein weiteres Ermittlungsverfahren gegen ihn eingeleitet. Der Vorwurf: Er habe vor 30 Jahren während seines Studiums in Zypern illegal die Universität gewechselt. Doch der Uni-Abschluss ist eine der Voraussetzungen für eine Präsidentschaftskandidatur. Ironischerweise hegt die Opposition seit Jahren Zweifel an Erdoğans universitärem Abschluss, die Beweislage ist dürftig. Vor wenigen Tagen, am 18. März, wird İmamoğlus Diplom unter fragwürdigen Umständen annulliert, seiner Kandidatur wird so ein Riegel vorgeschoben. „Diejenigen, die diese Entscheidung getroffen haben, werden sich vor der Geschichte und der Justiz verantworten müssen“, erklärt er kurz darauf.Am nächsten Morgen tauchen Hunderte von Polizisten vor seinem Haus auf, um ihn zu verhaften. Er und Dutzende CHP-Funktionäre werden wegen Terror- und Korruptionsvorwürfen verhaftet. Die Verhaftungen lösen Proteste aus, wie sie die Türkei seit mehr als einem Jahrzehnt nicht mehr erlebt hat. Am vergangenen Wochenende wird İmamoğlu in das größte Gefängnis Europas, das Marmara-Gefängnis in Silivri, gebracht. Auf seinem X-Account postet er: „Mein liebes Volk, sei nicht traurig, verliere nicht die Hoffnung. Gemeinsam werden wir uns von diesem Angriff auf unsere Demokratie befreien.“Noch am selben Tag nominiert die CHP İmamoğlu offiziell zu ihrem Präsidentschaftskandidaten. Seitdem gehen die Proteste der Opposition in jeder Nacht weiter. Noch weiß niemand, ob die Proteste Wirkung zeigen und İmamoğlu freigelassen wird. Die schlimmste Befürchtung ist derzeit, dass er jahrelang im Gefängnis bleiben muss. So wie die beiden kurdischstämmigen Politiker*innen Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, die seit neun Jahren inhaftiert sind. Oder er könnte, wie einst Erdoğan, trotz aller Hindernisse das Politikverbot überwinden – und die Zukunft der Türkei verändern.



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Von Veritatis

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