Musikgeschichte.

Mit spektakulären Zuschreibungen ist der Musikjournalismus ja häufig schnell bei der Hand, doch wer Profi- wie Amateurchoristen als unangefochtener Hausgott gilt, sollte selbst dem kulturfernsten allgemeingebildeten Schüler etwas sagen: Heinrich Schütz wurde schon zu Lebzeiten als „bester Komponist in diesen Lande“, gar als „Urvater der deutschen Musik“ bezeichnet, auch wenn seine Werke danach fast zwei Jahrhunderte lang vergessen schienen. Unbestritten war er der erste Komponist, der auf deutschem Boden Musik schuf, die nicht nur Hof und Klerus nützlich oder gefällig war, sondern für sich selbst stand. Dass Schütz sie auch drucken ließ, zeugt von seinem Selbstbewusstsein im besten Sinne des Wortes als eigenständiger Künstler.

1585 hineingeboren in eine wohlhabende thüringische Familie, wuchs der Köstritzer Gastwirtssohn im Erzgebirge um Chemnitz und später im damals kursächsischen Weißenfels auf, wo er sich später auch – bis zu seinem Ende im dazumal geradezu biblischen Alter von 87 Jahren – seinen Alterswohnsitz einrichtete. Seine Karriere verdankte er einem zufällig durchreisenden Hotelgast seines Vaters: Der hessische Landgraf Moritz holte den 13-Jährigen als Kapellknaben an seinen Hof in Kassel und bezahlte ihm nach dem Stimmbruch einen mehrjährigen Studienaufenthalt beim venezianischen Großmeister Giovanni Gabrieli. Bei ihm lernte Freund Schütz 1609 bis 1612 ausführlich die italienische Madrigaltechnik und Mehrchörigkeit – mehrere Chöre singen von verschiedenen Stellen des Raumes aus und umgeben so den Zuhörer förmlich mit Musik – kennen, die für seine Hauptwerke die wesentliche Inspiration gewesen sein dürften und zu ihrer Zeit in deutschen Landen beispiellos waren.

Gabrielis Nachfolger wurde trotzdem ein Italiener: Claudio Monteverdi. Also kehrte der Thüringer nach Hessen zurück, wurde aber dem Landgrafen, der nicht nur seine Ausbildung, sondern auch die Studienreise brav finanziert hatte, wenig später vom sächsischen Kurfürsten Johann Georg ausgespannt, was zu ernsthaften diplomatischen Verwicklungen führte. Fortan durfte sich Heinrich Schütz Hofkapellmeister in Dresden nennen und legte hier den Großteil seines Schaffens nieder, von dem man annimmt, dass viel davon verschollen ist. Von der szenischen Komposition „Dafne“, die bei einer Festlichkeit auf dem Torgauer Schloss Hartenfels 1627 aufgeführt wurde und damit als erste deutsche Oper gilt, ist nur der Text erhalten. In den Ruhestand gehen durfte der Hofmusikus allerdings erst 1657 mit 72 Jahren, als sein gestrenger Dienstherr gestorben war und schließlich erst dessen Sohn ein gnädiges Einsehen hatte.

Heinrich Schütz lebte also überwiegend im heutigen Mitteldeutschland, einer Gegend, die sich schon damals als kulturelles Zentrum des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation fühlen durfte und bis heute die Schütz-Pflege an vorderster Front mitbestimmt – sei es beim gleichnamigen Musikfest, bei den sächsischen Knabenchören, aber auch bei unzähligen kleinen Kantoreien, denen der „Sagittarius“, wie sich Schütz latinisiert nannte („Sagitta“ ist das altrömische Wort für „Pfeil“), eine Unmenge an Chorkompositionen hinterließ, die in der mehrfach preisgekrönten Gesamteinspielung des Dresdner Kammerchors unter Leitung von Hans-Christoph Rademann 28 CDs füllen und die teilweise auch gut für Laien machbar sind.

Schütz blieb also – abgesehen von seinen Aufenthalten in Venedig und mehrmaligen kurzen Gastengagements am dänischen Hof – einer unwirtlichen wie unfriedlichen Gegend treu. Einen großen Teil seiner Lebenszeit prägten bewaffnete Konflikten im eigenen Land. So erlebte Schütz den gesamten Dreißigjährigen Krieg hautnah als Zeit von Grausamkeit, Existenzängsten und kulturellem Niedergang: Seine Dresdner Hofkapelle wurde immer weiter zusammengespart, was von Schütz nicht zuletzt kompositorische Flexibilität forderte. Mehrere ergreifende Klagen sind in seinen Briefen, Vorworten und Kompositionen überliefert. Viele seiner Werke – allen voran die Psalmen Davids oder die Geistliche Chormusik 1648 – spiegeln ureigenen Erfahrungen in direkter Nachbarschaft von Seuchen, Tod und fürchterlichen Gräueltaten wider. In jener qualvollen Zeit war es aber vor allem Schütz, der trotz seiner Erlebnisse mit seiner Musik Hoffnung zu vermitteln vermochte – Höflingen wie einfachen Kirchgängern. Das ist umso erstaunlicher, als der trotz aller Berühmtheit sein ganzes Berufsleben lang abhängig Angestellte fast alle seine Familienangehörigen überlebte und vor 350 Jahren vereinsamt starb.

Gleichwohl verewigte er sich im deutschen kulturellen Gedächtnis mit einer Musik, die zwar die italienischen Errungenschaften des „konzertierenden Stils“ zitierte, aber einen ganz eigenen Weg der Textausdeutung fand und zugleich – mit der Verbindung von Madrigal- und Generalbasskonstruktion – einen Stil entwickelte, der die barocken Nachfolger melodisch wie harmonisch über Jahrzehnte hinaus prägen sollte. Dabei war es stets sein künstlerisches Anliegen, die Musik in den Dienst der wörtlichen Aussage zu stellen, den Sinn der Bibelübersetzung Luthers musikalisch auszulegen. Aus dieser Nähe zur Sprache, die den Bilder- und Affektreichtum seiner Musik prägt, entspringt eine Lebendigkeit, die sofort auf die Hörer überspringt.

Auch wenn Heinrich Schütz erst nach 200 Jahren von Franz Liszt und seinen Zeitgenossen wiederentdeckt wurde: Seitdem kommt erst recht keiner an ihm vorbei, bis heute. Und wer einmal den 119. Psalm – Schütz‘ letztes überliefertes Werk – gehört hat, den sogenannten „Schwanengesang“, weiß: Schöner kann man nicht sterben. Vor 350 Jahren, am 6. November des julianischen und 16. November 1672 des seit 1700 im protestantischen Sachsen geltenden gregorianischen Kalenders war es in Dresden so weit. Der „Sagittarius“ – er lebe hoch!  |mit tk

Am 26. November öffnet im Heinrich-Schütz-Haus Bad Köstritz eine Sonderausstellung „Erzgebirgische Weihnachtstraditionen“ unter der Fragestellung, welche davon Heinrich Schütz schon erlebt haben könnte. Sie ist bis Ende Januar 2023 dienstags bis freitags von 10, am Wochenende und an Feiertagen von 13 bis 17 Uhr geöffnet.  » heinrich-schuetz-haus.de

Den Chorzyklus „Schwanengesang“ von Heinrich Schütz hören Sie, wenn Sie diesem Link folgen: www.freiepresse.de/schuetz350



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Von Veritatis

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