Weltweit wächst der Unmut gegen autokratische Regierungen: Studierende in Serbien und der Türkei leisten gewaltfreien Widerstand, Israelis sind gegen den Krieg in Gaza auf den Straßen. Auch in den USA regt sich zaghaft Protest gegen Trump
Weltweit stehen Demokratien und Menschen, die sich für die Demokratie in ihrem Land einsetzen, unter Druck. Regierungschefs wie Benjamin Netanjahu, Recep Tayyip Erdoğan, Serbiens Präsident Aleksandar Vučić und der amerikanische Präsident Donald Trump sind einige der Mitglieder eines internationalen Clubs, den man als autoritär-populistisch bezeichnen könnte. Sie lassen Oppositionelle einsperren, sie wollen die Macht der Gerichte oder anderer Behörden beschneiden, sie versuchen, ihre Gegner einzuschüchtern und zu drangsalieren, um ungestört ihr autoritäres Programm durchziehen zu können.
Doch dagegen regt sich Widerstand. Nicht alle Menschen in den USA, Serbien, Israel und der Türkei sind mit der Politik ihrer, wohlgemerkt
ohlgemerkt, gewählten Volksvertreter zufrieden. Sie versuchen, ihre Institutionen zu schützen und ihre Rechte zu verteidigen. In Serbien entzündete sich die Wut am Einsturz eines Bahnhofsvordaches, bei dem 16 Menschen umkamen. In der Türkei, an der Inhaftierung des Bürgermeisters von Istanbul. In Israel gehen Menschen schon seit zwei Jahren gegen die geplante Justizreform der israelischen Regierung auf die Straßen; seit dem 7. Oktober 2024 tun sie dies nun auch vermehrt für ein Ende des Gaza-Krieges. Neu formiert sich der Protest in den USA, wo der Präsident Donald Trump und sein Kompagnon, Milliardär Elon Musk, die Axt an staatliche Instanzen anlegen. Was die Protestierenden in den vier Ländern antreibt und was sie eint: Sie wollen die Demokratie verteidigen.USA: Linke trotzen Trump und Tesla Der Sprechchor „Hey hey, Ho ho, Elon Musk has got to go“ ist der Dauerbrenner unter den rund 400 Menschen, die sich Samstagmittag um Punkt 12 Uhr auf der Kreuzung vor dem Tesla-Ausstellungsraum in Downtown Chicago versammelt haben. Zahlreiche vorbeifahrende Autos hupen, was mit Jubel quittiert wird. Doch passiert ein Tesla die Kreuzung, ruft die Menge: „Verkauf dein Auto, verkauf dein Auto!“„Wir sind das erste Mal hier. Wir leben auf dem Land und es ist echt ein weiter Weg. Aber ich bin schwul und bin von der Sozialversicherung abhängig. Bei dem, was gerade in diesem Land passiert, habe ich keine Wahl mehr, als zu protestieren“, erzählt der knapp 60 Jahre alte Veteran Skip. Er ist mit seinem Kumpel Ron angereist. Die beiden sind sichtlich euphorisiert vom Protest. Die Zerschlagung der ohnehin schon prekären öffentlichen Daseinsvorsorge bereitet ihnen ernsthafte Sorgen.Wie ihnen geht es vielen bei den als Tesla-Takedown bezeichneten wöchentlich abgehaltenen Kundgebungen. „Hinter den Protesten stehen keine der großen linken Organisationen, auch wenn sich einige inzwischen eingeklinkt haben und unterstützen oder mobilisieren. Sie sind dezentral gewachsen. Es sind normale Menschen, die Elon Musk hassen und ihn für einen Nazi halten“, ordnet Elena Gormley, Sozialarbeiterin und Co-Vorsitzende der Demokratischen Sozialisten Amerikas (DSA) in Chicago das Geschehen ein. Einer dieser Menschen ist der Masseur Chris, der in Arbeitskleidung in seiner Mittagspause zum Protest erscheint und fleißig Flyer verteilt. Seine Motivation: „Wenn die Tesla-Aktie weiter an Wert verliert, entzieht das Musk die ökonomische Macht“.Placeholder image-1„Hey hey, ho ho, Elon Musk has got to go“ ist der Dauerbrenner unter den Sprechchören der rund 400 Menschen, die sich Samstagmittag um Punkt 12 Uhr auf der Kreuzung vor dem Tesla-Ausstellungsraum in Downtown Chicago versammelt haben. Viele haben selbstgebastelte Schilder dabei. Unter anderem werden darauf Elon Musk und Donald Trump als Nazis bezeichnet und ihre Abschiebung gefordert. Zahlreiche vorbeifahrende Autos hupen, was mit Jubel quittiert wird. Doch passiert ein Tesla die Kreuzung, ruft die Menge wie eingeschult „Verkauf dein Auto, verkauf dein Auto!