In Halle entsteht ein Mega-Museum zur Wendegeschichte. Aber wieso baut man so etwas eigentlich nicht im Westen?


Der Riebeck-, früher Thälmann- platz 1999 (rechts) und in einer Visualisierung (links) – auf der schraffierten Fläche entsteht das „Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation“

Fotos: Stadt Halle (Saale)/Vestico, Ullstein (r.)


Ostberlin, 9. November 1989: Der lokale Parteichef Günter Schabowski verliest eine ungeschickt formulierte Pressenachricht – und die Mauer ist quasi Geschichte. In weniger als einem Jahr geht die DDR in der BRD auf. Heute erinnern wir uns dessen als Erfolg der „friedlichen Revolution“. Die damaligen Montagsdemonstranten freilich hatten zunächst nicht die Abschaffung der DDR und nicht mal die des Kommunismus gefordert, sondern schlicht Reise-, Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit. Doch nun waren die Grenzen offen und die Übernahme der DDR durch die BRD nicht mehr aufzuhalten. Fast nichts blieb übrig – mit Vollgas und gegen alle Warnungen drückte das dritte Kabinett von Kanzler Helmut Kohl eine umfassende Währungs-, Wirtschafts- un

und Sozialunion durch.Der Rest ist – eine Erfolgsgeschichte? Anscheinend nicht. Warum sonst müsste den Ostdeutschen regelmäßig in allerlei Ausstellungen und Demokratieprojekten vermittelt werden, welch in jedweder Hinsicht unzweideutiger Gewinn die Wende für sie gewesen sei? Diese kulturpolitischen Bemühungen sollen nun sozusagen ein Mutterschiff erhalten: das „Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation“, das auf Beschluss der Bundesregierung derzeit in Halle an der Saale entsteht.Vorgeschlagen wurde diese Großeinrichtung, die mit Blick auf die Zukunft die Vereinigung neu beleuchten soll, im Beitritts-Jubeljahr 2020. Unter sechs ostdeutschen Bewerberstädten erhielt 2023 die Händelstadt den Zuschlag. 2028 sollte das Gebäude am komplett umgestalteten Riebeckplatz eröffnet werden, 200 Millionen Euro aus Mitteln des Bundesbauministeriums sind bewilligt. Die Trägergesellschaft steht, der Architekturwettbewerb läuft, es gibt schon „Botschafter“ – und Stellen für „Ausstellung, Dialog und Kultur“ sowie „Pädagogik und Vermittlung“ sind ausgeschrieben. Da mag man den Aufrufen des entstehenden Zentrums an die „Zivil- und Stadtgesellschaft“ gern folgen, sich in der Frage einzubringen, was an Inhalten die angestrebten 200 Beschäftigten einmal in die Lande senden könnten und sollten.Dabei gibt es zwei Gefahren: Beliebigkeit und Verengung. Erstere lässt sich mit den Namensbestandteilen „Zukunft“ und „Transformation“ verbinden. Die typischen Projektantragsvokabeln können sehr viel und auch sehr wenig bedeuten: Von der lokalen Nachhaltigkeitsinitiative über das international-inklusive Theater- oder Kunstprojekt bis zu expliziteren Formen kulturellen Standortmarketings passt hier so ziemlich alles. Vor allem nach dem Letztgenannten klingen denn auch die „Schlussfolgerungen“, die eine Delegation des Zukunftszentrums jüngst in einem Bericht über eine Informationsreise nach Danzig zog: „Perspektiven der Zivilgesellschaft beim Städtebau berücksichtigen; Sog- und Ansiedlungs-Effekte durch Bau des Zukunftszentrums erkennen und nutzen; Aufbruchstimmung im Kontext des Zukunftszentrums in der Stadtgesellschaft auslösen“. Ernsthaft: Würde man ohne Vorwissen vermuten, dass es hier um eine im Kern auf die Aufarbeitung von Geschichte zielende Institution geht?Einmal ohne AugenverdrehenHält man sich indes vor Augen, wovon jene Reisegruppe in Danzig dermaßen beeindruckt war, ist man bei der zweiten Gefahr, nämlich der Verengung: Sie besuchte dort das Solidarność-Zentrum. Diese Einrichtung bettet ein Museum und Archiv der Gewerkschaft am historischen Ort in eine aufwendig präsentierte, aber