Ist ADHS eine Modeerscheinung? Zumindest wenn man in den sozialen Netzwerken unterwegs ist, könnte frau es fast glauben. Gibt es doch auffällig viele Postings, die sich mit unter den Hashtags #ADHS und #ADHD mit den verschiedenen Symptomen und Ausformungen beschäftigen. Fest steht aber, dass es diese Entwicklungsstörung gibt und sie in der Psychiatrie auch diagnostiziert wird. Sie betrifft rund fünf Prozent der Kinder in Deutschland und wird bei Jungs etwa dreimal häufiger diagnostiziert als bei Mädchen. Zwei bis vier Prozent aller Erwachsenen sind betroffen. Zum weiblichen ADHS will die Freiburger Arbeitsgruppe AD(H)S – bestehend aus Psychiaterinnen und Psychotherapeutinnen – in ihrem frisch erschienen Buch Die Welt der Frauen und Mädche

Ist ADHS eine Modeerscheinung? Zumindest wenn man in den sozialen Netzwerken unterwegs ist, könnte frau es fast glauben. Gibt es doch auffällig viele Postings, die sich mit unter den Hashtags #ADHS und #ADHD mit den verschiedenen Symptomen und Ausformungen beschäftigen. Fest steht aber, dass es diese Entwicklungsstörung gibt und sie in der Psychiatrie auch diagnostiziert wird. Sie betrifft rund fünf Prozent der Kinder in Deutschland und wird bei Jungs etwa dreimal häufiger diagnostiziert als bei Mädchen. Zwei bis vier Prozent aller Erwachsenen sind betroffen. Zum weiblichen ADHS will die Freiburger Arbeitsgruppe AD(H)S – bestehend aus Psychiaterinnen und Psychotherapeutinnen – in ihrem frisch erschienen Buch Die Welt der Frauen und Mädchen mit AD(H)S, schwungvoll und kurzweilig aufklären. Die Autorinnen haben die Fragen zusammen beantwortet und wollten im Interview als Arbeitsgruppe AD(H)S bezeichnet werden.

der Freitag: Was hat Sie dazu veranlasst, ein Buch über ADHS bei Frauen und Mädchen zu schreiben?

Arbeitsgruppe AD(H)S: Es gibt noch viel zu wenig Literatur über Frauen mit AD(H)S. Wir machen im klinischen Alltag sehr häufig die Erfahrung, dass die Diagnose erst spät gestellt wird, weil die Besonderheiten bei Frauen nicht bekannt sind – und oft und lange übersehen werden. Die fehlende Diagnose kann weitreichende Folgen haben: jahrelanges Leiden, Selbstwertprobleme und Erkrankungen gehören dazu.

Sie schreiben die Abkürzung ADHS mit dem großen H in Klammern, also AD(H)S. Warum?

ADHS bedeutet „Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung“, bei der ADS fehlt die motorische Unruhe, also die Hyperaktivität. Es gibt also neben dem „Zappelphilipp“ als Prägnanztyp auch den „Hans-guck-in-die-Luft“ oder das „Träumerle“. Bei Frauen findet sich häufig der Träumertyp. Diese Konstrukte lassen sich jedoch gar nicht so gut trennen, wie diese namentliche Trennung suggeriert. Es entsteht immer wieder Irritation durch die Unterscheidung von ADHS und ADS im Sprachgebrauch. Wir möchten, dass sich beide Subtypen angesprochen fühlen.

Klingt logisch, dann nehme ich das auf. Wie wird denn AD(H)S diagnostiziert?

Eine AD(H)S kann nicht wie eine körperliche Erkrankung beispielsweise durch eine Blutuntersuchung nachgewiesen werden. Es werden mehrere Informationen zusammengetragen, die ergeben dann im Gesamtbild die Diagno-se. Dies kann im Gespräch anhand von Beispielen aus dem Alltag erfragt werden. Häufig werden auch Fragebögen eingesetzt. Auch sollte sowohl bei Kindern und Jugendlichen als auch bei Erwachsenen das Umfeld befragt werden, auch nach den Schulzeugnissen gefragt werden, da die Lehrer*innen Aussagen zu Konzentrationsfähigkeit und Arbeitsverhalten usw. treffen.