“. „Wir sind das erste Mal hier. Wir leben auf dem Land und es ist echt ein weiter Weg. Aber ich bin schwul und bin von der Sozialversicherung abhängig. Bei dem, was gerade in diesem Land passiert, habe ich keine Wahl mehr, als zu protestieren“, erzählt der knapp 60 Jahre alte Veteran Skip. Er ist mit seinem Kumpel Ron angereist. Die beiden sind sichtlich euphorisiert vom Protest. Die Zerschlagung der sowieso schon prekären öffentlichen Daseinsvorsorge bereitet ihnen trotzdem ernsthafte Sorgen.Wie ihnen geht es vielen bei den als Tesla-Takedown bezeichneten wöchentlich abgehaltenen Kundgebungen. „Hinter den Protesten stehen keine der großen linken Organisationen, auch wenn sich einige inzwischen eingeklinkt haben und unterstützen oder mobilisieren. Sie sind dezentral gewachsen. Es sind normale Menschen, die Elon Musk hassen und ihn für einen Nazi halten“, ordnet Elena Gormley, Sozialarbeiterin und Co-Vorsitzende der Demokratischen Sozialisten Amerikas (DSA) in Chicago das Geschehen ein. Einer dieser Menschen ist der Masseur Chris, der in Arbeitskleidung in seiner Mittagspause zum Protest erscheint und fleißig Flyer verteilt. Seine Motivation: „Wenn die Tesla-Aktie weiter an Wert verliert, entzieht das Musk die ökonomische Macht“. Der Plan scheint aufzugehen. Laut Angaben der Organisator*innen wurden am Samstag, dem 29. März, Proteste an jedem einzelnen der 277 Tesla-Showrooms in den USA abgehalten. Global seien es mehr als 500 Aktionen gewesen. Seit Anfang Februar ist der Aktienkurs von Tesla von 416 US-Dollar auf 275 US-Dollar abgestürzt. Und am 29. März fällt der Kurs von 275 auf ein Rekordtief von 260 US-Dollar. Musk zeigt sich in einem Interview mit dem rechten Fox-Nachrichtennetzwerk stinksauer und dämonisiert die Bewegung als Terrorismus. Am selben Tag, keine 500 Meter vom Ausstellungsraum Teslas entfernt, versammeln sich um 13 Uhr rund 300 Menschen zu einer weiteren Demonstration. Auch diese richtet sich gegen die US-Regierung – und ihre Unterstützung für den mutmaßlichen Völkermord in Gaza. Außerdem wird der Gedenktag an die Enteignung des Landes palästinensischer Israelis 1976 begangen. Bis zum brüchigen Waffenstillstand am 19. Januar dieses Jahres fanden in Chicago wöchentliche Demonstrationen in Solidarität mit Palästina statt, diese wurden in der von Israel nur teilweise respektierten Waffenruhe pausiert. Da Israel seit dem 18. März jedoch die systematische Ermordung und Aushungerung der Bevölkerung Gazas vollumfänglich fortsetzt, sind bis auf Weiteres wieder regelmäßige Proteste angesetzt. Neben Chicago gilt das unter anderem auch für New York und San Francisco. Die Teilnehmenden hier sind durchschnittlich jünger, es nehmen wesentlich mehr Menschen of Colour und Schwarze Menschen teil, als bei den Protesten gegen Tesla. Viele tragen Kufiyah und haben Palästina-Flaggen dabei. Zwei Schtreimel-tragende Rabbiner nehmen selbstverständlich ihren angestammten Platz in der ersten Reihe des Demonstrationszuges ein. Die Chicago Coalition for Justice in Palestine hat aufgerufen und fordert ein Ende des Genozids und ein Waffenembargo für Israel. Mit