thematisch recht eng fokussierte Darstellung des Untergangsprozesses des Kommunismus in Polen und den anderen Staaten des ehemaligen Ostblocks ein. Nun soll es beim Zukunftszentrum aber nicht um die historische Niederlage der Ostblockstaaten gehen, sondern um die „Deutsche Einheit“.Und davon – von wirklicher, gesellschaftlicher Einheit – kann bis heute kaum die Rede sein. Obwohl die DDR schon fast so lange Geschichte ist, wie sie bestanden hatte, gilt der Osten noch immer als „das andere“, als Problemkind, das in den Medien negativ gezeichnet wird. Obwohl viele der Themen und Schwierigkeiten des Ostens eigentlich gesamtdeutsche Phänomene sind, gibt es Unterschiede: Einkommen, Renten, Sparguthaben und sogar Lebenserwartung sind geringer – wie auch das Vertrauen in staatliche Institutionen. Hat die Wende den Glauben an die guten Absichten der Volksvertreter gar so anhaltend erschüttert, dass Ostbürger weniger Glauben in die demokratischen Prozesse investieren möchten?Will man angesichts all dessen nun, wie Carsten Schneider (SPD) als Ostbeauftragter der Bundesregierung das Zukunftszentrum verpackt, „auf der Grundlage der Erfahrungen seit 1989/1990“ Fragen „vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger Transformationen“ beleuchten, müsste man zunächst die Weichenstellungen ungeschminkt zeigen, die zu jenen Erfahrungen geführt haben. Anzufangen wäre wohl bei der „Schocktherapie“ der Währungsunion, vor der nicht nur der westdeutsche „Wirtschaftsweise“ Rüdiger Pohl im Februar 1990 so eindringlich gewarnt hatte, sondern etwa auch Lutz Hoffmann vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung: Er hatte mit bis zu drei Millionen Erwerbslosen infolge der Wirtschaftsunion gerechnet. Rückblickend stellte der Treuhand-Verwaltungsrat 1994 fest, dass rund 90 Prozent aller ostdeutschen Unternehmen direkt nach der Währungsunion insolvenzbedroht waren.Einer Aufarbeitung bedürfen ferner die politischen Entscheidungen, die dazu führten, dass die DDR sich „den Beitritt nach Artikel 23 andrehen“ ließ „wie einen Staubsauger von einem Hausierer“, wie es der ostdeutsche Schriftsteller Thomas Brussig einmal ausdrückte. Die rückstandslose Zerschlagung von Institutionen und Errungenschaften, etwa des eben nicht nur ideologischen, sondern auch sehr leistungsfähigen Bildungssystems, der tendenziellen Vollbeschäftigung der Frauen und die Abwertung der Abschlüsse und Lebensleistungen, wurde vielfach als Angriff auf die eigene Person empfunden, selbst wenn man dem DDR-System gar nicht zustimmte.Auch andere Elemente des heutigen ostdeutschen „Sonderwegs“ müssten fern des üblichen Augenverdrehens zunächst im Kontext erfasst werden, etwa jene oft skandalisierten „pro-russischen“ Haltungen. Dass die heutigen Ostdeutschen, wie der jüngste Bericht des Ostbeauftragten nahelegt, größere Angst als die Westdeutschen haben, in einen Krieg hineingezogen zu werden, liegt an unterschiedlichen Gründungsgeschichten und Geschichtskulturen: Wo die USA ihr Westdeutschland als Frontstaat aufpäppelten, erlebte man im Osten zunächst ganz anders, was es bedeutete, einen solchen Krieg angefangen und verloren zu haben. In der Bundesrepublik mündete die kulturelle Verwestlichung in ein Geschichtsgefühl, demzufolge man sozusagen am D-Day mit in der Normandie gelandet war, um weiterhin den Feind im Osten in die Schranken zu weisen.In Ostdeutschland hatte man hingegen mit echten Russen zu tun. Man lernte die Sprache und konnte sich einer auch mitfühlenden Perspektive auf den Vernichtungskrieg gegen die UdSSR mit seinen 29 Millionen – weit überwiegend zivilen – Opfern viel schwerer entziehen. Es ist bezeichnend, dass es der bei aller DDR-Kritik in diesem Punkt eben ostdeutsche Bundespräsident Joachim