Die junge Generation Ostdeutscher ist selbstbewusst, solidarisch, und sie sehen die Dinge oft etwas anders als die Wessis. Den Osten verlassen, wie das lange Zeit üblich war? Kommt ihnen nicht in den Sinn


Warum aufgeben, was man liebt? Vier Menschen berichten von ihrem Osten

Collagen: Kristina Wedel für der Freitag; Material: Imago, dpa


Für alle soll es einen Platz am Tisch geben

Mein Verhältnis zum Osten lässt sich beschreiben wie eine langjährige Freundschaft. Wir kennen uns schon unser ganzes Leben. Dennoch ist die Beziehung geprägt von Auf und Ab, von Freude und Müdigkeit, von Wut und Zweifel. Seit meiner Jugend bin ich politisch in Sachsen aktiv und setze mich für eine solidarische Gesellschaft ein, in der für alle genug Platz am Tisch ist und niemand darum kämpfen muss, zur Gemeinschaft zu gehören – dafür gibt es sicher Gegenden, in denen dies leichter wäre.

Dennoch hatte ich das Glück, schon in jungen Jahren gemeinsam mit tollen Freund*innen mit der Alten Spitzenfabrik in Grimma einen Ort zu erschaffen, der uns zeigte, was in uns steckt und wie ge