Terrorismus-Vorwürfen, wie sie jüngst den Tesla Takedown-Organisator*innen begegnen, kennt man sich hier aus. Unter großem medialem Aufsehen wurde etwa Mahmoud Khalil, Palästinasolidarischer Aktivist und Student an der Columbia Universität, am 8. März verhaftet. Er sollte deportiert werden, doch der Bundesrichter Jesse Furman stoppte seine drohende Abschiebung in letzter Minute. Die Doktorandin Rumeysa Öztürk wurde am 25. März von maskierten Männern entführt, die sich, ohne sich zu identifizieren, als Polizisten ausgaben. Angeblich hätte sie die Hamas unterstützt. Neben diesen beiden besonders medienwirksamen Festnahmen wurden mindestens fünf weitere Menschen von der Migrationsbehörde trotz legalem Aufenthaltsstatus im Zusammenhang mit vorgeworfener Unterstützung palästinasolidarischer Proteste ihrer Freiheit beraubt: Alireza Doroudi, Yunseo Chung, Badar Khan Suri, Momodou Taal and Ranjani Srinivasan. Sowohl gegen die Verhaftung Khalils als auch Öztürk protestierten in mehreren Städten, mit Schwerpunkten in Boston und New York, insgesamt mehrere zehntausend Menschen. Auch auf der Demonstration in Chicago hat ein Teilnehmer eine große „Free Mahmoud“-Flagge mitgebracht. Laut Staatssekretär Marco Rubio stehen noch über 300 weiterer Student*innen und Doktorand*innen aufgrund palästinasolidarischer Äußerungen, der Teilnahme an Protesten und teils bloßer Verbindungen zu palästinasolidarischen Aktivist*innen auf Deportationslisten der Regierung. Von dieser Einschüchterung ist aber zumindest auf der Demonstration keine Spur zu sehen. „Der Faschismus lebt von unserer Angst, das dürfen wir nicht zulassen. Die Leidenschaft für die Freiheit ist es, die uns leiten muss“, heißt es dazu in einem Redebeitrag des Palästinensischem US-Community-Netzwerks: „Der Anstieg der Repression bedeutet, dass unsere Bewegung eine Gefahr für den Status Quo ist. Die Machthaber haben Angst. Die Menschen wachen auf und wehren sich – jeden Tag werden neue Revolutionäre geboren.“Doch auch wenn öffentlich Stärke demonstriert wird, trifft die Repression die Bewegung empfindlich, berichtet Elena von den DSA: „Viele migrantische Studierende, die auf ihr Visum angewiesen sind, sind sehr besorgt. Einige studentische Aktivist*innen treten deswegen einen Schritt zurück, was verständlich ist. Die Regierung schreckt inzwischen nicht einmal mehr vor öffentlichen Entführungen zurück.“Diese Verunsicherung versuche die Administration Trump gezielt herbeizuführen, so Asef Bayat, Soziologieprofessor und Protestforscher an der University of Illinois: „Solche Schock-Momente zu erzeugen, ist eine bewusste Strategie der Regierung. Bisher scheint das zu gelingen. Es gibt ein spürbares Gefühl der Angst. Die Opposition versucht herauszufinden, wie sie auf das derzeitige Klima der Unterdrückung reagieren soll.“ Asef Bayat forscht schwerpunktmäßig zu Autokratien, in denen der Unmut über das System aufgrund von realer oder befürchteter Repression oft unter der Oberfläche schlummert – doch dann „kann ein einziger Vorfall oder ein moralischer Schock eine Massenmobilisierung auslösen. Und die Missstände häufen sich.“Die Gefühle der Verunsicherung erfassen nicht alle gleichermaßen. Frank Chapman, der charismatische 82-jährige Vorsitzende der Nationalen Allianz gegen Rassistische und Politische Repression etwa, ist in kämpferischer Stimmung. Ob die Regierung Trumps eine abschreckende Wirkung auf linke Kräfte hätte? „Nicht, was uns angeht. Wir waren am Tag von Trumps Amtseinführung mit tausenden Menschen auf der Straße. Diejenigen, die schon seit Jahren keinen Plan haben, wie sie Trump bekämpfen sollten, hatten während und auch jetzt nach der Wahl keine Strategie. Sie sind nicht in der Lage, effektiven Widerstand zu leisten. Damit meine ich die Liberalen und die Führung der Demokratischen Partei.