Gauck war, der 2015 (!) erstmals ein offizielles bundesrepublikanisches Bedauern für die drei Millionen Sowjetsoldaten ausdrückte, die allein in den Gefangenenlagern durch rassistische Sonderbehandlung umkamen.Solche Erinnerungsvorräte kommen in Betracht, wenn man ernsthaft fragt, wieso viele im Osten die Erzählung nicht kaufen, Wladimir Putin wolle anlasslos die Ukraine vernichten, sondern ihm auch nachvollziehbare sicherheitspolitische Kalküle zugestehen. Womöglich sind Ostbürger auch ob der wirtschaftlichen Lage weniger bereit, Sanktionen mitzutragen.Auf Italien statt Polen blickenGeht es jedenfalls dem Zukunftszentrum wirklich um „Einheit“, müsste es zunächst solche Differenzen nicht nur feststellen, sondern auch ernsthaft anerkennen. Unterschieden werden muss ferner die „Transformation“ in Ostdeutschland von derjenigen etwa in Polen: Es ist nicht das Gleiche, ob sich ein Land als Ganzes einen neuen Weg suchen konnte oder ob es von einem so übermächtigen wie überheblichen Bruder verschluckt wurde. Ein inhaltliches Anknüpfen an jenes Danziger Zentrum wäre schon deshalb problematisch. Wenn man für die ostdeutsche Erfahrung schon Parallelen sucht, wäre es besser, auf Italien zu blicken, wo eine schon lange zurückliegende politische Vereinigung bis heute kaum zu einer wirklichen gesellschaftlichen Einheit des überlegenen Nordens mit dem abgewerteten Süden geführt hat.Soll die Erfahrung der Wendejahre für andere Einheitsprozesse fruchtbar gemacht werden, stellt sich zudem die Frage, wieso das Zentrum eigentlich so scheinbar selbstverständlich für Ostdeutschland ausgeschrieben wurde – und, sagen wir, Halles Partnerstadt Karlsruhe nicht in Betracht kam, deren Bürgermeister sich unter den Zentrums-Botschaftern findet. Wäre der „Einheit“ nicht sogar besser gedient, wenn man nicht abermals dem Osten seine Wende erklärte, sondern den Westdeutschen, was diese für die Existenzen der Ostdeutschen bedeutete? Wenn man dem Westen, nur ein Detail, etwa einmal nachhaltig klarmachte, wie sehr er am Ende vom Beitritt profitiert und wie undankbar er sich dabei aufgeführt hat?Vor Ort in der Händelstadt scheint jedenfalls bisher jene „Aufbruchstimmung im Kontext des Zukunftszentrums“, welche die Danzig-Reisenden in ihrem Bericht beschwören, noch nicht über die Stränge zu schlagen. Nicht wenige monieren, das freigegebene Geld wäre in Schulen und Infrastruktur besser investiert. Dass etwa die Treuhand in einem solchen Zentrum transparent und ehrlich aufgearbeitet würde, glaubt kaum jemand. Und derzeit hakt es bei dem Projekt bereits: Der sachsen-anhaltinische Haushalt für 2025 sieht die ersten 29 Millionen Euro Landesanteil für das Großbauprojekt nicht vor. Der MDR kommentiert: „Mit dem Bewerbungserfolg im Februar 2023 war vor allem die typisch ostdeutsche Hoffnung auf einen lokalen Fördereffekt verbunden.“ Welche andere Hoffnung damit legitimerweise hätte verbunden sein sollen, sagt der MDR nicht.Einfache Erklärungen für den ostdeutschen „Sonderweg“ wird man nicht finden. Umso wichtiger ist es, dass eine Einrichtung, die aus den Transformationserfahrungen der Wiedervereinigung lernen möchte, ergebnisoffen zu fragen beginnt. Sie kann sich nicht darauf beschränken, politische Bildung und Erinnerungskultur nur auf einer Seite der Gleichung zu betreiben, die andere aber unkritisch als Normalfall zu behandeln. Das Zukunftszentrum in Halle kann diesen pluralistischen Weg noch beschreiten. Er erfordert aber eine Ehrlichkeit in der Erinnerungskultur, um die zunächst zu ringen wäre.Claudia Wittig ist Historikerin an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg



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Von Veritatis

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