Warum ist es denn so schwer für weiblich gelesene Menschen, eine Diagnose zu erhalten?

Die Anmeldung zu einer AD(H)S-Diagnostik erfordert ein gewisses Organisationstalent, was ja wiederum besonders auf Menschen mit AD(H)S überfordernd oder abschreckend wirken kann. Die Nachfrage ist gewaltig, die Wartezeiten lang, man muss oft mehrere Anlaufstellen kontaktieren, medizinische Unterlagen und Schulzeugnisse zusammensuchen, oft mehrere Termine vereinbaren und dort pünktlich erscheinen. Gleichzeitig bieten nur wenige spezialisierte Stellen die Diagnostik an. Manche Betroffenen berichten auch von negativen Erfahrungen, zum Beispiel dass die AD(H)S als „Modediagnose“ abgetan wird oder Fachleute behaupten, es gebe sie gar nicht. Wichtig ist, sich davon nicht – oder so wenig wie möglich – verunsichern zu lassen.

Warum werden immer noch viel weniger Mädchen und Frauen mit AD(H)S diagnostiziert?

Die aktuellen AD(H)S-Diagnosekriterien beschreiben gut das Verhalten von hyperaktiven Jungen, die „über Tische und Bänke gehen“. Mädchen mit AD(H)S sind aber oft ruhiger und verträumter, was in den Diagnosekriterien nicht berücksichtigt wird. Sie empfinden großen Druck, sich an die Erwartungen von außen anzupassen. Symptome wie Unruhe werden daher häufiger nach innen gerichtet als offen ausgelebt. Ab der Pubertät führen hormonelle Schwankungen bei Frauen zu stärkeren Schwankungen der AD(H)S-Symptome, was die Diagnosestellung zusätzlich erschwert. Von Frauen und Mädchen wird noch immer ein anderes Verhalten erwartet als von Jungen und Männern. Oft wird nicht an eine Störung gedacht, sondern an fehlende Motivation oder Willenskraft.

Ein Aspekt, der mir in Ihrem Buch gefehlt hat, ist die intersektionale Betrachtung: Wenn Frauen und Mädchen weitaus

geringer diagnostiziert werden, wie ist es dann für queere Menschen oder für Frauen mit Migrationsgeschichte?

Wir müssen zugeben, dass wir aktuell kaum strukturierte Erkenntnisse über diese Bereiche haben. Eine sehr aktuelle Metaanalyse vom Juni kommt zu dem Ergebnis, dass die Studienlage aktuell nicht ausreichend ist, um das Zusammenspiel von Migration und AD(H)S-Symptomatik klar abzubilden. Ähnlich verhält es sich mit queeren Menschen.

Aber auch queere Menschen oder Migrant*innen kommen doch zur Diagnostik?

Beide Konstellationen begegnen uns natürlich regelmäßig im klinischen Alltag. Verschiedene Faktoren tragen hier dazu bei, die Lage für diese Menschen noch einmal zu verkomplizieren.

Inwiefern?

Frauen mit spät diagnostizierter AD(H)S wie auch queere Menschen und Frauen mit Migrationsgeschichte haben ein Risiko, sich mit ihrer eigenen Identität unsicherer zu fühlen und sich bei vielen Aspekten als anders zu erleben. Das ist dann oft nicht leicht voneinander zu unterscheiden. Bei den Diagnosen werden diese Besonderheiten aber nicht abgebildet.

Welche zusätzlichen Möglichkeiten gibt es dann für Sie im Praxisalltag, die Aufmerksamkeitsstörung bei diesen Gruppen zu sehen?