“ Elena von den DSA ist ähnlicher Ansicht: „Die Demokratische Partei und zahlreiche liberale Institutionen wurden von Trump überrumpelt. Sie hatten keine Ahnung, wie Trump wiedergewählt werden konnte und sie reagieren sollten. Auch deswegen gibt es jetzt selbstorganisierte Proteste wie die gegen Tesla. Die Menschen haben realisiert, dass keine der etablierten Organisationen sie retten wird.“ Den beiden bekennenden Sozialist*innen des linken Parteiflügels der Demokraten, Bernie Sanders und Alexandria Ocasio-Cortez (bekannt als AOC), gelingt es im Gegensatz zur Parteiführung seit der Wahl Trumps regelmäßig zehntausende Menschen zu mobilisieren. In Denver knackten sie am 21. März die Marke von 30.000. Sanders und AOC organisieren landesweit Kundgebungen unter dem Motto „Oligarchen bekämpfen“. Es scheint aber unwahrscheinlich, dass diese Mobilisierungserfolge die Demokratische Partei nach links schwenken werden, so Elena: „Die Demokratische Partei muss sich jetzt entscheiden, ob sie sich weiterentwickelt oder untergeht. Ich befürchte aber, sie haben sich für ihren Untergang entschieden. Sie scheinen fest entschlossen, auch weiterhin ihre Wähler*innen zu ignorieren. Sie haben schon während der Wahl durch ihre bedingungslose Unterstützung des Genozids in Gaza Unmengen Stimmen ihrer Stammwähler*innen verloren, auf die sie dringend angewiesen gewesen wären.“ Während die Demokraten es also kaum schaffen, den wachsenden Unmut zu kanalisieren, verzeichnen explizit linke Organisationen starken Zulauf. So auch die bundesweit organisierten Student*innen für eine Demokratische Gesellschaft (kurz: SDS). Der SDS ist eine der Organisationen, die bundesweit Proteste gegen Kürzungen an den Universitäten organisiert hat. Gio von der Chicagoer Ortsgruppe berichtet: „Es gibt unglaublich viele Menschen, die sich jetzt gerade unserer Bewegung anschließen. Das sind Menschen, zu denen wir vorher keinen Kontakt hatten; die nie in Bewegungen aktiv waren. Die Leute wachen auf. Die Verschiebung nach rechts und die Repression gegen die Palästina-Bewegung haben zwar schon vorher angefangen, unter Biden. Aber jetzt erleben die Menschen das Resultat davon: die Trump-Regierung. Das Gute daran ist: Der Feind des Volkes ist jetzt so klar sichtbar und eindeutig wie nie. Das bringt Menschen dazu, auf die Straße zu gehen und sich zu organisieren.“ Wie Gio berichtet auch Elena von massivem Zustrom in ihre Organisation. Dieser ist so groß, dass sie teilweise kaum mit Einführungsveranstaltungen hinterherkommen. „Wenn Menschen Angst haben, gehen sie in Organisationen“, ist ihre Erklärung. Das gilt nicht nur in linken Hochburgen wie Chicago, New York, Detroit oder Los Angeles: „Städte, die schon immer eine starke organisierte linke Präsenz hatten, sind auch jetzt wichtige Orte. Aber Tesla-Takedowns finden überall statt. Auch auf dem Land haben unsere Gruppen starken Zulauf. In zutiefst republikanischen Bezirken, etwa in Florida, werden Republikaner*innen konfrontiert und teilweise sogar in Stadtversammlungen ausgebuht. Immer mehr Menschen realisieren, dass die Politik Trumps einen Einfluss auf sie hat. Sie sind wütend.