Streaming Voyeurismus und Profitgier: Der Aufruhr um die Netflix-Serie über den Mörder Jeffrey Dahmer stellt das gesamte Genre „True Crime“ in Frage – zu recht?

Candy (Jessica Biel) ist eine ganz normale texanische Hausfrau – aber leider keine ganz normale Freundin

Candy (Jessica Biel) ist eine ganz normale texanische Hausfrau – aber leider keine ganz normale Freundin

Es ist ein bemerkenswert anmutiger, putziger Vorspann, mit dem die Miniserie Candy in ihre bedrückende Thematik einführt: Zu sehen ist eine durch einen Dominoeffekt bewegte Collage aus Haushaltsutensilien (ein Fleischwolf, ein Messbecher, ein Messer, eine Nähnadel), dazu hat Komponistin Ariel Marx eine bedächtige Klaviermelodie mit unheilvollen Streichern zu einer düsteren Verspieltheit kombiniert. Der aus dieser Titelsequenz strömende, magisch wirkende Suspense durchzieht die gesamte Erzählweise dieser Serie, die in fünf Folgen einen realen Kriminalfall von 1980 aufrollt: Am 13. Juni 1980 wurde die 30-jährige Lehrerin und zweifache Mutter Betty Gore in ihrem Haus in Wylie (Texas) mit 41 Axthieben getötet. Die Täterin, so stellte sich

