Massenprodukte müssen schön sein, fand der Vater des Industriedesigns – der mehr konnte, als Esche eine Villa zu bauen: Die erste Schau der Kunstsammlungen Chemnitz zum Kulturhauptstadt-Jahr zeigt es.
Chemnitz.
Henry van de Velde? Wäre der Mann Popkultur, könnte man ihn mit dem Phänomen der „Lieblingsband deiner Lieblingsband“ beschreiben. Dahinter verbergen sich Künstler, die zwar viele Stars beeinflusst haben und von diesen entsprechend verehrt werden – es selbst aber nie in die Top Ten geschafft haben und, weil ihre Namen vor allem von Insidern exklusiv herumgeflüstert werden, auch irgendwie als elitär-egal gelten. Van de Wer?
Die neue Ausstellung „Reform of Life & Henry van de Velde mittendrin“ der Kunstsammlungen Chemnitz ist daher in mehrerer Hinsicht ein bemerkenswertes Wagnis – das dann vor allem deswegen großartig aufgeht, weil man die popkulturelle, also massentaugliche Wirkung des Mannes in seiner Zeit und darüber hinaus ausgesprochen gut herausstellt.
Klar, leicht und sehr inspirierend: Die Schau fasst die „Scharnierwirkung“ des visionären Früh-Netzwerkers van de Velde zwischen Kunsthandwerk und Industriedesign, zwischen Jugendstil und Bauhaus so griffig wie faszinierend zusammen. Kuratorin Anika Reineke hat den Daumen derart drauf, dass man beim Betrachten meint, den „missing link“ zwischen Biedermeier und I-Phone auszumachen.
Was so weit gar nicht hergeholt ist: Der 1863 geborene van de Velde wuchs immerhin im damals herrschenden bürgerlich-kitschigem „Sissi“-Historismus auf und entwickelte dort seine Ideen, die letztlich über das Bauhaus bis in die Hochschule der Gestaltung Ulm reichten – deren Gründung erlebte er 1953 noch. Aus dieser Wiege des modernen Industriedesigns entsprangen dann Grundsätze und Herangehensweisen, die sich nicht zuletzt in der legendären deutschen Agentur „Frog-Design“ wiederfinden, die dann ihrerseits für Sony (Walkman) und besonders Apple Benchmarks in Sachen Gestaltungsphilosophie setzte.
Den Auftakt macht in der Chemnitzer Ausstellung aber ein Reformkleid mit Jugendstilapplikationen: Im weit geschnittenen „Hippie-Look“ befreiten diese Kleidungsstücke Frauen des 19. Jahrhunderts erstmals aus den Korsetten und ermöglichten erstmal freie Bewegung. Das neue Körpergefühl folgte.
Hier nahm die Idee des gebürtigen Belgiers, der mit seinen frühen Malereiversuchen unzufrieden war und sich stattdessen an Textilkunst und Stickerei versuchte, ihren Anfang: Kunst, so fand er, müsse mit Alltagsgegenständen verschmolzen werden.
Wie er damit zu einem wesentlichen Vertreter des Jugendstil wurde, zeigt die Schau leichtfüßig: Flankiert von zeitgenössischen Tapeten und Stoffen aus dem reichhaltigen Bestand der Kunstsammlungen, die die lichten Ausstellungsräume ins passende Flair tauchen, ohne Kulisse zu werden, zeigt „Reform of Life“ die Wandlung zu Architektur – und Möbelbau.

Werkstatt ohne Quatsch: Putzschwamm á la Henry van de Velde! Foto: Tim Hofmann Bild: Tim Hofmann