“Frank schließt sich dieser Analyse an. Er sieht es deswegen als die Aufgabe linker Kräfte den Widerstand gegen Trump zu organisieren: „Die Bundesbeamten protestieren jetzt schon. Bald wird es Widerstand gegen die Kürzungen im Gesundheitswesen geben. Trump hat seit seinem Amtsantritt 103 Verordnungen erlassen. Sie betreffen die Umwelt, das Sozial-, Gesundheits- und Bildungswesen, die LGBTQ-Community. Sie verbieten Black Studies und die Critical Race Theory. Sie sind ein direkter Angriff auf unsere Bewegungen. Der Widerstand dagegen nimmt sichtbar zu. Als Linke und Progressive Kräfte ist es unsere Aufgabe, ihn zu organisieren“.Wie viele anderen waren Ron und Skip vom Tesla Takedown in Chicago nach der Amtsübernahme Trumps zuerst orientierungslos, sind jetzt aber kampfbereit: „Wir US-Amerikaner*innen haben ein bisschen Zeit gebraucht, um uns zu orientieren. Aber jetzt ist der Moment gekommen, unsere faulen Ärsche hochzubekommen und in den Bewegungen mitzumischen. Und wir werden sehen, wie die Bewegungen größer und größer werden.“ Ron hat sich für die vielen anstehenden Proteste sogar ein Paar extra bequeme Schuhe zugelegt, erzählt er lächelnd, seine Protestschuhe. Auch Frank sieht in der Krise Licht: „Die Lage ist besonders schlecht und hoffnungsvoll zugleich. Aber ich bin 82 Jahre alt. Ich habe unter den Jim Crow Gesetzen gelebt. Ich habe gesehen, wie die Tyrannei in diesem Land aussieht. Ich habe Zeiten erlebt, in denen das Lynchen Schwarzer Menschen an der Tagesordnung war. Wir haben uns daraus gekämpft. Die Regierung Trump versucht jetzt, uns wieder in diese Epoche zu führen. Wir sind aber nicht willens, das zu akzeptieren. Wir kämpfen dagegen. Und so heftig die Angriffe gegen uns auch werden, wird unser Widerstand noch viel stärker sein“.Ein Bündnis, das diesen Kampf antritt, ist die Koalition gegen die Trump-Agenda, die sich gerade in Chicago formiert. Dem breiten Bündnis haben sich bereits über 90 Organisationen und Gruppen angeschlossen, darunter auch die Demokratischen Sozialist*innen mit Elena und der SDS, in dem Gio aktiv ist. „Und das Bündnis wird noch viel größer und viel schlagkräftiger werden, wir sind gerade erst am Anfang“, sichert Frank mit einem breiten Grinsen zu. Robin JaspertTürkei: Die Jugend will ihre Zukunft zurück Universitätsstudentin Merve Şimşek (Name aus Sicherheitsgründen geändert, Anm.d.Red.) steht am 22. März vor einer Polizeiabsperrung in Saraçhane, Istanbul. Hunderte Studierende verschiedener Universitäten protestieren gegen die Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu, der seit dem 19. März in Untersuchungshaft sitzt und zwischenzeitlich als Bürgermeister abgesetzt wurde. Als einige aus der Menge auf die Polizeisperre zugehen, sprühen Polizisten Merve aus nächster Nähe Tränengas ins Gesicht. Merve erinnert sich noch an die Wut und den Hass, den sie dabei in den Gesichtern der Polizisten gesehen hat – das war vor zehn Tagen. Wegen ihrer Bronchitis habe sie die Wirkung des Tränengases noch intensiver gespürt. An viel mehr kann sie sich nicht erinnern. Während sie gegen die Ohnmacht ankämpft, hört sie um sich herum Stimmen von Studierenden, die sie bis dahin nicht kannte. Sie waschen Merves Gesicht mit einem Mittel gegen Sodbrennen, das die Wirkung des Tränengases abmildern soll.Die Studierenden sind die treibende Kraft hinter den Protesten der vergangenen Wochen. İmamoğlus Partei, die sozialdemokratische Partei CHP, rief dazu auf, sich jede Nacht vor dem Gebäude der Istanbuler Stadtverwaltung in Saraçhane zu versammeln. Zudem verhängte der Gouverneur von Istanbul ein Versammlungs- und Demonstrationsverbot, was zu gewalttätigen Polizeieinsätzen und Verhaftungen von Menschen führte, die auf die Straße