Spitzenfabrik in Grimma einen Ort zu erschaffen, der uns zeigte, was in uns steckt und wie gesellschaftlicher Wandel aussehen kann. Dies zu erleben, zu gestalten und selbst darin zu wachsen, verbinde ich mit meinem Zuhause und somit auch mit dem Osten. Weil es zeigt, was möglich sein kann. Trotzdem sind solche Räume selten und stetig von den sie umgebenden rechten Hegemonien bedroht. Für ihren Erhalt und ihre Sicherheit zu streiten, gehörte also schon immer dazu, im Kleinen wie im Großen.Der stetige Abwehrkampf verändert den Blick auf die eigene Umgebung und die Kontexte, in denen man sich bewegt. Für mich hat es einige Jahre gedauert, sehen zu können, wie viele großartige und inspirierende Orte es im Osten noch gibt. Zu wissen, dass viele Personen und Projekte hier an der Überwindung der rechten Verhältnisse arbeiten, macht mir Mut und zeigt mir jeden Tag, dass im Osten immer noch die Sonne aufgeht. Doch machen wir uns nichts vor, nicht nur auf ostdeutschen Kleinstadtbürgersteigen wird der Ton rauer.Die extrem rechten Mehrheiten sind längst kein ostdeutsches Phänomen mehr. Was es jetzt braucht: eine gesamtdeutsche Auseinandersetzung mit der extremen Rechten in den Parlamenten und auf den Straßen. Und eine wahrhaftige Begegnung zwischen Ost und West auf Augenhöhe. Weil Aufbruch nicht passiert, wenn alle gehen.Sarah Schröder,24, ist politische Referentin im „Dorf der Jugend“ in Grimma, Sachsen Ich bleibe in Dresden – aus Rache!Placeholder image-2Vor vier Jahren bin ich in den Osten gezogen. Heute wohne ich in Leipzig, und wenn ich an den Osten denke, dann nicht an Glatzen und Springerstiefel. Ich denke an Widerstand. Migrantischen Widerstand. Ich denke an starke Communitys, an Adela, Diana, Judy und all meine anderen Schwestern, mit denen ich gemeinsam trauere oder zu laut lache und viel zu Schwarz bin. Ich denke an die Kämpfe der Vertragsarbeiter*innen, die wir heute weiterkämpfen. Ich denke an Küfas und Verschenkekisten am Straßenrand. An Sharing-Is-Caring-Gruppen und Solikassen.Der Osten ist solidarisch. Nachbarschaftlich. Das lerne ich hier. Natürlich denke ich auch manchmal an Glatzen und Springerstiefel. An Hoyerswerda und Erfurt 1975. Ich imaginiere viel über diesen Typus von Ostdeutschen. Ironischerweise haben er und ich etwas gemeinsam: Wir werden niemals „echte Deutsche“ sein. Eine Norm bleibt eben eine Norm, auch wenn sie erst deutsch und dann westdeutsch ist. Das verbindet uns beide. Wir beide sind am Ende nur Deutsche zweiter Klasse, abgehängt, ausgebeutet und zum Sündenbock erklärt.Also bleibe ich hier, weigere mich zu gehen. Ich widersetze mich diesem Weißsein, der Idee einer streng weiß gedachten nationalen Einheit, deren Schrei vielleicht am lautesten im Osten schallt, aber doch im Westen gerufen worden ist. Und wenn dieser Ostdeutsche das nicht verstehen mag und solidarisieren mag, dann bleibe ich – aus Rache. Dann lasse ich seine Überfremdungsängste wahr werden, wenn ich mit meinen Brüdern und Schwestern die Parks einnehme.Ich lasse die Glatze glühen, wenn mein Bauchnabelpiercing durch mein Babyshirt blitzt oder meine Schwarze Hand die weiße Hand meines Partners hält. Pech. Sei also nicht wütend auf mich, Ostdeutscher. Sei sauer auf die Machtverhältnisse, auf jene Logik, die normiert und ordnet und so besessen von Grenzziehungen ist, dass sie sogar in Weiß und Ostweiß unterscheidet. Dann wäre es vielleicht auch gar nicht so schlimm für dich, dass ich hierbleibe.Bailey Ojiodu-Ambrose,26, war drei Jahre in der rassismuskritischen Bildungsarbeit in Leipzig tätig und studiert aktuell Globale Kommunikation „Wir bleiben hier“ aufs DemoplakatPlaceholder image-3Es gibt viele Gründe, warum ich hier in der Lausitz antifaschistisch aktiv bleibe. Der wichtigste: Die Menschen, die ich hier kennengelernt habe und denen ich vertraue. Wir müssen nicht in der Mehrheit sein, um es uns gut gehen zu lassen. Um aufeinander aufzupassen. Wir müssen auch nicht in der Mehrheit sein, um etwas zum Guten zu bewegen. Mit unserem Bündnis Unteilbar-Südbrandenburg schaffen wir es verlässlich, viele Menschen zu aktuellen Ereignissen auf die Straße zu bringen.Ja, wir verhindern damit derzeit nicht die Wahlerfolge der Faschisten. Aber wir sorgen dafür, dass die antifaschistische Zivilgesellschaft sich gegenseitig sieht – sei es in Cottbus, Finsterwalde oder Forst. Wenn ich am Montag nach einer Kundgebung beim Discounter in der Schlange jemanden sehe, der neben mir auf der Kundgebung stand, dann verändert sich mein Sicherheitsgefühl. Innerhalb einer rechten Hegemonie zu wissen, da sind Menschen, die teilen emanzipatorische Grundüberzeugungen mit mir, das macht den Unterschied zwischen Gehen oder Bleiben.Gemeinsam mit diesen Menschen habe ich in den vergangenen Jahren gelernt, dass extrem rechte Hegemonie nicht heißt, dass wir uns nicht gleichzeitig zusammentun und eigene Räume und Projekte aufbauen könnten. Während wir im vergangenen Jahr vor jeder Wahl und anlässlich der Deportationspläne der Faschisten demonstriert haben, gründeten wir unseren Verein „Losmachen“ und haben einen eigenen Raum für die antifaschistische Zivilgesellschaft mitten in der Innenstadt bezogen. Wir werden auf absehbare Zeit auf kein Demoschild mehr „Wir sind mehr“ schreiben. „Wir bleiben hier“, aber vielleicht schon. Denn eines haben wir von vielen sozialen Bewegungen vor uns gelernt: Es sind Minderheiten, die die Gesellschaft verändern.Lukas Pellio,38, ist Pfarrer der evangelischen Studierendengemeinde Cottbus und aktiv bei Unteilbar-Südbrandenburg und dem Verein Losmachen e. V.Es gibt hier neue Wege und FreiraumPlaceholder image-4Ich lebe gerne in Weißwasser, weil ich hier gestalten kann. Hier gibt es keine fertigen Lösungen, sondern den Freiraum, neue Wege zu gehen. Es begeistert mich, gemeinsam mit anderen Menschen Strukturen aufzubauen, die ihnen eine Perspektive vor Ort bieten. Frauen dabei zu unterstützen, Führungsrollen zu übernehmen und ihre Ideen sichtbar zu machen, ist mir ein besonderes Anliegen. Als Wissenschaftlerin für sozialen Wandel und Transformationsprozesse bin ich tief in den Strukturwandel der Lausitz eingebunden. Meine Arbeit fokussiert sich auf die regionale Entwicklung mit einem besonderen Blick auf die Unterstützung junger Menschen und Frauen.Echte Transformation bedeutet nicht nur wirtschaftlichen Umbau, sondern auch gesellschaftliche Erneuerung. Eine nachhaltige Zukunft entsteht nur, wenn alle Menschen die Möglichkeit haben, aktiv daran mitzuwirken. Deshalb schaffe ich Räume für Austausch, Bildung und Engagement, in denen junge Menschen und Frauen ihre Potenziale entfalten, eigene Projekte umsetzen und sich in ihrer Region verankern können. In der Lausitz kann ich genau das tun – nicht nur Konzepte entwickeln, sondern direkt erleben, wie Veränderung geschieht.Dass ich ostdeutsch bin, merke ich oft daran, wie über den Osten gesprochen wird – sei es 2008, als westdeutsche Jugendliche selbstverständlich ihre Zukunft vor Ort planten, während ich hörte, dass man „weggehen muss, um etwas zu werden“. Oder 2016 in Bayern, als in einer Sitzung über „den Ossi“ gesprochen wurde, ohne dass man sich konkret damit auseinandergesetzt hatte. Als ich im Urlaub am Nebentisch ein Gespräch nicht überhören konnte, in dem es um den schrecklichen Geschmack ostdeutscher Wohnverhältnisse ging, „weil man ja wenigstens einheitliche Fliesen im Haus verbauen hätte können“, platzte mir das erste Mal der Kragen.Ich liebe den Osten, weil hier Herausforderungen mit Tatkraft angegangen werden. Menschen geben hier nicht auf, sie haben es gelernt, nach Lösungen suchen, im Notfall Dinge selbst zu erschaffen und zu reparieren. Vergangenheit und Zukunft begegnen sich überall. Alle tun etwas Individuelles, aber gemeinsam.Franziska Stölzel,31, ist Sozialwissenschaftlerin und wohnt in der Oberlausitz



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Von Veritatis

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