Werkstatt ohne Quatsch: Putzschwamm á la Henry van de Velde! Foto: Tim Hofmann Bild: Tim Hofmann
Wobei van de Velde oft scheitern musste, denn was heute so selbstverständlich tönt, war seinerzeit irgendwas zwischen absurd und skandalös: Warum zur Hölle sollten Schreiner denn herkömmliche Tischen und Stühle „gestalten“? Kunst und Alltag waren streng getrennt, man beachte die Karikaturen!
Der Gestalter versuchte es zuerst mit einer eigenen Firma – deren Produkte für ihren Zweck aufgrund der aufwändigen Fertigung viel zu teuer waren. Es folgte die Idee vom „Werkbund“, der als Gesellschaft dafür sorgen sollte, dass Kunst, Handwerk und vor allem die aufkommende Industrie zusammenfinden sollten. Eine Geschichte für sich.
Im nächsten Schritt gründete van der Velde in Weimar eine eigene Kunstgewerbeschule. Die Idee: Er wollte Herstellern qualitativ hochwertige Entwürfe quasi „unterjubeln“, um so deren Produkte zu verbessern. Auf dieser Schule basierte später das Bauhaus, dessen offizieller Gründer Walter Gropius ein Meister darin war, gute Ideen und Methoden anderer unter seinem Namen zum Fliegen zu bringen.
Um das frisch in unsere Zeit zu übersetzen, bedient sich die Ausstellung einiger schöner Kniffe. Erstens: Mut zur Lücke. Die Biografie van de Veldes wird de facto nicht thematisiert – stattdessen erzählt „Reform of Life“ vor allem von besagter Scharnierwirkung. Damit wird auch die Villa Esche, sein Chemnitzer Meisterwerk, dass man im Zusammenhang sich wunderbar nochmal geben kann, zur angemessen großen Randnotiz. Die Schau setzt damit zwar immer mal etwas Wissen voraus, ist dabei aber trotzdem so stringent und vor allem spannend aufgebaut, dass man das eher als Anregung wahrnimmt.
Zweitens: Andeutungen als Gedankensprungbretter. Viele der spektakulären Netzwerk-Verbindungen Henry van de Veldes werden nur rudimentär gezeigt, das aber enorm anregend. Wie war das nochmal mit der „Fehde“ mit Hermann Muthesius, seinerseits ebenfalls Design-Ikone und Werkbund-Mitbegründer? Warum kam Edvard Munch nur wegen van de Velde nach Chemnitz? Und warum hatte Gropius das Team-Up in Weimar bitter nötig? Da knistern die Synapsen.
Drittens: Nur an einer Stelle gibt es in der stringent an van de Veldes „Vier Tempeln“ erzählten Schau einen Schlenker – doch der sitzt! Zum Bauhaus-Link der „Werkstatt-Idee“ gibt es in einem Nebenraum Mitmachtische, an denen man Techniken wie Weben, Stempeln und Prägen ausprobieren kann – die man an dem Punkt direkt im Kopf hat. Derlei Interaktion ist modern – hier wird sie aber ausnahmsweise nicht dafür zelebriert, sondern das Anfassen funktionieren als „Bauhaus“ der Schau. Und: Man erzeugt keinen symbolischen Quatsch, sondern stellt unter anderem aus alten Socken einen Putzschwamm her, der gut aussieht. Henry wäre happy!
Viertens: Die Ausstellung ist nie marktschreierisch oder manieriert, aber trotzdem tiefsinnig, sinnlich und elegant. Das spiegelt sich auch im feinen Begleitheft, von dem es erstmals eine gelungene Version in einfacher Sprache gibt. Kurz: Genauso geht modernes Museum im Jahr 2025 – da kann die Kulturhauptstadt kommen.
Die Ausstellung „Reform of Life & Henry van de Velde mittendrin“ ist am Samstag, dem 23. November bis 2. März 2025 in den Kunstsammlungen Chemnitz zu sehen.

Anika Reineke, Kunsthistorikerin und Kuratorin der Kunstsammlungen Chemnitz, steht im Speisezimmer im Henry van de Velde-Museum in der Jugendstilvilla Esche in Chemnitz. Foto: Hendrik Schmidt/dpa Bild: Hendrik Schmidt/dpa

Anika Reineke, Kunsthistorikerin und Kuratorin der Kunstsammlungen Chemnitz, steht im Speisezimmer im Henry van de Velde-Museum in der Jugendstilvilla Esche in Chemnitz. Foto: Hendrik Schmidt/dpa Bild: Hendrik Schmidt/dpa