gingen.Während der landesweiten Proteste wurden bisher etwa 1.500 Menschen festgenommen und etwa 200 inhaftiert. Am letzten Tag des Ramadan, einem Samstag, nahmen nach Angaben der CHP rund 2,2 Millionen Menschen an einer Kundgebung in Maltepe auf der asiatischen Seite Istanbuls teil. Die Opposition kündigte eine Fortsetzung der Proteste nach den Feiertagen an.Placeholder image-2Gegenüber Freitag sagt die Studentin, sie habe lange auf diesen Moment gewartet: „Wir, die Generation Z, wurden immer kritisiert. Wir seien faul und unpolitisch. Aber wir wurden lange zum Schweigen gebracht, unterdrückt. Jetzt sehen wir, dass wir nur auf den richtigen Moment gewartet haben.“ Für Merve und ihre Freunde sind Präsident Recep Tayyip Erdoğan und die AKP die politische Partei, die sie von Geburt an als Regierende kennen. Ekrem İmamoğlu gilt vielen als jemand, der Erdoğans Herrschaft bei den Präsidentschaftswahlen 2028 beenden könnte. Mit den zahlreichen Ermittlungen und Klagen gegen İmamoğlu wurde seine Kandidatur blockiert, was unter den Studierenden große Unruhe auslöste. Die Verhaftung İmamoğlus mag der Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt, doch Merve sagt, das Problem gehe darüber hinaus. Sie und ihre Altersgenossen sehen keine Zukunft in der Türkei.Neben wirtschaftlichen Schwierigkeiten und der Jugendarbeitslosigkeit sieht sie ihre Freiheiten eingeschränkt: „Unser Geld hat keinen Wert, unsere Worte haben keinen Wert. Einige meiner Freunde können sich nicht einmal mehr ordentliche Lebensmittel leisten.“ Merve gibt zu, dass sie auf die Polizeigewalt, der sie ausgesetzt war, nicht vorbereitet war. Die Bilder der Gezi-Proteste von 2013 habe sie Jahre später im Internet gesehen. Ihr Unglück ist, dass die Regierung seit Gezi immer rücksichtsloser geworden ist, wenn es darum geht, Straßenproteste zu unterdrücken. Trotz aller Widrigkeiten sind Merve und ihre Freunde entschlossen, die Proteste fortzusetzen. Sie glauben, dass sie sich nach den Feiertagen besser organisieren können, wenn neue Vertreter die Verhafteten ersetzen.Merve sagt, ihre Familie sei stolz auf sie. Sie und ihre Freunde demonstrieren auch für diejenigen, die gegen die Regierung sind, aber Angst haben, auf die Straße zu gehen: Die Unterstützung ihrer Freunde, mit denen sie noch vor wenigen Tagen auf den Barrikaden stand und die jetzt im Gefängnis sitzen, motiviert sie: „Ein schreckliches Gefühl zu wissen, dass sogar Menschen, jünger als ich, im Gefängnis sitzen. Wir haben uns geschworen, nicht aufzuhören, bis wir unsere Zukunft zurückbekommen haben.“Ali ÇelikkanSerbien: Wie Helden werden sie empfangenAm Abend vor dem bisher größten Protest am 15. März herrscht in der Philosophischen Fakultät in Belgrad eine angespannte Ruhe. Das Gebäude ist seit Monaten besetzt, die Fensterscheiben sind überklebt mit Protestplakaten. Seit dem Morgen steht der Zugverkehr nach Belgrad still – offiziell wegen einer Bombendrohung, doch das glaubt hier niemand. Auch viele Busse, von Studenten organisiert, wurden gestrichen. Empfangen werden die Fußgänger und Fahrradfahrer von Zehntausenden am selben Abend unweit der Fakultät auf dem städtischen Hauptplatz Terazije – mit Applaus, Musik und rotem Teppich.Manche sind vier Tage lang in die Stadt marschiert. Die langen Märsche sind Teil der Strategie: sichtbar sein, auch in den umliegenden Dörfern, in denen nur regierungsnahe Sender laufen. Dort werden sie vielerorts wie Helden empfangen. Die Proteste in Serbien begannen im November, nachdem in Novi Sad das Bahnhofsvordach eingestürzt war und 16 Menschen