Meinung Nicht nur die „Letzte Generation“ glaubt, dass im Kampf gegen den Klimawandel mehr Radikalität nötig ist. Aber wie viel brauchen wir wirklich?

Der Kapitalismus verursacht überall Krisen: Müssen wir radikaler werden?

Der Kapitalismus verursacht überall Krisen: Müssen wir radikaler werden?

Foto: Mikhaylovskiy/Adobe Stock, Collage: der Freitag

Pro

Brauchen wir den ökologischen Klassenkampf: Die Frage wird von einem Büchlein aufgeworfen, in dem man das politische Testament des jüngst verstorbenen Soziologen und Philosophen Bruno Latour sehen kann (Mitautor ist Nikolaj Schultz, ebenfalls Soziologe): Zur Entstehung einer ökologischen Klasse (Suhrkamp 2022). Die Autoren bedienen sich marxistischer Gedanken und Begriffe, um sie auf ökologische statt ökonomisch-soziale Auseinandersetzungen anzuwenden. So müsse die „ökologische Klasse“ im „Klassenkampf“ die gesellschaftliche „Hegemonie“ erlangen, um die Staatsmacht erobern zu können. Eine Klasse entstehe nicht naturwüchsig, sondern indem sie sich ein neues Begriffssystem, ja eine neue Kultur erschaffe

