Die Doktrin Christian Lindners zur Schuldenbremse verschafft seiner Partei Chancen – das lehrt so zumindest die Krisengeschichte


Hat bei der Schuldenbremse nicht recht, könnte aber dennoch auf dem Weg zurück ins Finanzministerium sein: Christian Lindner

Foto: Hans Christian Plambeck/Laif


Unter der Führung ihres Vorsitzenden Christian Lindner ist die FDP vor allem eines: die Partei der Schuldenbremse. Sogar von der CDU kann man das nach den jüngsten Auslassungen ihres Chefs Friedrich Merz nicht mehr sagen. „Selbstverständlich kann man das reformieren“, vorausgesetzt, der Reformzweck sei sinnvoll, hat er am 13. November geäußert und damit laut Christoph Meyer, dem Vize-Fraktionschef der FDP im Bundestag, seine Glaubwürdigkeit eingebüßt.

Die Lindner-FDP hat also dieses Alleinstellungsmerkmal. Ist demnach die FDP eine böse Partei? Nein, denn die Schuldenbremse ist nicht verrückt. Auch SPD und Grüne wollen sie nur reformieren, nicht abschaffen. Im Streit um die Schuldenbremse spiegelt sich ein echtes Problem; bei

oblem; beide Seiten haben recht und unrecht zugleich, obwohl man mit gutem Grund behaupten darf, dass die Gegner:innen der Schuldenbremse mehr recht als unrecht haben. Denn die Möglichkeit, ökologische Projekte im erforderlichen Ausmaß zu fördern, hängt von einer sehr weitgehenden Reform ab. Die Reform, die die Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen gerade befürwortet hat, wäre weitgehend: Neuverschuldung in der Höhe, wie der Staat Investitionen tätigt, vor allem (sozial-)ökologische.Was für die Schuldenbremse spricht, hat Werner Plumpe kürzlich in der FAZ erklärt. Die Stimme des Ökonomen, der bis 1989 DKP-Mitglied war, ist gewichtig. Sein kleines Buch Wirtschaftskrisen. Geschichte und Gegenwart gehört in jedes Bücherregal. Plumpe legt dar, dass der Staat in einer Zeit mehr Geld braucht, in der sich der Produktivitätszuwachs der Wirtschaft immer mehr verringert, daher auch die Neigung zu Investitionen und schließlich das Wirtschaftswachstum, von dem wiederum die Steuersumme abhängt, die der Staat erhält.Die Regierung Scholz hat zwar so viel Geld aus Steuern und Abgaben erhalten wie keine Regierung zuvor, kann ihre Aufgaben ohne Neuverschuldung aber trotzdem nicht mehr erfüllen, wenn sie nicht den Sozialetat oder den Wehretat oder beide drastisch kürzt oder sich von der Ökologie verabschiedet. Bezeichnend ist ja tatsächlich, dass eine Sahra Wagenknecht nicht nur den Wehretat zusammenstreichen würde, sondern jetzt auch zur ersatzlosen Streichung des Heizungsgesetzes aufruft. Heißt das nicht, dass auch weniger Wehretat nicht reichen würde für ein Heizungsgesetz mit einer sozialen Abfederung, die in ihren Augen hinreichend wäre? Plumpe jedenfalls denkt schon an die späte DDR zurück, „die sich einen Staat leistete, den zu finanzieren ihre Wirtschaft gar nicht in der Lage war“.Gewichtig ist aber auch die Stimme des französischen Ökonomen Thomas Piketty, der daran erinnert hat, dass Großbritannien das ganze 19. Jahrhundert damit verbrachte, die Schulden zurückzuzahlen, die es hatte aufnehmen müssen, um den Krieg gegen Napoleon zu gewinnen. Damals war es vor allem das Bildungssystem, das unter der Schuldenrückzahlungs-Orthodoxie litt. „Viele Beobachter sind der Meinung“, führte Piketty in der Berliner Democracy Lecture vor zehn Jahren aus, „dass diese Unterfinanzierung der Schulen, samt einem extrem schichtspezifischen Bildungssystem, in gewisser Weise bis heute fortdauert und somit den Niedergang der Produktivität in England im 20. Jahrhundert erklärt.“ Eine Jahrhundert-Aufgabe wurde den Rentiers geopfert, wie heute die Aufgabe Ökologie. „Man sieht sie förmlich vor sich, diese Rentenbezieher, in den zeitgenössischen Romanen.“Zum Wohle der RentiersWenn es um die FDP geht, ist die Erinnerung an Großbritannien besonders am Platz, denn in Großbritannien wurde – wie man seit den Forschungen Karl Polanyis weiß – die kapitalistische Marktwirtschaft in der Art einer Doktrin und ihrer Verwirklichung erfunden. Die Vertreter dieser Doktrin sind die Wirtschaftsliberalen, wie sie sich in der FDP tummeln. Das sind also keine Dummköpfe, die an eine gottgegebene Naturwüchsigkeit der ökonomischen Entwicklung glauben.Aber ihre Wirtschaftstheorie, auf deren Boden, dem Kapitalismus, ja alle stehen, auch SPD und Grüne, ist falsch, daher auch die Frage „Ja oder nein zur Schuldenbremse?“, die sich auf diesem Boden stellt. Wenn Reichtum vorhanden ist, den Rentiers nicht zur Investition in die Jahrhundert-Aufgaben verwenden, muss der Staat ihn abschöpfen. Das geschieht nicht, das Wohl der Rentiers wird über alles gestellt. Dabei haben selbst kapitalistische Staaten im und nach dem Zweiten Weltkrieg abgeschöpft. In den USA lag der Spitzensteuersatz bis zur Mitte der 1960er Jahre bei 90 Prozent.Weil die Frage so zentral ist, dürfte es verfrüht sein, einen Abgesang auf die FDP anzustimmen. Gerade in Deutschland ist die Schuldenbremse besonders populär, wird von einer Mehrheit befürwortet. Große Teile der Bevölkerung haben sich davon überzeugen lassen, dass auch von ihr die bisherige Stärke der deutschen Wirtschaft im europäischen Vergleich herrührt. Das kann der FDP im bevorstehenden Bundestagswahlkampf nützen, in dem die Schuldenbremse ein Hauptthema sein wird. Die FDP wird auf Deutschlands ökonomischen Abstieg hinweisen, der im Bewusstsein der Wähler:innen noch kaum präsent ist.Volker Wissing indes, der als Bundesverkehrsminister mit der ökologischen Jahrhundert-Aufgabe unmittelbar konfrontiert ist, hat die FDP jetzt verlassen. Dass es noch Menschen in Amt und Würden gibt, die im Zweifel ihrer Erfahrung folgen und nicht ihrer Doktrin, ist ein Hoffnungszeichen.



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Von Veritatis

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