starben. Ingenieur Zoran Djajić hatte vor dem zu schweren Dach gewarnt – und verlor seinen Job. Für ihn war der Einsturz kein Unfall, sondern „Mord“. Die Verantwortlichen seien gewarnt gewesen und hätten Menschenleben riskiert. Der Einsturz wurde zum Symbol eines Systems, das von Korruption und Inkompetenz geprägt ist. Präsident Aleksandar Vučić regiert Serbien autoritär, obwohl die Verfassung ein parlamentarisches System vorsieht. Das Parlament ist entmachtet, unabhängige Medien werden angegriffen und Oppositionelle kriminalisiert. Hunderttausende haben das Land verlassen. Es sind auch Proteste für ein Leben in Würde und Freiheit, ohne Serbien verlassen zu müssen.Ein zentraler Unterschied zu Protesten in anderen Ländern: Die Studierenden fordern nicht Vučićs Rücktritt. Nicht, weil sie ihn behalten wollen, sondern weil sie seine Autorität nicht anerkennen. Ihr Motto: „Er ist nicht zuständig.“ In ihren Plena fordern die Studierenden nicht nur Aufklärung, sondern die Rückkehr zum Rechtsstaat, der Verfassung und unabhängigen Institutionen – kein bloßer Regierungswechsel, sondern ein Systemwandel.Placeholder image-3Was zeichnet die Proteste aus? Ihre enorme Vielfalt: Bauern blockieren mit ihren Traktoren Straßen, Menschen aller Berufs- und Bildungsschichten solidarisieren sich. Auch Minderheiten sind präsent – etwa mit der Flagge der Roma oder den nationalen Symbolen der Bosniaken. Protestiert wird nicht nur in Großstädten, sondern auch in Dörfern. Die Studierendenproteste haben sich zu einem Volksaufstand ausgeweitet, kreativ, gewaltfrei und sich bewusst dem autoritären Jargon entziehend– mit Memes, ironischen Slogans und einer eigenen Sprache. Die Studierenden gehen nicht auf die Lügen regierungsnaher Medien ein und bauen ihre eigene Erzählung auf. Die Reaktionen des Systems Vučić wirken verzweifelt.Trotz aller Drohungen und Maßnahmen kann das System Vučić nicht verhindern, dass am 15. März die größten Proteste in der jüngeren Geschichte Serbiens stattfanden. Laut dem Archiv der öffentlichen Versammlungen waren es rund 300.000, die Demonstrierenden sprechen von deutlich höheren Zahlen. Angegriffen wurden die friedlichen Proteste sehr wahrscheinlich durch den Einsatz von Schallkanonen während der Schweigeminuten für die Opfer von Novi Sad. Es kam zu einer Massenpanik, und die Studierenden entschieden, den Protest für diesen Tag zu beenden. Der Einsatz solcher Technik ist in Serbien illegal.Vučić hat viele Förderer. In Moskau und Peking wie auch in Berlin, Brüssel und Paris. Olaf Scholz besuchte im Juli Belgrad und Vučić wiederum Scholz im Dezember in Deutschland. Öffentlich hat Scholz kein kritisches Wort zu Vučićs autoritärem Führungsstil verloren – wohl auch, weil er für die deutsche Autoindustrie gerne das Lithium aus serbischen Böden hätte. Im Gegensatz zu anderen Protestbewegungen in Osteuropa sind keine EU-Flaggen zu sehen – wenig verwunderlich, die EU stellt sich nicht hinter die Proteste für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.Krsto Lazarević Israel: Gegen Bibi, Korruption und Krieg Wimmelnde Menschenmassen, wogende blau-weiße Israel-Flaggen – dazwischen Banner in schreiendem Gelb, in Israel die Farbe für Solidarität mit den Geiseln. Verschiedene Interessensgruppen füllen die breiten Straßen Tel Avivs. „There’s blood on your hands“ (Du hast Blut an deinen Händen) steht auf einem Schild, das Benjamin Netanjahus Konterfei zeigt. Ein Vorwurf, die Geiseln im Stich gelassen zu haben. Ein Mann, in die Israelfahne gewickelt, sagt, dies sei nicht mehr sein Land.Aus