eue Kultur erschaffe und auf dieser Basis Freund und Feind neu definiere. Die ökologische Klasse, heute nur in zersplitterten Elementen vorhanden, stehe quer zu den marxistisch definierten Klassen, müsse und könne sich diese aber einverleiben. Inhaltlich geht es darum, die vorökologische Weltsicht zu überwinden, die sich um die Produktion dreht; in ihr wird Natur bloß als Ressourcenlager begriffen. Stattdessen müsse man „die Welt, in der man lebt, mit der zusammenbringen, von der man lebt“.Latour und Schultz haben recht, wir brauchen den ökologischen Klassenkampf. Die Analogie mit dem marxistischen Begriff geht freilich zu weit: Es stimmt zwar, dass sich auch die Arbeiter(innen)klasse erst zur Entstehung bringen musste, sie war aber als besonderes gesellschaftliches Segment in den Produktionsverhältnissen schon vorgezeichnet, bevor sie sich ihrer selbst bewusst wurde; sie war, um mit Marx zu sprechen, schon „Klasse an sich“, bevor sie „Klasse für sich“ wurde. Das eben kann von den Menschen, die sich um das ökologische Kampfziel sammeln, nicht gesagt werden, deshalb ist für sie der Begriff „Parteiung“ angemessener. Er ist auch nützlicher, da er die Frage aufwirft, wie sich die Ökologen und Ökologinnen zu den vorhandenen Parteien verhalten: Haben die Grünen nun ihr wahres Gesicht gezeigt, seit sie den Kern einer neuen Bundesregierung bilden, der es nicht einmal in der Frage der Energiequellen um die ökologisch besten Lösungen geht, vielmehr nur um Energiesicherheit, wie sie seit jeher von Nationalstaaten angestrebt werden musste und die mit Ökologie gar nichts zu tun hat? Ökologie ist die Frage des Lebensrechts der Lebewesen und nicht zuletzt des Menschen, der nur überleben kann, wenn er die Erde mit den anderen Lebewesen teilt. Um dieses Recht durchzusetzen, braucht es eine kämpfende Parteiung, und das sind offenbar nicht die Grünen.Sehr wohl aber geht es im ökologischen Kampf auch um die ökonomisch-sozialen Klassen im marxistischen Sinn. Für Deutschland etwa ist durch Zahlen nicht nur belegt, dass der Konsum der reichsten zehn Prozent fast so viel Emissionslast verursacht wie die ganze untere Hälfte der Gesellschaft, sondern auch, dass alle Schichten bereits ihr Verhalten ändern – bis auf das reichste eine Prozent. Hinter dessen Reichtum stehen kapitalistische Produktion und Ausbeutung. Wenn es nicht gelingt, die Menschen, die es bilden, zu überzeugen – die „Großbourgeoisie“ –, wird man sie nötigen müssen, im ökonomischen und zugleich ökologischen Klassenkampf. Latour/Schultz ist also zuzustimmen! Aber zugleich tritt ihre Schwäche hervor: Nach den Ausdrücken „Kapital“, „Kapitalismus“ sucht man in ihrem Buch vergebens. Sie kritisieren nicht die kapitalistische Produktionsweise, sondern „die Produktion“ – als könnte und sollte sie in einer ökologisch befreiten Gesellschaft zurückgedrängt werden. Nein, sie ist umzubauen. Um die Welt der vielen Lebewesen zu schützen, muss der ökologische Klassenkampf gerade die Produktion befreien, vom Kapitalismus nämlich.Michael JägerContraDer menschengemachte Klimawandel beschleunigt sich, daran besteht kein Zweifel. Mit ihm spitzen sich die Konflikte um den richtigen Umgang mit Ursachen, Mechanismen und Folgen der globalen Erwärmung zu. Aktivistische Gruppen beginnen, ihre Aktionen zu radikalisieren. Sind das die Vorboten eines ökologischen Bürgerkriegs? Steht uns so etwas wie ein Klassenkampf zwischen Klimaschützern und Zukunftsbewahrern auf der einen und reaktionären Klimagefährdern auf der anderen Seite bevor? Latour und Schultz fordern in ihrem Buch die Entstehung einer ökologischen Klasse, sie meinen, nur der ökologische Klassenkampf könne uns noch retten. Ich finde ihre Forderung nicht überzeugend.Wer in solchen Begriffen redet, müsste zunächst einmal zeigen, dass ein Klassenkampf je seine Ziele erreicht hätte, wenn es seit der Erfindung des Begriffs überhaupt etwas gegeben hat, was den Namen verdiente. Der von Marx und Engels beschworene Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie hat den Kapitalismus jedenfalls nicht beseitigt. Böse gedeutet könnte man ihm die Entstehung der kommunistischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts zuschreiben, wohlmeinend gedacht hat er zur Entstehung des modernen Wohlstandskapitalismus beigetragen – letztlich also genau des Systems, das von den erwachenden ökologischen Klassenkämpfern als Wurzel des Klimawandel-Übels identifiziert wird.Schon diese Widersprüchlichkeiten und Paradoxien sollten diejenigen vorsichtig machen, die von einer ökologischen Klasse träumen, die gegen die Feinde der Nachhaltigkeit und des Klimaschutzes in den Kampf ziehen soll. Die nächste Frage ist, wer denn zu dieser Klasse gehören soll und wer auf der anderen Seite steht. Die Marx’schen ökonomischen Klassen definierten sich aus ihrer Stellung zu den Produktionsverhältnissen heraus. Sind die Klimaklassenkämpfer die, die im ökologischen System auf der Seite der Bewahrung des bisherigen Klimas stehen? Wer wäre das? Selbst jene, die hierzulande ressourcenschonend, energiesparend und auf kleinem CO₂-Fuß leben, gehören im globalen Maßstab zu den größten Klimasündern. Wer von ihnen wäre bereit, seine Stellung im Klimasystem der einer Bäuerin im globalen Süden anzugleichen?Man könnte versuchen, den ökologischen Klassenkampf als einen neuen ökonomischen Klassenkampf zu deuten, bei dem es um den Umsturz des kapitalistischen Systems ginge, das – so eine inzwischen verbreitete Meinung – durch ein angeblich zwingendes Wachstum ebenso zwingend in die Klimakatastrophe hineinführt. Dann käme es nicht mehr darauf an, ob die einzelne Klassenkämpferin einen großen oder kleinen ökologischen Fußabdruck hat, sondern darauf, ob sie gegen das System kämpft oder es unterstützt. Auch für sie wäre allerdings der konsequente Ausstieg aus dem System der erste notwendige Schritt.Ob das Ziel dann aber sein kann, das System zu beseitigen, oder ob es nicht schlicht mächtige Impulse zur Transformation braucht, ist sehr fraglich. Der Zusammenbruch des derzeitigen globalen ökonomischen Systems wird nicht nur einige verkraftbare Wohlstandsverluste hierzulande, sondern katastrophale soziale Verwerfungen weltweit nach sich ziehen – gegen die die bevorstehenden Klimaschäden möglicherweise überschaubar ausfallen. Kriege und Migrationsströme entstehen nicht nur infolge des Klimawandels, sondern auch durch ökonomische Krisen aufgrund des Zusammenbruchs internationaler Wirtschaftsbeziehungen. Was der Kampf gegen den Klimawandel deshalb vor allem braucht, ist Kooperation, nicht die Definition von Freund und Feind im Klimakampf.Jörg Phil Friedrich



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Von Veritatis

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