tellte sich später heraus, war die gleichaltrige Candy Montgomery, eine gute Bekannte von Gore aus der Nachbarschaft.Kein Mangel an EnnuiGespielt wird Candy in dieser mit grauenhaften Perücken nicht geizenden Miniserie von Jessica Biel – als fröhliche, energiegeladene Hausfrau, Mutter und beliebtes Mitglied der christlichen Gemeinschaft von Wylie. Doch hinter der beschaulichen Fassade enthüllt die Miniserie auf irritierend augenzwinkernde Weise einen Abgrund, der sich aus sexlosen Ehen, nicht eingestandenem Ennui und unerfüllten Sehnsüchten generiert.Letzteren gibt Candy schließlich nach, als sie eine Affäre mit Allan (Pablo Schreiber) beginnt, dem Ehemann von Betty (Melanie Lynskey), die ohnehin schon mit einer fragilen Psyche zu kämpfen hat. Details der grausigen Tat, die Candy ein knappes Jahr später – nach eigener Aussage aus Notwehr – begehen wird, streut diese Serie in kurzen Sequenzen ein, wie um dem Publikum zu versichern, dass am Ende all dieser Einblicke in das texanische Hausfrauendasein der 1980er-Jahre noch ein spektakuläres Ereignis wartet.Die in Zeitkolorit getunkte Nonchalance, mit der Candy daherkommt, mutet auf den ersten Blick seltsam an, spiegelt zugleich aber womöglich das Stadium wider, in dem sich True-Crime-Produktionen heute befinden: Die massenwirksame Aufbereitung grauenvoller Morde und Mordserien ist in der gesellschaftlichen Mitte angekommen und benötigt eigentlich kaum noch Erklärungen für ihre Existenzberechtigung. Dafür sorgte zum einen der US-Podcast Serial von 2014, der die Tür zu unzähligen Hörproduktionen über unaufgeklärte oder einfach bloß erschreckende Mordfälle öffnete. Und mit der aufsehenerregenden Doku-Serie Making a Murderer (2015) weihte Netflix das True-Crime-Genre in die Streamingwelt ein.Die Weisheit „Truth is stranger than fiction“ scheint zu erklären, weshalb Entscheider*innen in Hollywood zuhauf Projekte wie Candy durchwinken: Es gibt unzählige scheinbar unerklärliche reale Verbrechen, die das Publikum ob ihrer Unfassbarkeit einfach anziehen. Die Wirklichkeit, so führte Schriftsteller Mark Twain einst zu erwähnter Weisheit aus, müsse sich eben, anders als die Fiktion, nicht an Wahrscheinlichkeiten halten. Tut die Fiktion es ihr nach, zum Beispiel in Form einer Serie über eine unbescholtene Hausfrau, die am helllichten Tag ihre Nachbarin mit unzähligen Axthieben hinrichtet, müssten sich die Showrunner Feedback zu einem löchrigen Plot, fehlender Figurenmotivation und einem unlogischen Abschluss gefallen lassen. Aus all dem kann sich eine Miniserie wie Candy mit Verweis auf die öffentlich einsehbare Faktenlage zum Mordfall herausreden. Aus der Frage nach ethischer Bedenklichkeit hingegen nicht.Die RetraumatisierungDenn die unbekümmerte Herangehensweise von Showrunner Nick Antosca und Robin Veith an das eigentlich schon vergessene reale Verbrechen im Zentrum von Candy wirkt nach dem Aufruhr um die Netflix-Serie Dahmer – Monster: Die Geschichte von Jeffrey Dahmer um einiges unsensibler. Letztere befasst sich mit dem berüchtigten Serienmörder Jeffrey Dahmer, der von 1978 bis 1992 siebzehn Jungen und junge Männer ermordet, zerstückelt und zum Teil kannibalisiert hatte. In zehn Folgen erzählt Ryan Murphy (Glee, American Horror Story), einer der profiliertesten und produktivsten Showrunner der Gegenwart, gemeinsam mit Ian Brennan von Dahmers Werdegang sowie dem soziopolitischen Kontext, in dem seine vor allem an nicht-weißen Männern begangenen Morde so lange unentdeckt geblieben waren.Murphy schreckt in seinen Serien selten vor drastischen oder expliziten Darstellungen zurück; in Dahmer aber wirkt die Inszenierung von Dahmers brutalen Morden fast zurückhaltend. Überhaupt schien Murphy Fingerspitzengefühl beweisen zu wollen, indem er seine Serie nicht ausschließlich auf den Täter, sondern ebenso auf die Opfer und den Schmerz der Hinterbliebenen fokussierte. So taucht etwa die sechste Folge auf wirklich berührende Weise in die Lebenswelt des gehörlosen Models Tony Hughes (Rodney Burford) ab, eines der Opfer von Dahmer. Der Gerichtsprozess in der Serie stellt die 1994 im Fernsehen übertragenen Verhandlungen nach, samt Statements der von Trauer und Fassungslosigkeit gezeichneten Hinterbliebenen.Eingebetteter MedieninhaltDoch obgleich Murphy selbst betont, dass er mit seiner Serie endlich auch die Seite der Opfer und ihrer Angehörigen beleuchten wollte, schien er irritiert, als letztere sich dann tatsächlich zu Wort meldeten. „Ich schreibe niemandem vor, was er sich anschauen soll, ich weiß, dass True-Crime-Medien derzeit sehr angesagt sind, aber wenn ihr tatsächlich neugierig auf die Opfer seid, meine Familie (die Isbells) ist stinksauer auf diese Serie. Sie retraumatisiert immer wieder, und wofür? Wie viele Filme/Serien/Dokumentationen brauchen wir noch?“, twitterte am 22. September der User @ericthulhu, Angehöriger von Dahmers Opfer Errol Lindsey. Und entfachte eine öffentliche Diskussion über die interessante Frage, wie Netflix eine Serie wie Dahmer überhaupt ohne das Einverständnis der Hinterbliebenen und ohne Rücksichtnahme auf deren Befinden produzieren könne.Die rechtliche Antwort ist eindeutig: Öffentlich dokumentierte Verbrechen dürfen in den USA von der Unterhaltungsindustrie ohne Erlaubnis der Betroffenen verwertet werden. Und es gibt den wirtschaftlichen Aspekt: Das Erzählen über Verbrechen ist ungeheuer lukrativ. So schoss Dahmer nach dem Erscheinen im September in kürzester Zeit auf den ersten Rang der Netflix-Titel und sorgte für wesentlichen Zuwachs bei den Abonnementzahlen des zuletzt krisengeschüttelten Streamers.Trotzdem wäre es auch ungerecht, Dahmer als von reiner Profitgier getriebene Produktion zu betrachten. So machen Murphy und Brennan im Verlauf der Serie unter anderem auch wirkungsvoll auf den von Homophobie und Rassismus verursachten Ermittlungswiderstand der Polizei aufmerksam und weisen somit auf die die Serientäterschaft begünstigenden sozialen Missstände jener Zeit hin. Doch es gibt tatsächlich auch eine erneute Welle der Fetischisierung von Jeffrey Dahmer, die die Serie offenbar nicht zuletzt durch die Besetzung von Evan Peters in der Hauptrolle mit ausgelöst hat, was das seriöse Ansinnen hinter Dahmer fast verdrängt. Dieser abscheuliche Effekt in Verbindung mit den Reaktionen der Angehörigen beantwortet die Frage danach, ob es diese weitere erzählerische Aufbereitung von Dahmers Mordserie noch gebraucht hätte, eigentlich recht eindeutig.Ähnliche Fragen könnte man sich zu der im Sommer in Deutschland erschienenen Hulu-Serie The Girl from Plainville stellen, die sich mit dem besonders sensiblen Thema des Teenager-Suizids anhand des realen Tods des 18-jährigen Conrad Roy im Jahr 2014 auseinandersetzt. Roy, so lautete damals die Anklage der Staatsanwaltschaft, war von seiner 17-jährigen Freundin Michelle Carter via Textnachrichten und Telefonaten zum Suizid ermutigt, wenn nicht gar gedrängt worden. Dieser erschreckende Fall wurde 2019 unter Mitwirkung der Familie Roy in der HBO-Doku I Love You, Now Die bereits aufbereitet, die eine aufschlussreiche Annäherung an die Tat von Michelle Carter bot.The Girl from Plainville zeichnet von diesem Kenntnisstand ausgehend die schwierige und wahrlich toxische Beziehung zwischen Carter (Elle Fanning) und Roy (Colton Ryan) nach, die beide mit psychischen Problemen und profunder Einsamkeit zu kämpfen haben. Differenziert und urteilsfrei widmet sich diese Serie der Komplexität und Fragilität der heranwachsenden Psyche inmitten eines Stroms aus Leistungsdruck, Popularitätsstreben und familiärer Konflikte. Dass The Girl from Plainville die Öffentlichkeit erneut an die reale Michelle Carter erinnert und somit ihre Resozialisierung nach verbüßter Haftstrafe erschweren könnte, ist nicht von der Hand zu weisen. Zugleich ist dies aber eine Produktion, die in ihrem sensiblen Umgang mit Suizid im diametralen Gegensatz zu etwa der rein fiktionalen und zu Recht gescholtenen Netflix-Serie Tote Mädchen lügen nicht mit vergleichbarer Thematik steht.Entsprechend ließe sich bei der Aufbereitung von True-Crime-Stoffen künftig mehr Rücksichtnahme auf die Angehörigen, mehr Sensibilität bei der Inszenierung und ein stärkeres Bewusstsein für die Folgen der Thematisierung spezifischer Verbrechen fordern. Eine gänzliche Abschaffung des Genres ist dennoch keineswegs in Sicht: Nach Candy steht schon die HBO-Serie Love and Death zum gleichen Fall in den Startlöchern. Ausgecrimet hat es sich noch lange nicht.Placeholder infobox-1



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Von Veritatis

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