vielen Gründen und mit verschiedensten Hintergründen demonstrierten am 22. März 200.000 Israelis gegen ihren Ministerpräsidenten. Der Strom mündet in eine Kreuzung; im Grunde hat alles miteinander zu tun, aber was war zuerst da: Korruptionsskandal oder Justizreform?Im März 2023 gingen noch doppelt so viele Menschen auf die Straße. Netanjahu (genannt „Bibi“) hatte die Autorität der Generalstaatsanwaltschaft beschnitten, die in Israel ein Veto gegen rechtswidrige Regierungsentscheidungen einlegen kann. Die Opposition unterstellte persönliche Motive, denn Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara macht Bibi in dessen Korruptionsprozess zu schaffen. Nach dem 7. Oktober verschob man die „Reform“ auf die Zeit nach dem Krieg. Der aber brachte neue Machtkämpfe in Sachen Gesetzesänderung mit sich.Im Juli 2024 protestierten Tausende chassidische Gläubige gegen die Wehrpflicht, von der sie bisher befreit waren. Vergebens! Eine Entscheidung der Generalstaatsanwältin, die man aber Netanjahu anlastete. Ein ganz neuer Demo-Look war das schwarz-weiße Meer dunkler Mäntel und Hüte und weißer Hemden, ohne Flaggen. Es protestierten Orthodoxe. Nicht zu verwechseln mit den ultraorthodoxen Siedlern, die an Gazas Grenzen auf die Hilfsgütertrucks losgingen. Damit kein Brot für die Hamas nach Gaza gelange. Natürlich ist der Krieg selbst Gegenstand des Protests. Vor allem die „Bring Them Home“-Bewegung etablierte sich als Form des Dauer-Protests. Ihre Proteste finden vor gigantischen Bildschirmen mit mahnenden Installationen statt. Ehrlicher Schmerz trifft auf multimediales Pathos.Erst nach den Demos, wenn die Synthesizer-Percussion, die „Achschaaaav!“-Rufe nach Waffenruhe („Jeeeetzt!“) verklungen sind, nimmt man Einzelstimmen wahr. Ein einsames „Palestine Life matters too“-Schild fällt ins Auge oder die Zeltmahnwache im Park nebenan. Oder das mit vielen Anschuldigungen beschriebene Transparent eines Yom-Kippur-Kriegsveteranen, der Netanjahu die Schuld an allem gibt.Placeholder image-4Die Proteste gegen den Krieg solidarisieren sich nicht automatisch mit Gazas Zivilbevölkerung. Es geht um die Geiseln. Die Bewegung „Bring Them Home“ verzettelt sich nicht in komplexen Details von Lösungsvorschlägen, sondern setzt auf den kleinsten gemeinsamen Nenner: Verhandeln um jeden Preis, egal wie hoch. Die Frage nach dem „Und dann?“ bleibt offen.Die Zahl der Demonstranten nahm in den letzten Monaten zwischenzeitlich ab. Bibi geht – bereits unter Druck durch die Marschbefehle seiner ultra-rechten Koalitionspartner, den Krieg, den Korruptionsprozess – erneut an die Grenzen der Demokratie. Wöchentlich steht er vor Gericht, zurück im Amt schlägt er dann in eigener Sache um sich: Mit der Entlassung des Geheimdienstchefs etwa untergräbt er dessen Untersuchungen, nämlich der Rolle, die die Regierung am 7. Oktober spielte. Ein weiteres Beispiel für Amtsanmaßung fand die bereits erwähnte Staatsanwältin und legte Veto ein. Jetzt soll sie selbst entlassen werden. Im März 2023 hatte die Kontroverse um die Justizreform die Gesellschaft gespalten. Zwei Jahre und ein (nicht endender) Krieg später sind erneut Hunderttausende auf der Straße, die ihr Land auf der Kippe zur Autokratie sehen.„Es ist ein starkes Gefühl hier mit Gleichgesinnten in der Menge“, sagt eine Demonstrantin. „Aber wir sind immer noch eine Minderheit.“ An Veränderung glaubt sie nicht. Am nächsten Tag sei es, als wäre nichts geschehen. Ein Gefühl von Ohnmacht, denn die Regierung mache, was sie wolle. „Aber es ist das Einzige, was wir tun können.“Miriam Sachs