Wir arbeiten mit den gleichen Diagnosekriterien für alle – weil es die einzigen sind, die es derzeit gibt. Nicht nur die Aufmerksamkeit schwankt bei den betroffenen Personen, sondern auch Variablen wie Antrieb, Motivation und vor allem die Stimmung. Die sogenannte emotionale Dysregulation sollte ergänzend zu den derzeitigen drei Kernsymptomen als Diagnosekriterium aufgenommen werden.

Sie schreiben auch, dass nicht ganz klar ist, wie sich Hormone auf die AD(H)S auswirken. Was bedeutet das für den Alltag der Mädchen und Frauen?

Die hormonellen Schwankungen führen dazu, dass die ohnehin durch Stimmungswechsel gekennzeichnete AD(H)S-Symptomatik zusätzlichen monatlichen Schwankungen unterliegt. Es kann sein, dass die Betroffenen sich selbst noch weniger verstehen und die eigene Leistungsfähigkeit als noch unzuverlässiger erleben.

Gibt es eine Lebensphase, die sich für Frauen mit AD(H)S besonders schwierig gestaltet?

Jede neue Lebensphase bringt Veränderungen und Herausforderungen mit sich. Situationen, in denen von außen vorgegebene Strukturen wie die Schule oder das Elternhaus wegfallen, können Schwierigkeiten erzeugen. Genauso kann es sein, dass Probleme auftreten, wenn neue Anforderungen an die Betreffenden herangetragen werden, wie ein Schulwechsel. Zudem wird es schwierig, wenn die Kompensationsstrategie nicht mehr ausreicht – etwa wenn Kinder kommen – und dann die hart erarbeiteten Bewältigungsstrategien nicht mehr greifen.

Neben all der Erschwernis, die Sie beschreiben, sind AD(H)S-Betroffene laut Ihrem Buch auch „starke Träumerinnen und Stehauffrauen“. Was sind die Mindeststärken einer AD(H)S?

Sie denken vernetzt und flexibel, sind ideenreich und fantasie voll. Häufig haben sie viel Energie und sind unternehmungslustig. So manche Party profitiert von ihnen. Es ist aber wichtig, dass sie eine für sich passende Nische finden, damit sie ihre Ressourcen gut nutzen können. Sie können begeistern, humorvoll und mitreißend sein. Und sind offen für Neues. Wenn aber der Chef viel Wert auf Pünktlichkeit und Struktur legt, ist die Kündigung vielleicht schon ausgesprochen, bevor die erste große Idee erklärt werden kann.

Müssen Medikamente sein?

Zur Behandlung der AD(H)S empfiehlt sich eine Kombination aus verschiedenen Angeboten: Methylphenidat ist nach derzeitiger Studienlage der Wirkstoff der ersten Wahl zur medikamentösen Behandlung. Es erwiesen sich aber auch andere Medikamente als hilfreich. Meditation oder Ernährungskonzepte sind noch Gegenstand der Forschung – es gibt jedoch keine Studie, die belegt, dass Homöopathie wirksam ist.

Was raten Sie weiblich gelesenen Menschen, wenn sie AD(H)S bei sich vermuten?

Sie können sich an Psychologische Psychotherapeut*innen und Fachärzt*innen für Psychiatrie wenden. Es ist momentan sehr schwierig, entsprechende Behandlungsplätze zu finden, sodass es zu längeren Wartezeiten kommt. Das ist natürlich schwer auszuhalten für Menschen mit potenzieller AD(H)S, aber es kann sich lohnen.

Die Freiburger Arbeitsgruppe AD(H)S besteht aus: Ismene Ditrich, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Christine Carl, Psychologische Psychotherapeutin, Swantje Matthies, Pychiatrie-Oberärztin an der Uniklinik Freiburg und Leiterin der Spezialsprechstunde AD(H)S, und Christa Koentges, Stationspsychologin an der Uniklinik Freiburg

Das Buch Die Welt der Frauen und Mädchen mit AD(H)S ist 2022 im Beltz Verlag erschienen, hat 240 Seiten und kostet 20 Euro

Das Gespräch führte Ebru Taşdemir



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Von Veritatis

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